Zur Ausgabe
Artikel 32 / 90

SPIEGEL Gespräch »Wir sind auf einem gefährlichen Weg«

Rewe-Chef Hans Reischl über Konzentration, Wettbewerb und Nachfragemacht im Handel *
Von Klaus-Peter Kerbusk
aus DER SPIEGEL 23/1988

SPIEGEL: Herr Reischl, die Manager des Handels geben sich zur Zeit beim Bundeskartellamt in Berlin die Klinke in die Hand. Fast täglich melden große Firmen neue Fusionen an. Ist im Handel Torschlußpanik ausgebrochen?

REISCHL: Die Klinke geben sich die Händler beim Bundeskartellamt eigentlich schon seit Jahren in die Hand. Das Tempo der Zusammenschlüsse ist in den letzten Monaten allerdings so stark beschleunigt worden, daß es für einen Außenstehenden wie eine Art Torschlußpanik wirken kann.

SPIEGEL: Immerhin wechselten seit 1987 mehr als 50 Handelsunternehmen mit einem Gesamtumsatz von 25 Milliarden Mark den Besitzer. Was löst diese Panik aus?

REISCHL: Es sind im wesentlichen zwei Gründe: Einmal spielt die Angst eine Rolle, daß der Gesetzgeber schon bald die Fusionskontrolle und die Eingriffsmöglichkeiten des Kartellamts verschärft. Zweitens, und das erscheint mir fast noch wichtiger, geht es um den Wegfall des ermäßigten Steuersatzes.

SPIEGEL: Sie meinen die geplante Abschaffung des Paragraphen 34 im Einkommensteuergesetz. Nach geltendem Recht werden Gewinne beim Verkauf eines Unternehmens nur mit dem halben Steuersatz belegt, und damit soll von 1990 an Schluß sein.

REISCHL: Richtig. Viele Selbständige sagen sich: Ich bin jetzt 50 Jahre alt und habe einen Laden aufgebaut, der 20 Millionen Mark umsetzt. Wenn ich jetzt verkaufe und mit dem halben Steuersatz davonkomme, ist das doch besser, als wenn ich mich noch zehn Jahre im harten Wettbewerb abplagen muß.

SPIEGEL: Dann ist Gerhard Stoltenberg mit seiner Steuerreform dafür verantwortlich, daß viele Händler jetzt noch auf die schnelle Kasse machen?

REISCHL: Die steuerliche Seite ist ein wichtiges Argument. Viele Handelskonzerne haben das erkannt und versuchen noch kurz vor Toresschluß, _(Peter Kerbusk und Rudolf Wallraf vor der ) _(Rewe-Zentrale in Köln. )

alles zu übernehmen, was zu haben ist.

SPIEGEL: Wir haben den Eindruck, daß da mit immer härteren Bandagen um die verkaufswilligen Händler gekämpft wird.

REISCHL: In den letzten zwölf Monaten hat sich die Art der Verhandlungen deutlich verändert. Früher warteten die Aufkäufer meistens ab, bis ein Kandidat Interesse signalisierte. Heute gehen die Aufkäufer vieler Handelskonzerne ganz gezielt auf Leute zu, um sie verkaufswillig zu machen. Und bei sehr hohen Beträgen wird sicher mancher wankend.

SPIEGEL: An welche Summen denken Sie?

REISCHL: Vor einigen Jahren erzielte ein Händler beim Verkauf seines Betriebs vielleicht fünf, sechs oder auch sieben Prozent des Umsatzes - je nach Lage. Heute sind Preise im Gespräch, die zwischen 10 und 20 Prozent, manchmal noch darüber, liegen.

SPIEGEL: Nennen Sie mal ein Beispiel.

REISCHL: Schauen Sie sich mal an, was für Magnet in Schleswig-Holstein oder Gottlieb in Freiburg bezahlt worden ist. Das waren sicherlich Beträge, die in der von mir genannten Größenordnung lagen. Solche Summen sind betriebswirtschaftlich eigentlich nicht vertretbar. Wir jedenfalls sind bei diesen Verhandlungen ausgestiegen.

SPIEGEL: Wird 1990, wenn die Steuerreform abgeschlossen ist, die Konzentration im Einzelhandel so weit fortgeschritten sein, daß eine schärfere Fusionskontrolle gar nicht mehr nötig ist?

REISCHL: Das glaube ich nicht. Wir haben im Einzelhandel immer noch entschieden mehr Vielfalt, als es in der Öffentlichkeit den Anschein hat.

SPIEGEL: Die Betonung liegt ja wohl auf dem Wort »noch«. Wolfgang Kartte, Chef des Bundeskartellamts, hat vor kurzem gewarnt, in wenigen Jahren würden fünf oder sechs Handelsgiganten entscheiden, was die Hausfrau am Sonntag in den Kochtopf tut.

REISCHL: Da ist wohl dem Kartellamt die Phantasie durchgegangen. Es wird bestimmt auch in Zukunft eine Reihe von Unternehmen geben, die neben den 5 oder 6 Umsatzriesen im Markt bestehenbleiben und eine wichtige Rolle spielen. Ich rechne mit mindestens noch 20 überregional tätigen Firmen.

SPIEGEL: Selbst mit 20 marktbeherrschenden Unternehmen ist doch bereits ein gefährlicher Konzentrationsgrad erreicht.

REISCHL: Ich halte die Sorge, daß es eines Tages keinen Wettbewerb mehr geben wird, für völlig abwegig. Es gibt auch in anderen Branchen keine Beispiele dafür, daß enge Oligopole weniger wettbewerbsintensiv sind als weite Oligopole. Und das ist im Einzelhandel nicht anders. Ich kann mir überhaupt kein Szenario vorstellen, bei dem etwa Aldi als der größte Lebensmittelanbieter sich in trauter Eintracht mit den anderen Großen über Preise absprechen könnte. Es gibt in einem Lebensmittelmarkt rund 6000 Artikel. Über ein solch riesiges Sortiment kann man überhaupt keine Preisvereinbarung treffen.

SPIEGEL: Es müssen ja nicht unbedingt direkte Absprachen sein. Ein abgestimmtes Verhalten, bei dem sich die Handelsriesen untereinander nicht mehr weh tun, genügt ja. Schon jetzt achten doch alle Händler darauf, was etwa Aldi macht, und verhalten sich entsprechend.

REISCHL: Ja, aber das hat bisher doch fast ausschließlich zu Preissenkungen geführt. Dadurch hat der Verbraucher im Lebensmittelhandel heute ein Paradies, in dem er so preiswert versorgt wird wie noch nie in der Vergangenheit. Und man kann sicher sagen: Er wird so preiswert versorgt wie kein anderer Verbraucher auf der ganzen Welt.

SPIEGEL: Das kann sich ändern.

REISCHL: Nicht, solange wir eine Vielfalt verschiedener Vertriebstypen behalten, und die ist in Deutschland derzeit so groß wie sonst nirgendwo. Weder in Amerika noch in Europa gibt es Vergleichbares. Wenn Sie sich im Ausland umschauen: In Italien gibt es Kleinstrukturen; in Amerika gibt es eine Beherrschung durch den Supermarkt. Wir in Deutschland haben die SB-Warenhäuser, die Discounter, die Supermärkte und die Nachbarschaftsläden. Wenn es bei dieser Vielfalt bleibt, dann wird keiner die Preise diktieren können. Denn es sind immer noch genug, die im Wettbewerb mitmischen, und das ist gut so.

SPIEGEL: Betroffen von der zur Zeit laufenden Fusionswelle sind aber gerade die mittelständischen Handelsfirmen, die für die Vielfalt des Angebots sorgen. Sehen Sie da nicht die Gefahr, daß die bestehenden Strukturen relativ schnell vernichtet werden können?

REISCHL: Da sehe ich in der Tat eine große Gefahr, und ich glaube, daß dem Markt gegenwärtig das Eindringen der ganz Großen in die mittelständisch strukturierten Märkte mehr schadet, als wenn Große zusammengehen. Wenn zum Beispiel Tengelmann, Co op oder die Rewe-Leibbrand selbständige Kaufleute zur Aufgabe ihrer Läden überreden, dann wird sich das auf die Struktur des Marktes sehr nachteilig auswirken. Das wird auch dem Verbraucher langfristig nicht zugute kommen.

SPIEGEL: Was verstehen Sie denn unter mittelständisch?

REISCHL: Ich denke da an Läden in der Größenordnung bis etwa 50 Millionen

Mark Jahresumsatz. Das ist der Bereich, in dem eine Inhaberfamilie aus ein paar Geschäften ihr Einkommen bezieht. Diesen Bereich müssen wir erhalten. Wenn es nur noch Aldi, Tengelmann, Rewe-Leibbrand, Co op und Metro gäbe, dann würde die Versorgungslage der Verbraucher schlechter, als sie es heute ist. Das gilt sowohl für die Entfernungen bis zur nächsten Einkaufsstätte als auch für das Sortiment.

SPIEGEL: Sie beklagen diese Entwicklung, waren aber selbst in den letzten Jahren einer der stärksten Aufkäufer im mittelständischen Bereich.

REISCHL: Nein, das sind wir nicht.

SPIEGEL: Aus den Statistiken des Kartellamts geht hervor, daß die Rewe zwischen 1980 und 1987 die meisten Übernahmen gemeldet hat. Der Umsatzzuwachs dagegen war relativ gering. Das läßt doch darauf schließen, daß im wesentlichen kleine und mittelständische Betriebe übernommen wurden.

REISCHL: Da kann ich Ihnen wirklich nicht folgen.

SPIEGEL: Die Rewe-Gruppe hat seit 1980 insgesamt 75 Firmen mit drei Milliarden Mark Umsatz übernommen. Die Metro dagegen hat nur drei Firmen, aber zehn Milliarden Mark Umsatz dazugekauft.

REISCHL: Die Zahlen stimmen so nicht. Nehmen Sie zum Beispiel den Filialbetrieb Manns in Berlin, der ist da mit drin. Das wäre in meiner Terminologie keiner, den ich als mittelständisch bezeichnen würde. Dann kommen all die Fälle dazu, in denen irgendwo ein Laden getauscht wurde, zum Beispiel mit der Co op. Das zählt in der Statistik als ein Fusionsfall. Die wirklichen Übernahmen von anderen Betrieben durch die Rewe können Sie an einer Hand abzählen.

SPIEGEL: Uns scheint, Sie bewegen sich auf einem schmalen Grat. Einerseits plädieren Sie für die Konzentration unter den Handelsgiganten; andererseits setzen Sie sich für den Erhalt des Mittelstands ein. Wie paßt das zusammen?

REISCHL: Natürlich ist das in gewissem Sinne eine Gratwanderung. Ich glaube einfach nicht, daß durch die Konzentration der Preiswettbewerb leidet, aber die Versorgungslage der Verbraucher wird sich verschlechtern, wenn der mittelständische Handel wegfällt. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: Vielleicht sind fünf Kernkraftwerke nötig; aber 20 werden zuviel sein. Man muß irgendwann mit einer Entwicklung aufhören. An diesem Punkt sind wir gegenwärtig angekommen.

SPIEGEL: Was sagt denn Ihr Partner Leibbrand dazu, wenn Sie mit solchen Vorstellungen zu ihm kommen?

REISCHL: Er sagt ganz eindeutig: Ich muß das so lange mitmachen, wie es die anderen tun.

SPIEGEL: Und damit geben Sie sich zufrieden?

REISCHL: Gar keine Frage, das ist intern eine schwierige Situation. Sie macht es uns auch nicht leicht, die Glaubwürdigkeit in der Öffentlichkeit zu erhalten. Dennoch möchte ich eine klare Trennung ziehen. Einerseits gibt es da die langfristigen Zielsetzungen, die ich als Chef eines genossenschaftlichen Unternehmens haben muß. Andererseits muß ich den Filialbetrieb Rewe-Leibbrand genauso agieren lassen, wie es seine Wettbewerber tun. Wenn ich ihn da beschneide, würde er sicherlich unwirtschaftlich werden. Und das kann nicht der Sinn der Sache sein. Ich stehe dazu, aber es ist eine schwierige Geschichte. Ich sähe gerne, daß diese Fusionswelle von allen beendet wird.

SPIEGEL: Denken Sie an eine Art Selbstbeschränkungsabkommen, oder ist das ein Ruf nach dem Gesetzgeber?

REISCHL: Freiwillig läuft da gar nichts. Es kann nur eine saubere gesetzliche Regelung geben, daß Großunternehmen von einer bestimmten Größenordnung mittelständische Betriebe nicht mehr aufkaufen dürfen. Dafür wäre ich, auch wenn das zu Lasten des eigenen Unternehmens ginge.

SPIEGEL: Die Großen dürften dann nur noch Große aufkaufen?

REISCHL: Moment! Die Großen dürften dann zumindest keine Kleinen mehr aufkaufen. Ob sie aber Große kaufen dürfen, das muß nach anderen Kriterien beurteilt werden. Zum Beispiel geht es hier um die Frage der Marktbeherrschung und der regionalen Bedeutung.

SPIEGEL: Dafür reichen die bestehenden Gesetze aus?

REISCHL: Dafür reichen wohl die gegenwärtigen Gesetze aus. Man kann darüber streiten, wo die Machtschwelle ist. Das kann ich nicht sagen, dies muß das Kartellamt wissen. Aber man müßte einen Sondertatbestand für das Aufkaufen und das Mutlosmachen von Selbständigen finden, wenn man grundsätzlich unterstellt, daß Selbständige im Handel einen Wert darstellen.

SPIEGEL: Wenn Sie die Riesen des Lebensmittelhandels daran hindern, im eigenen Bereich zu expandieren, werden Sie noch stärker als bisher in andere Branchen drängen. Nach der Übernahme von Dugena und Uhren-Christ beispielsweise ist Leibbrand einer der größten Juweliere in Deutschland. Werden da nicht mittelständisch strukturierte Branchen völlig überrannt von der Kapitalkraft der Lebensmittelfilialisten?

REISCHL: Was die Rewe betrifft, stimmt das so nicht. Die Übernahme der Dugena war genossenschaftliche Nachbarschaftshilfe, und mit den Juwelen-Aktivitäten der Familie Leibbrand bei Uhren-Christ hat die Rewe nichts zu tun.

SPIEGEL: Es gibt ja noch viele andere Beispiele. Der Kaufhof drängt in den Buchhandel und die Unterhaltungselektronik, Co op in den Spielwarenhandel, und Leibbrand testet den Einstieg in den zoologischen Fachhandel.

REISCHL: Daß bei den Lebensmittelhändlern eine Tendenz besteht, ihre schmalbrüstig kalkulierten Sortimente mit anderen Bereichen zu mischen, ist völlig richtig. Man kann ja aber durchaus fragen: Ist es eigentlich ein Nachteil, wenn in solche Branchen etwas mehr Schwung reinkommt?

SPIEGEL: In welche Branchen?

REISCHL: Ich nenne mal den Uhren- und Schmuckbereich, weil ich darüber etwas aus den Gesprächen mit meinen Kollegen kenne: Ich weiß, wie gut sie da vorankommen, weil sie das sehr, sehr professionell machen. Dabei graben sie manchem verstaubten Uhrengeschäft im Interesse des Verbrauchers das Wasser ab. Wollen wir das so ganz untersagen?

SPIEGEL: Im Lebensmittelhandel wollen Sie es verbieten.

REISCHL: Ich nannte ja eben das Beispiel der Atomkraftwerke. Es ist für mich eine Frage des Zustands. Wo sind wir? Und kann man das noch ein Stück weit überdehnen? Ich glaube, daß wir im Lebensmittelhandel heute schon Verhältnisse haben, bei denen man einen gesetzlichen Eingriff vertreten könnte. Es gibt aber auch Branchen, bei denen noch ein völlig atomistischer Wettbewerb herrscht. Ein bißchen mehr Druck wäre da ganz gut, auch im Sinne der Verbraucher.

SPIEGEL: Herr Reischl, welche Rolle spielt die Nahrungsmittelindustrie bei diesem Fusionswettlauf?

REISCHL: Die Handelsriesen sind sicher nicht allein durch eigene Tüchtigkeit zu dem geworden, was sie heute sind. Die Nahrungsmittelhersteller, unsere Lieferanten also, haben dabei eine entscheidende Rolle gespielt. Seit dem Wegfall der Preisbindung Anfang der Siebziger hat die Industrie ihre Produktionskapazitäten gewaltig ausgeweitet. Um diese Kapazitäten auszulasten, hat die Industrie stets jene Händler besonders honoriert, die ihren Umsatz gesteigert haben.

SPIEGEL: Meinen Sie die üblichen Mengenrabatte?

REISCHL: Nein, wenn es nur die Mengenrabatte gäbe, wäre ja alles in Ordnung. Die Industrie hat aber insbesondere die Zuwachsraten honoriert. Durch verfehlte Konditionspolitik haben die Hersteller bestimmte, aufstrebende Firmen bevorzugt, während die etablierten Firmen trotz größerer Umsätze schlechtere Konditionen bekamen.

SPIEGEL: Wie groß sind denn diese angeblichen Nachteile?

REISCHL: Das Kartellamt hat kürzlich die Rabattdifferenzierungen untersucht und festgestellt, es seien zwei Prozent.

SPIEGEL: Das ist ja nicht besonders viel.

REISCHL: Es ist sehr viel, wenn Sie berücksichtigen, daß der Handel insgesamt nur etwa ein Prozent vom Umsatz

als Gewinn in der Kasse behält. Zudem hat der Einstandspreis die höchste Bedeutung, denn er macht ungefähr 80 Prozent unserer gesamten Kosten aus. Alle anderen Kosten, ob Personal oder Miete, sind im Vergleich zu diesem Riesenbrocken gering. Für viele Handelskonzerne lieferten die Steigerungsrabatte jedenfalls einen soliden Grundstock zur Finanzierung der Expansion.

SPIEGEL: Solche Rabatte hat die Industrie ja sicher nicht ganz freiwillig gegeben. Einige Hersteller sprechen sogar ganz offen von Erpressung.

REISCHL: Im Wettbewerb geht es immer um Macht. Das sist auch gut so, denn ohnmächtige Händler können bestimmt nicht bei der Industrie gute Preise herausholen. Das kommt im Ergebnis ja dem Verbraucher zugute.

SPIEGEL: Die Antwort könnte aus dem Lehrbuch der Marktwirtschaft stammen. Die Praxis sieht aber doch etwas anders aus. Nach der Fusion von Asko und Schaper zum Beispiel wurden sämtliche Lieferanten zu einem sogenannten Konditionen-Gespräch gebeten. Der Einladungstext las sich wie ein Einberufungsbescheid.

REISCHL: Sicher, man muß deutlich unterscheiden zwischen Machtmißbrauch und potentieller Macht. Der von Ihnen angesprochene Fall ist für mich ein Beispiel für klaren Machtmißbrauch.

SPIEGEL: Wer entscheidet denn zwischen Macht und Mißbrauch?

REISCHL: Dafür ist das Kartellamt zuständig. Den von Ihnen zitierten Fall hat es dann ja auch aufgegriffen.

SPIEGEL: Das Kartellamt kann nur eingreifen, wenn sich einer beschwert, und das passiert ja nicht allzuoft.

REISCHL: Da stimme ich Ihnen zu. Wenn der Handel seine Macht etwas subtiler ausspielt, dann ist die Situation sicher schwierig für einen Beschwerdeführer. Aber ehrlich gesagt, ich habe keinerlei Befürchtung, daß die Nachfragemacht des Handels die Industrie erschlägt. Mit etwa 2000 Lieferanten haben wir zentrale Vereinbarungen, aber mit nur 40 Herstellern machen wir 52 Prozent unseres Umsatzes.

SPIEGEL: Dabei handelt es sich wohl um Konzerne wie Unilever, Nestle ...

REISCHL: ... Oetker, Reemtsma, Jacobs/Suchard und Procter & Gamble, um nur mal die ersten sechs zu nennen. Das geht dann weiter mit Henkel, Mars und Coca-Cola.

SPIEGEL: Alles Firmen, die sich gut gegeneinander ausspielen lassen. Mit den erzielten Superkonditionen können Sie sich dann in Sonderangeboten als besonders tüchtiger Händler darstellen.

REISCHL: Also das würde ich nicht unterschreiben. Schauen Sie mal, wir haben im Handel eine ganze Reihe von Preisen, die schon längst nicht mehr kostendeckend sind, etwa für Milch und Fleisch oder auch für einige Getränkesorten. Die Verluste aus diesen Sortimenten müssen im Rahmen der Mischkalkulation irgendwie wieder ausgeglichen werden.

SPIEGEL: Warum legt der Händler bei solchen Produkten drauf? Warum nicht bei Kaffee oder Waschmitteln?

REISCHL: Weil sich im Handel für ganz bestimmte Produkte einfach Preisgrenzen herausgebildet haben, die von allen eingehalten werden.

SPIEGEL: Das ist also eine bewußte Strategie ...

REISCHL: ... für bestimmte Produkte, bei denen eine Zeitlang niemand wirklich Geld verdient. Zur Zeit wird Margarine verhauen. Und so gibt es im Laufe der Zeit immer wieder neue Produkte, die preislich herausgestellt werden.

SPIEGEL: Das führt doch auf Dauer dazu, daß die Hersteller beginnen, an der Produktqualität zu sparen.

REISCHL: Da haben Sie einen ganz wunden Punkt angesprochen. Das Problem muß vor allem im Hinblick auf Aldi gesehen werden, der im wesentlichen die Preismarken setzt. Aldi hat - ich sage das ganz wertfrei - eigene Qualitätsvorstellungen, die vielen Verbrauchern genügen. Dafür sucht sich Aldi einen Hersteller, der es so billig macht, daß qualitativ bessere Alternativen immer als teuer erscheinen.

SPIEGEL: Das gilt doch sicher auch für Ihren Partner Leibbrand und alle anderen Discounter. Die Gefahr, daß sich die Produktqualität verschlechtert, beginnt doch im Moment, wenn der Einkäufer eines Handelsgiganten zum Hersteller sagt: Ich zahle dir jetzt 30 Pfennig für den Becher Joghurt - sieh zu, wie du damit klarkommst.

REISCHL: Das ist absolut ein Problem, und die Lebensmittelbranche ist bei manchen Produktfeldern auf einem gefährlichen Weg. Ich finde, es ist schon eine Frechheit, wenn man als Händler sagt: Ich bewillige dir nur diesen Preis.

SPIEGEL: Nutzt das nicht auch dem Verbraucher?

REISCHL: Nein. Nehmen Sie den großen Bereich der Fruchtsaftgetränke. In einem Orangensaftgetränk brauchen nur sechs Prozent Orangensaft drin zu sein, beim Orangennektar sind es 50 Prozent Saftanteil - das sind Qualitätsunterschiede, die sich natürlich auch im Preis niederschlagen. Wenn billiger Ersatz immer wichtiger wird als das Originalprodukt und Geschmacksunterschiede gar nicht mehr empfunden werden, dann haben wir etwas falsch gemacht.

SPIEGEL: Herr Reischl, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. _(ohne Migros ) *KASTEN

Im Einzelhandel *

herrscht seit Jahren ein brutaler Verdrängungswettbewerb. Überregionale Handelskonzerne wie Asko oder Tengelmann werden ständig größer, gleichzeitig müssen immer mehr kleine Händler aufgeben. Um den »Catch-as-catch-can-Wettbewerb mit Wildwestmethoden«, so der CDU-Wettbewerbsexperte Winfried Pinger, nicht weiter ausufern zu lassen, will die Bundesregierung Fusionen marktbeherrschender Handelskonzerne erschweren. Ein entsprechendes Gesetz, das diese Woche in Bonn beraten werden soll, scheint dringend notwendig. Seit Beginn der siebziger Jahre verringerte sich zum Beispiel die Zahl der selbständigen Lebensmittelhändler von rund 135 000 auf gut 45 000, gleichzeitig schrumpfte ihr Anteil am Branchenumsatz von etwa 60 auf nur noch 20 Prozent. Nachdem die Eingriffsmöglichkeiten des Kartellamts in den vergangenen Jahren durch Gerichtsentscheidungen stark eingeengt wurden, gehören Elefantenhochzeiten im Handel zur Tagesordnung - etwa die Übernahme des Warenhauskonzerns Kaufhof durch den Handelsmulti Metro oder die Fusion der Verbrauchermarkt-Giganten Massa und Schaper unter dem Dach der Asko. Zu den großen Aufkäufern gehört die in Köln ansässige Rewe-Gruppe (24,6 Milliarden Mark Einzelhandelsumsatz), die seit elf Jahren von Hans Reischl, 48, geleitet wird. Die Dachorganisation für elf regionale Genossenschaften mit rund 7000 selbständigen Lebensmittel-Einzelhändlern - 1926 unter dem Namen Revisionsverband West als Konkurrenz zur Edeka gegründet - wandelte sich in den vergangenen Jahren zu einem schlagkräftigen Verbundunternehmen. Reischl organisierte vor allem die in aller Stille vorbereitete 50-Prozent-Beteiligung an dem hessischen Filialunternehmen Leibbrand (HL, Penny, Minimal, Heller + Pfennig), die in den Reihen der Rewe zunächst auf heftige Kritik stieß. Die Rewe versteht sich heute als »Europas größte Selbsthilfevereinigung des Handels«. Der jüngste Coup ist die Übernahme der Handelskette Deutscher Supermarkt mit einem Umsatz von zwei Milliarden Mark.

[Grafiktext]

FILIALISTEN AUF DEM VORMARSCH Entwicklung im Lebensmittel-Einzelhandel der Bundesrepublik Anteil der Filialisten in Prozent Umsatz insgesamt in Milliarden Mark Quelle: Nielsen TOP ZEHN IN DEUTSCHLAND Einzelhandelsumsätze in der Bundesrepublik 1987 in Milliarden Mark Co op-Bolle Tengelmann-Gruppe Asko-Schaper-Massa Metro-Gruppe Rewe-Leibbrand Edeka Aldi-Gruppe Karstadt Spar-Gruppe Hertie KONZENTRATION INTERNATIONAL Anteil der zehn größten Handelskonzerne am Gesamtumsatz des Lebensmittel-Einzelhandels 1986 in Prozent Japan Spanien Italien USA Frankreich Großbritannien Österreich Bundesrepublik Schweiz Schweden

[GrafiktextEnde]

Peter Kerbusk und Rudolf Wallraf vor der Rewe-Zentrale in Köln.ohne Migros

Rudolf Wallraf
Zur Ausgabe
Artikel 32 / 90
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten