Zur Ausgabe
Artikel 48 / 122

AFFÄREN Zehn Disketten für Waigel

Die Anklage im wahrscheinlich größten Betrugsfall der Treuhand-Ära steht - doch die Fahnder sind frustriert. Der Hauptbeschuldigte ist mit vielen Millionen verschwunden.
Von Johannes Schuster
aus DER SPIEGEL 50/1997

In der letzten Steuererklärung, die er beim Finanzamt Essen einreichte, gab der Diplomingenieur Michael Rottmann, Steuernummer 111/0945/1445, Einkünfte von genau 155 712 Mark an. Mit seiner damaligen Ehefrau, einer Realschullehrerin, teilte er einen festen Wohnsitz in einem Vorort-Reihenhaus, einen Mittelklasse-Mercedes, einen VW-Golf und ein kleines Segelboot.

Das war 1990. Sein Geld verdiente der damals 47jährige als Prokurist bei einer Tochtergesellschaft der Deutschen Babcock AG. Rottmann hatte erreicht, was für ihn zu erreichen war. Doch er wollte mehr.

Heute ist Rottmann vielfacher Millionär. Er hat eine neue Frau, zwei kleine Söhne, eine Hochseeyacht namens »Magnum« - aber einen festen Wohnsitz hat er nicht: Seit 30 Monaten ist Rottmann mitsamt seiner Familie auf der Flucht vor Staatsanwälten und der Polizei, vor Gläubigern und natürlich auch vor dem Finanzamt.

Der Ingenieur gilt als führender Kopf einer Bande, die ein ehemaliges Treuhand-Unternehmen, die Berliner Wärmeanlagenbau GmbH (WBB), seit 1991 um mindestens 150 Millionen Mark erleichtert und dabei mehr als tausend Arbeitsplätze vernichtet sowie 130 Millionen Mark Steuern hinterzogen hat.

Gut zwei Jahre benötigten Rottmann und seine mutmaßlichen Helfer, um die WBB auszunehmen. Zwei weitere Jahre vergingen, bis Aussagen von Betriebsräten und Recherchen des SPIEGEL die Treuhand-Nachfolgerin BvS zu einer Strafanzeige veranlaßten. Seit der Aufdeckung des Falls im Juli 1995 (SPIEGEL 28/1995) gilt die Affäre WBB als »vielleicht größter Fall von Vereinigungskriminalität«, so Berlins Generalstaatsanwalt Christoph Schaefgen.

Fünf Beamte der Zentralen Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität sowie zwei von Schaefgen abgeordnete Staatsanwältinnen bearbeiten den Fall. Auch die Steuerfahndung in München, Berlin und Hamburg ist eingeschaltet.

Im Dezember vergangenen Jahres erwirkten die Berliner Staatsanwältinnen die ersten acht Haftbefehle. Im Januar nahmen sie fünf der Beschuldigten, drei Rechtsanwälte und zwei ehemalige WBB-Geschäftsführer, in Untersuchungshaft, Mitte September erhoben sie Anklage wegen schweren gemeinschaftlichen Betrugs und Untreue. Dafür sieht das Gesetz Haftstrafen bis zu fünf Jahren vor.

Doch die Fahnder sind frustriert. Am 5. November entschied der 4. Strafsenat des Berliner Kammergerichts, die Angeklagten aus der Untersuchungshaft freizulassen, wenn auch unter strengen Auflagen. Sie sollten ihre Reisedokumente abgeben und Millionen-Kautionen hinterlegen. Flucht- und Verdunkelungsgefahr, so die Kammer-Richter, seien deshalb nicht mehr gegeben.

Die Ermittler sehen das anders, sie fürchten, die Angeklagten könnten sich absetzen. So wie Rottmann es tat, dessen letzter Aufenthaltsort in Südafrika vermutet wird.

Fast 500 Seiten umfaßt die Anklageschrift, detailliert haben die Ermittler nachgezeichnet, wie Rottmann und seine mutmaßlichen Mittäter das Ostunternehmen ausgeschlachtet haben.

Die WBB war zu DDR-Zeiten ein Monopolbetrieb für Heizkraftwerke und Fernwärmeleitungen. Nach der Währungsunion im Juli 1990 hatte die WBB aus alten Aufträgen noch rund 700 Millionen Mark abzurechnen. Allein für den Bau eines neuen Gasturbinen-Heizwerks in Berlin-Ahrensfelde sollte das Unternehmen 178 Millionen Mark bekommen.

Rottmann wußte von dem Geldsegen. Er hatte für seinen Arbeitgeber Babcock einen etwaigen Kauf der WBB geprüft. Einer der damaligen Chefs der Ostfirma, Dieter Voigt, heute einer der Angeklagten, hatte die Bande zur Chefetage des Oberhausener Konzerns geknüpft.

Der Babcock-Gesandte Rottmann wurde bei Voigts Mitgeschäftsführer - und heutigem Mitangeklagten - Heinz Langner vorstellig. Von ihm wußte Rottmann, daß das Unternehmen wertvolle Immobilien in Berlin, Leipzig und Zwickau besaß.

Bereits im September ließ Langner die wertvollste Immobilie, die WBB-Zentrale in der Wallstraße in Berlin-Mitte, schätzen. Sie war weit mehr wert als in der offiziellen Bilanz angegeben.

Rottmann ergriff die einmalige Chance. Nach den Erkenntnissen der Staatsanwältinnen verbündete er sich im Herbst 1990 mit den beiden WBB-Geschäftsführern und zwei Schweizern, um den verborgenen Schatz zu heben.

Auf direktem Wege, er stand ja noch bei Babcock im Sold, konnte er sich nicht um die Ostunternehmen bewerben. Da erinnerte er sich eines Freundes aus früheren Tagen.

Ein ehemaliger Arbeitskollege, Justin Kessler, betrieb in Basel ein Antiquitätengeschäft und im Tessin einen Elektronikhandel, er hatte Kontakt zu Geoffrey Haeberlin, dem Hauptaktionär eines angeschlagenen Kleinbetriebs namens Chematec AG.

Das ungleiche Quintett beschloß zunächst den Kauf der Chematec AG, jeder bekam 20 Prozent der Anteile. Bezahlt werden sollte später - aus der WBB-Kasse.

Im Keller von Rottmanns Reihenhaus entwarfen die fünf dann bis Mitte Dezember das Kaufangebot für die Treuhand. In den Papieren erscheint die Chematec als internationale Firmengruppe mit fast 400 Beschäftigten in drei Kontinenten. Die Werte der WBB rechneten sie dagegen konsequent nach unten.

Für die Privatisierung der WBB war bei der Treuhand der Bereich Energiewirtschaft, geleitet vom ehemaligen Vorstand der Mobil Oil AG in Deutschland, Hans-Peter Gundermann, zuständig. Die Angaben der Chematec über die eigene Lage wurden dort nie, die über die WBB höchst oberflächlich geprüft. Die Verkäufer holten nicht einmal eine Kreditauskunft über den Käufer ein.

Die Treuhänder sahen nur die für die Chematec gediegen auftretenden Schweizer. Deren Verbündete, Langner, Voigt und vor allem Rottmann, hielten sich zurück. So bemerkten die Privatisierer nicht, wie windig die Käufer waren und wie wertvoll das Kaufobjekt war. Gutgläubig verkaufte die Treuhand die WBB an die Chematec. Die verlangten zwei Millionen Mark zahlten Kessler und Haeberlin per Scheck - mit Geld vom WBB-Konto.

Für Rottmann und Konsorten war das ein toller Coup. Nach Schätzung der Ermittler, die auf Gutachten von Sachverständigen basiert, war der Substanzwert des Unternehmens nicht Null, wie die Treuhand meinte, sondern 68 Millionen Mark.

Vergebens warnten andere Interessenten die Treuhand-Anstalt im Frühsommer 1991, sie sei möglicherweise auf »deutliche Unterbewertungen des vorhandenen Vermögens durch die Geschäftsführung der WBB« hereingefallen. Die Behörde behauptete, alles sei geprüft.

Erst fünf Jahre später, Ende August 1995, kommentierte Ex-Treuhänder Gundermann den Revisionsbericht der BvS kleinlaut: »Die Existenz eines solchen Grundstücks«, gemeint ist die Zentrale in der Wallstraße, »konnte bei einem Unternehmen wie WBB nicht vermutet werden.« Im Februar 1995 hatten Rottmann und Langner, wie Gundermann inzwischen wußte, die Immobilie für 107 Millionen Mark verkauft.

Im Sommer 1991, als die Treuhand die ersten Warnungen brüsk zurückwies, war die Aushöhlung der WBB nach Ansicht der Staatsanwaltschaft bereits in vollem Gange. Unmittelbar vor Vertragsabschluß hatten die Angeklagten eine erste gemeinsame Briefkastenfirma gegründet, der sie ihre eigenen Chematec-Anteile verkauften - für jeweils fünf Millionen Franken. Das Geld kam, wieder einmal, aus der WBB-Kasse. Gehälter als Geschäftsführer der WBB und Tantiemen aus Beraterverträgen ließen die Konten der Jungmillionäre weiter anschwellen.

Doch Rottmann wollte offenbar allein Herr im Hause sein. Schritt für Schritt drängte er seine Partner aus dem Unternehmen, hohe Abfindungen sorgten dafür, daß sie schwiegen. Gleichzeitig baute er um die WBB eine Kulisse verschachtelter Unternehmen, denen er die Geschäftsfelder und immer mehr Mitarbeiter der WBB übertrug. Die Kulisse, mit Firmen in Liechtenstein an der Spitze, hatte, so die Anklage, nur ein Ziel: zu verbergen, wie das Stammunternehmen ausgesaugt wurde.

Um die Millionen mit scheinbar legalen Geschäften außer Landes zu schaffen, brauchte Rottmann besonderen Sachverstand. Den wertvollsten Kontakt verschaffte ihm der Münchner Rechtsanwalt Ernst-Dieter Schäfer, den er als Berater engagiert hatte.

Schäfer wiederum pflegte Kontakt zu dem Münchner Steuerberater Hermann Schulte, und der reichte Rottmanns Anliegen an zwei Hamburger Anwaltskollegen weiter: Gottfried und Alexander Hanschke, Vater und Sohn.

Hanschke senior, so die Erkenntnisse der Berliner Staatsanwaltschaft, dirigierte diskret eine Mini-Firmengruppe im In- und Ausland. Über diese Verbindungen verschob Rottmann mit Schäfers Hilfe bis Mitte 1993 auch die letzten 57 Millionen Mark, die bei der WBB noch herauszuholen waren.

Fast genau diese Summe fehlte der WBB später, als der Hauptlieferant für das Heizkraftwerk Ahrensfelde die Bezahlung offener Rechnungen eintreiben wollte. Zu diesem Zeitpunkt, Anfang 1995, gab es die WBB nur noch auf dem Papier, die Kulissen-Firmen hatten schon Ende 1994 Konkurs angemeldet.

Im Juni 1995 setzte sich Rottmann ins Ausland ab, Anfang Juli schwärmten die Fahnder aus. Bei Durchsuchungen an 85 Orten in Deutschland und in der Schweiz sammelten sie sieben Tonnen Geschäftsunterlagen ein.

Monatelang wühlten sich die Ermittler durch die Akten, ohne allzugroßen Erfolg. Die Wende in den Ermittlungen kam Ende Oktober 1995 - und sie kam überraschend.

Im Bonner Finanzministerium traf ein dicker Briefumschlag mit zehn Disketten ein. »Als Hauptdrahtzieher in der Sache WBB« bezichtigte der anonyme Absender in seinem Begleitschreiben an Finanzminister Theo Waigel den Senior der Hamburger Anwaltskanzlei, Gottfried Hanschke. Die Disketten enthielten Kopien aus den PC in Hanschkes Kanzlei. Erst dieses Material enthüllte das ganze Ausmaß der Scheingeschäfte mit den WBB-Millionen.

Vater und Sohn Hanschke, Schäfer, Langner und Voigt, die jetzt Angeklagten, wurden im Januar dieses Jahres verhaftet. Während die beiden Ost-Berliner sich ausschwiegen, bestritten die Hamburger Anwälte zunächst alle Vorwürfe. Schäfer dagegen machte nach zwei Wochen in der Moabiter Zelle umfangreiche Aussagen, die ihn selbst und andere belasten; er bekam Anfang Februar Haftverschonung.

Seit drei Wochen sind die beiden Hanschkes nach Zahlung von drei Millionen Mark frei. Voigt und Langner sitzen noch, und die Justiz rätselt, ob sie die Kaution, je zwei Millionen Mark, nicht zahlen wollen oder so viel nicht mehr haben.

Michael Rottmann hat andere Probleme. Gelegentlich meldet er sich, über seinen Düsseldorfer Anwalt Christian Reinking, in der Heimat, so auch bei seinem alten Segelverein. Der erhielt im Juni Rottmanns Jahresbeitrag - ohne Absender.

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 48 / 122
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten