Wirecard-Skandal Geheime Dokumente bringen Finanzaufseher in Bedrängnis

Wirecard-Zentrale in Aschheim bei München
Foto:MICHAEL DALDER/ REUTERS
»Mit dem Wissen von damals«, so sagte Bafin-Chef Felix Hufeld dieser Tage in einem »Handelsblatt«-Interview, habe die Aufsicht »angemessen und korrekt« gehandelt. Doch es gibt immer deutlichere Hinweise darauf, dass sich die Bafin auch »damals«, also in den Monaten und Jahren vor dem Kollaps des früheren Dax-Konzerns Wirecard, zu langsam, fehlerhaft und einseitig mit den Verdachtsmomenten auf Bilanzbetrug, Geldwäsche, Marktmanipulation und Untreue befasst hat. Wegen dieser möglichen Straftaten ermittelt die Staatsanwaltschaft München mittlerweile gegen mehr als 20 frühere Wirecard-Manager.
Wie tief die Bafin lange geschlafen hat, deutet selbst ein Bericht der Innenrevision der Finanzaufsicht an, der dem SPIEGEL vorliegt. Er kommt zu dem Schluss, bei der Behörde zeige sich »organisatorisches Optimierungspotential«, etwa bei der Zusammenarbeit verschiedener Geschäftsbereiche, bei der Abstimmung mit der Europäischen Zentralbank (EZB) oder beim Umgang mit Hinweisen auf Unregelmäßigkeiten, die von außen an die Bafin herangetragen werden. So gingen bis Mitte Juli zu Wirecard 87 Hinweise bei der Bafin ein, mehr als zu jedem anderen von der Bafin ganz oder teilweise beaufsichtigten Konzern.
Doch nicht immer werden solche Verdachtsmeldungen von der Hinweisgeberstelle an die zuständige Fachabteilung weitergeleitet, außerdem gab es offenbar keine Stelle, die sich ein Gesamtbild von der Vielzahl der Hinweise gemacht hat.
So berichtet die interne Revision (IR) von dem Hinweis einer früher bei Wirecard beschäftigten Person im Dezember 2019, die angab, von Wirecard genötigt und bedroht zu werden. Zu diesem Zeitpunkt lief bereits eine Sonderprüfung der Bilanzen durch die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG. »Aus Sicht von IR hätte dieser Hinweis aufgrund der Bezugnahme zur (in der Bafin bekannten) laufenden Prüfung durch KPMG trotz mangelnder Zuständigkeit weitergegeben werden können«, heißt es in dem Revisionsbericht.
Der »liebe Hans« sollte für Aufklärung sorgen
Die mangelnde Zuständigkeit, sie zieht sich wie ein roter Faden durch das fatale Nichtverhältnis zwischen Aufsicht und Wirecard.
Die Bafin zieht sich stets darauf zurück, dass Wirecard nach der europäischen Verordnung CRR nicht als Finanzholding einzustufen gewesen sei, sondern als Technologieunternehmen, sie sei deshalb lediglich für die Aufsicht über die Konzerntochter Wirecard Bank zuständig, bei der Mutter Wirecard AG aber habe sie keinen Durchgriff.
Das Beispiel Geldwäsche zeigt, welches Chaos diese Sichtweise rund um Wirecard auslöste. So wies die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY den Regierungsbezirk Niederbayern im Februar 2020 darauf hin, dass sie die Wirecard AG im Sinne des Geldwäschegesetzes für ein Finanzunternehmen halte, für das die Regierung von Niederbayern zuständig sei. Die Bayern sahen das zunächst auch so, wiesen aber nach dem Zusammenbruch des Konzerns jede Zuständigkeit von sich – ebenso wie die Bafin. Die Behörde erklärte in einem Schreiben vom 22. Juni 2020 gegenüber der Regierung von Niederbayern, auch sie halte die Wirecard AG für ein Finanzunternehmen im Sinne des Geldwäschegesetzes, für das die Niederbayern zuständig seien.
Ein vertraulicher Mailverkehr zwischen dem CDU-Obmann im Finanzausschuss des Bundestages, Hans Michelbach, und dem bayerischen Innenminister Joachim Herrmann zeigt, wie irritiert die Unionspolitiker von der Position der Bafin waren. Am 12. August schreibt Michelbach an Herrmann, es sei für ihn von großem Interesse, »mit welcher Begründung die Bafin am 22.06.2020 die Wirecard AG gegenüber der Regierung von Niederbayern als Finanzunternehmen einstufte«. Er sehe darin »einen eindeutigen aufzuklärenden Widerspruch zu den wiederholten Einschätzungen der Bafin, dass es sich bei der Wirecard AG nicht um eine Finanzholding handele«.
»Lieber Hans«, antwortet Minister Herrmann zehn Tage später, »ich bitte Dich … für Aufklärung zu sorgen, warum die Wirecard AG u.a. nicht als Finanzholding unter der Aufsicht der Bafin eingestuft wurde, obwohl sie unter Umständen als solche einzustufen gewesen wäre.«
Was die beiden Christsozialen hier durcheinanderbringen - sei es versehentlich oder um von den eigenen Zuständigkeiten beim Thema Geldwäsche abzulenken - ist die Einstufung als Finanzholding nach der europäischen Verordnung zu Kapitalanforderungen (CRR) und die Einstufung als Finanzunternehmen nach dem deutschen Geldwäschegesetz.
Der finanzpolitische Sprecher der Linken, Fabio De Masi, kritisiert das Hin und Her zwischen Bafin und Bayern und die unklaren Zuständigkeiten scharf. »In der Regierung spielt man Aufsichtstennis«, sagt der Finanzexperte. »Im Ergebnis war also niemand für die Geldwäscheaufsicht über einen Dax-Konzern zuständig.«
Fataler Alleingang
Der interne Revisionsbericht der Bafin zeigt auch, dass die Behörde selbst bis zum bitteren Ende Zweifel hatte, ob der Wirecard-Konzern nicht doch als Finanzholding einzustufen sei. 2017 hatte die Bafin auf Basis der Bilanzzahlen von 2015 ihre bis zuletzt geltende Einstufung vorgenommen, Bundesbank und EZB trugen die Entscheidung mit. Die Bafin kam seinerzeit zu dem Schluss, dass zwar nicht die Wirecard AG, wohl aber die 100-prozentige Tochter Wirecard Acquiring & Issuing GmbH (WCAI) eine Finanzholding sei, zu dieser gehörte wiederum die Wirecard Bank.
Aus verschiedenen Gründen erwogen daraufhin die Wirecard AG und die Bank, den Konzern so umzuorganisieren, dass die Bank direkt beim Mutterkonzern und nicht mehr bei der WCAI aufgehängt wäre. Es folgte ein jahrelanges Hin und Her, ob es zu einer solchen Umorganisation kommen sollte, in der Zwischenzeit verschärfte die EU die Vorschriften, wann ein Unternehmen als Finanzkonzern einzustufen sei. Die Bafin kam schließlich im Frühjahr 2020 zu der Erkenntnis, dass erneut zu prüfen sei, ob die Wirecard AG eine Finanzholding sei, auf Grundlage aktuellerer Zahlen. Zu einer solchen Prüfung kam es jedoch nicht mehr, die Insolvenz des Konzerns kam den Aufsehern in die Quere.
Linkenpolitiker De Masi kritisiert, die Bafin sei in der Frage der Einstufung auf Wirecard hereingefallen. »Hätte die Bafin die aufgeblähten Bilanzen stärker hinterfragt, wäre die Wirecard Bank bei der Wirecard AG viel stärker ins Gewicht gefallen«, argumentiert De Masi. »Dann wäre die Wirecard AG eine Finanzholding gewesen, und somit hätte die Aufsicht bei der Bafin gelegen.«
Unstrittig ist dagegen, dass die Bafin für die Marktaufsicht über alle börsennotierten Unternehmen zuständig ist und somit auch für die Wirecard AG, wenn es um Dinge wie Veröffentlichungspflichten und Marktmanipulation geht. Die Bonner Behörde hatte jedoch zunächst kritische Journalisten der britischen »Financial Times« (»FT«) sowie Leerverkäufer wegen des Verdachts der Marktmanipulation angezeigt und Ende Februar 2019 ein sogenanntes Leerverkaufsverbot verhängt, also die Spekulation auf einen fallenden Wirecard-Kurs verboten.
Inzwischen wird immer klarer, dass diese Entscheidung ein Alleingang war und auf falschen Annahmen beruhte. So lehnte die Bundesbank als zweite Aufsichtsbehörde neben der Bafin ein solches Verbot damals ab, wie aus den Akten des Bundestagsuntersuchungsausschusses hervorgeht, der sich aktuell mit dem Wirecard-Skandal beschäftigt.
Anfang 2019 schwankte der Kurs der Wirecard-Aktie stark, rund um die Berichterstattung der »Financial Times« über bilanzielle Ungereimtheiten bei dem damaligen Dax-Konzern. Rasch gerieten die »FT«-Reporter in den Verdacht, gemeinsame Sache mit Spekulanten zu machen, indem sie ihnen vorab exklusive Informationen zukommen ließen. Die Kursausschläge der Wirecard-Aktie dienten der Bafin als Beleg ihrer These.
Mit der Begründung, den Finanzmarkt schützen zu müssen, verbot die Aufsicht ab Mitte Februar für zwei Monate den Leerverkauf von Wirecard-Aktien. Bei einem Leerverkauf veräußern Marktteilnehmer eine Aktie, die sie gar nicht besitzen, sondern sich geliehen haben. Fällt deren Kurs tatsächlich – etwa aufgrund schlechter Nachrichten – kaufen sie die Aktie billiger zurück. Nach der Rückgabe der Aktie an den Verleiher zuzüglich einer geringen Leihgebühr verbleibt die Kursdifferenz als Gewinn.

Bafin-Chef Felix Hufeld: Alleingang unter falschen Annahmen
Foto: Arne Dedert/ dpaDoch inzwischen ist klar, dass die Kursausschläge der Wirecard-Aktie nicht auf ein unlauteres Zusammenspiel von Spekulanten mit »FT«-Reportern zurückgingen. Das belegt unter anderem die Mail eines Mitarbeiters der Deutsche-Börse-Tochter Eurex an einen Mitarbeiter des hessischen Wirtschaftsministeriums vom 7. Juli 2020, die sich in den Unterlagen des Untersuchungsausschusses findet. Die Eurex hatte starke Kursverluste insbesondere an zwei Tagen nach der Veröffentlichung von »FT«-Artikeln untersucht.
In dem Schreiben des Eurex-Mitarbeiters heißt es dazu: »Im Ergebnis konnten keine eindeutigen Hinweise auf Marktmanipulation oder Insiderhandel konkretisiert werden.« Man habe sich entschlossen, die Analyse und ihre Ergebnisse an die Bafin weiterzuleiten.
Auch die Finanzmarktrechtsabteilung im SPD-geführten Justizministerium kritisiert das Vorgehen der Bafin in Sachen Marktmanipulation unverblümt. »Nach unserer Kenntnis hat die Bafin im April 2019 und im Juni 2020 Strafanzeige wegen Marktmanipulation bei der Staatsanwaltschaft München I gestellt«, heißt es in einer internen E-Mail der Ministerialbeamten. »Strafanzeige wegen Bilanzbetrugs – und darum geht es in dem Kontext ja – hat die Bafin (trotz der gesetzlichen Pflicht in § 110 Abs. 1 WpHG) nach unserer Kenntnis im Fall Wirecard nicht gestellt.« Tatsächlich erstattete die Bafin erst im Juni 2020 Anzeige gegen den Wirecard-Vorstand wegen Marktmanipulation. Da war der Betrug allerdings längst von anderen aufgedeckt worden.