Wirtschaftsbestseller "Freakonomics" Auf der Spur des ehrlosen Sumo-Ringers
Hamburg - Paul Feldman aus Washington D.C. hätte sich wohl nie träumen lassen, dass er eines Tages als handelnde Figur in einem Bestseller auftauchen würde. Die Idee klingt einfach zu abstrus - Feldman hat einen normalen Beruf und eine recht unspektakuläre Karriere hinter sich. Noch viel unwahrscheinlicher wirkt die Vorstellung, dass es sich bei dem Bestseller um ein Wirtschaftsbuch handeln sollte, verfasst von einem Journalisten und einem Professor aus dem mathematisch geprägten Zweig der Ökonometrie.
So aber ist es gekommen - und in den USA ist Feldmans Geschichte heute Hunderttausenden Lesern vertraut. Das Buch, in dem er vorkommt, heißt "Freakonomics", Untertitel: "Überraschende Antworten auf alltägliche Lebensfragen". Obwohl es schon im Mai 2005 im englischen Original herauskam, hält es sich weiter in den Top Ten bei Amazon.com. In diesen Tagen erscheint es mit einer Startauflage von 12.000 Stück auf Deutsch.
Feldmans Geschichte wird im zweiten Kapitel referiert. Dass er Bagels mit Frischkäse verkauft, ist da zu lesen - das macht Feldman seit über 20 Jahren. Jeden Morgen liefert er sein Gebäck an 140 Firmen aus. Er stellt eine Sammelbox für die Bezahlung daneben pro Bagel verlangt er einen Dollar -, fährt weiter zum nächsten Büro und hofft, dass seine Kunden ehrlich genug sind, ihn korrekt zu bezahlen.
Was uns der Bagel-Mann lehrt
So weit, so bekannt: Ähnliche Verkaufsboxen gibt es in vielen Firmen. Feldman aber führte über die Jahrzehnte penibel Buch über seine Geschäfte. Eines Tages hörte er durch Zufall von Steven Levitt und Stephen Dubner, den Verfassern von "Freakonomics", und übergab ihnen seine Unterlagen. Die zwei werteten den Datensatz aus - und leiteten verblüffende Gesetzmäßigkeiten daraus ab:
- Im Schnitt zahlen 87 Prozent aller Bagel-Esser, obwohl ja niemand neben der Geldbox steht und ihre Ehrlichkeit kontrolliert;
- Angestellte in kleinen Firmen zahlen aber noch zuverlässiger als die von Großbetrieben - wohl, weil sich Konzern-Angestellte anonymer fühlen;
- In der Vorweihnachtszeit leidet überall die Zahlungsmoral - vermutlich, weil alle stärker unter Stress stehen;
- Mitarbeiter aus den Führungsetagen betrügen, trotz ihrer höheren Gehälter, beim Bagel-Kauf messbar häufiger als ihre Untergebenen.
Teil zwei: Warum zwei Sumo-Veteranen sterben mussten - und weshalb die religiöse Rechte Levitt für einen Demagogen hält.
Rund um das Buch ist inzwischen eine kleine Industrie herangewachsen: Dubner und Levitt treten regelmäßig im Frühstücksfernsehen des TV-Kanals ABC auf, schreiben eine Kolumne für das "New York Times Magazine", betreiben ein Blog zum Buch. "Für einen Schriftsteller schreibe ich zurzeit ziemlich wenig", sagte Co-Autor Dubner im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE, "ich bin vor allem damit beschäftigt, das Monster 'Freakonomics' zu bändigen."
Angefangen hat alles mit einem Zeitschriftenartikel, den Stephen über Steven schrieb. Levitt, ein junger Professor an der Universität Chicago, war gerade mit der John Bates Clark Medal ausgezeichnet worden - die Ökonomen der USA ehren damit alle zwei Jahren denjenigen Kollegen unter 40, den sie für den Begabtesten halten. Dubner, der Journalist und Buchautor, wurde vom "NYT Magazine" ausgesandt, ein Porträt über den Prämierten zu schreiben.
Das erschien im August 2003. Kurz darauf schlug Dubners Agent vor, die beiden sollten gemeinsam ein Buch herausbringen. Levitt, der Statistiker mit dem Hang zu exzentrischen Thesen, steuerte die Ergebnisse von zehn Jahren Forschung bei - Dubner schrieb alles lesefreundlich auf.
"Freakonomics" enthält nur wenige Tabellen und keine Charts. Es basiert aber auf umfangreichem Datenmaterial, das Levitt per Computer analysiert und auf Regelmäßigkeiten abgeklopft hat - das hat ihm den Spitznamen "Daten-Detektiv" eingetragen.
Die Yakuza-Connection
So hat er die Ergebnisse von 32.000 Sumokämpfen studiert, bei denen von 1989 bis 2000 fast 300 Ringer gegeneinander antraten. Auch hier spürte er ein verstecktes Muster auf: Sumo-Sportler, die den Klassenerhalt in der Elite-Liga schon in petto haben und gegen einen Gegner antreten, dem noch der Abstieg droht, verlieren auffällig oft. Und zwar selbst dann, wenn der vom Abstieg bedrohte Ringkämpfer sich bei früheren Duellen immer als der schwächere von beiden erwiesen hat.
Verlieren die Starken absichtlich? Gibt es heimliche Absprachen in Japans Nationalsport? Levitt und Dubner sind davon überzeugt. Man müsse wissen, schreiben sie, dass die 66 besten Sumo-Ringer 170.000 Dollar im Jahr und mehr verdienen die aus der Liga darunter nur ein Zehntel. Die schwächeren Sportler müssten die Besten bedienen, mitunter gar deren schwer zugängliche Körperteile einseifen. Der Anreiz, einen Ligaabstieg - notfalls mit illegalen Tricks - zu vermeiden, sei also erdrückend. Tatsächlich hatten zwei Sumo-Veteranen vor einigen Jahren angekündigt, auf einer Pressekonferenz über Korruption auszupacken. Kurz vor dem anberaumten Termin waren sie tot.
"Freakonomics" hat, bei allem Verkaufserfolg, auch einige lautstarke Gegner. Die meisten stören sich an Levitts Thesen zur Abtreibung. Deren Legalisierung im Jahr 1973 sei der Hauptgrund dafür, dass die Verbrechensrate in den Neunzigern so rapide gesunken sei, glaubt er und versucht, das per Statistik zu belegen. Unerwünschter Nachwuchs tendiere nun mal häufiger dazu als Wunschkinder, später straffällig zu werden, begründet er seinen Befund.
Keine Eile bei der Fortsetzung
Der ganze Denkansatz sei zynisch, zürnen die "Freakonomics"-Kritiker radikale Konservative verglichen Levitt gar mit Goebbels. Auch seriöse Fachkollegen zweifeln die Ergebnisse an: Zwei Ökonomen der Federal Reserve wiesen jüngst auf Fehler in der Methodik der Abtreibungsstudie hin.
Levitt hält seine Deutung weiter für richtig und müht sich, die Wogen zu glätten. Tatsächlich sei er gar kein Befürworter von Abtreibung, sagte er jüngst der "Financial Times" - er beschreibe bloß Forschungsergebnisse. Ihn selbst habe es schockiert zu sehen, wie oft der Schwangerschaftsabbruch einfach als Mittel der Geburtenkontrolle benutzt wird, so wie Kondome.
Inzwischen haben die zwei ungleichen Autoren begonnen, an einer Fortsetzung zu arbeiten. Bis die druckfertig ist, werden wohl drei, vier Jahre vergehen. "Wir hätten schnell einen zweiten Band nachschießen und unsere Leser ausbeuten können", sagt Dubner. Stattdessen hätten sie mehrere neue Studien angeschoben, die erst ausgewertet werden müssten.
Exzentrisch genug wird wohl auch "Freakonomics 2". Zu den handelnden Personen, sagt Dubner, sollten Pokerspieler und Terroristen gehören, Ärzte und mexikanische Prostituierte.