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FRANKREICH Zermürbter Juwel

Auch die Franzosen haben ihren Fall AEG: Die Traditionsfirma Creusot-Loire kämpft ums Überleben. *
aus DER SPIEGEL 27/1984

Fünfmal verschob Jacques Bon, Präsident des Pariser Handelsgerichts, die Entscheidung; fünfmal scheute der Richter davor zurück, den größten Konkurs der französischen Industriegeschichte auszusprechen.

Doch am Donnerstag vergangener Woche mußte Bon seine Entscheidung treffen: Creusot-Loire, eines der größten Privatunternehmen des Landes, war nicht mehr zu retten; das Konkursverfahren sollte eröffnet werden. Weder die Besitzer noch die Regierung wollten die erforderlichen Milliarden zur Rettung des maroden Unternehmens ausgeben.

Wie die AEG in der Bundesrepublik hatte es der Creusot-Loire-Konzern bislang vor allem seiner Größe verdankt, daß er überhaupt so lange überlebte: 23 000 Mitarbeiter bangen um ihre Arbeitsplätze bei dem Anlagenbauer. Schon seit Jahren drohte die Nummer eins im französischen Großanlagenbau unvermeidlich dem Ende entgegenzutreiben - dank des Unvermögens der beiden Familien-Dynastien Schneider und Empain, der Krise des Stahlsektors und des wachsenden Desinteresses der Banken.

Mehr noch als die AEG für die Deutschen ist Creusot für die Franzosen ein Stück Industriegeschichte. »Die Feuer der Schmiede von Le Creusot dürfen nicht verlöschen«, proklamierte Napoleon 1807. In der südburgundischen Stadt waren knapp vierzig Jahre zuvor Eisen- und Glashütten entstanden, in denen Kanonen gebaut wurden, die der eroberungswütige Kaiser der Franzosen für seine Kriege brauchte.

Die Brüder Eugene und Adolphe Schneider, ab 1836 Herren über Creusot, verlegten sich mit Erfolg auf die Produktion von Schutzplatten für Kanonen und exportierten Lokomotiven nach Großbritannien. Technische Begabung und Sinn fürs Kommerzielle machten die Schneiders rasch zu den Herrschern der französischen Schwerindustrie - und zu ernsthaften Konkurrenten der Krupps.

Um die Jahrhundertwende kamen die ersten Elektroloks, mächtige Dampfturbinen

und Dieselmotoren aus Creusot. Eugene Schneider baute sein Imperium bis ins zaristische Rußland aus und nahm im eigenen Land gezielt Einfluß auf die große Politik.

Der erste Weltkrieg verhalf den Schneiders dank ihrer Waffenschmiede zu viel Geld und mehrte ihren Ruhm. Der Friedensvertrag von Versailles hielt ihnen die konkurrierenden Krupps für eine Weile vom Hals.

Die Schneiders kauften ein Unternehmen nach dem anderen ein. Den Zweiten Weltkrieg überlebten sie ungebrochen, obwohl alliierte Bomber die Fabrikhallen in Le Creusot in Schutt und Asche legten.

Charles, der neue Chef der Dynastie, kassierte über eine Milliarde Franc aus Marshallplan-Mitteln und investierte in eine neue technische Entwicklung: die Kernenergie. Mit einer Lizenz der US-Firma Westinghouse baute die Schneider-Tochter Framatome ab 1958 Druckwasserreaktoren, über fünfzig Stück bis zu Beginn der achtziger Jahre.

Doch unvermittelt geriet das Imperium ins Wanken, als Charles Schneider 1960 im Hafen von Saint-Tropez einen Sturz von seiner Jacht nicht überlebte. Seine Witwe und Erbin, eine gelernte Filmschauspielerin, war der Rolle der Konzernchefin nicht gewachsen und trat nach drei Jahren ab. Die Führung der Geschäfte - und ein Viertel des Kapitals - übernahm der belgische Clan der Empains.

Die Empains hatten zu diesem Zeitpunkt bereits über zwei Generationen Reichtümer angesammelt. Sie hatten die Pariser Metro gebaut und finanziert, Straßenbahnen in Städten von Lille bis Kairo und Taschkent konstruiert, in den belgischen Kolonien Kongo und Burundi Bergwerke betrieben und in Gabun Wälder ausgebeutet: An Macht und Einfluß konnten sie es mit den Schneiders durchaus aufnehmen.

Bald herrschte Baron Edouard-Jean Empain, gerade 30 Jahre alt, in Frankreich über ein Imperium von 150 Firmen und über 100 000 Mitarbeiter. Doch der in Frankreich aufgewachsene belgische Edelmann mit dem Hang zum Playboy-Leben und zu nächtelangen Poker-Partien war nicht nach jedermanns Geschmack. Charles de Gaulle zum Beispiel war bitterböse, daß ein Juwel wie die Schneider-Gruppe in die Hände eines Ausländers geriet.

Gegen alles Recht drängte der General den Empains einen hohen Beamten von seinen Gnaden als Konzernchef auf. Kaum war de Gaulle 1969 abgetreten, entließ Empain den unerbetenen Aufseher.

Doch auch mit Georges Pompidou, de Gaulles Nachfolger im Elysee-Palast, gab es schnell Ärger. Empain wollte seine Tochtergesellschaft Jeumont-Schneider mit zehn Fabriken an Westinghouse verkaufen - der Plan scheiterte an Pompidous Veto. Als das Elysee ihm dann einen französischen Interessenten präsentierte, schaltete der Baron auf stur: Er verkaufte überhaupt nicht.

Erst unter Staatspräsident Valery Giscard d'Estaing fand der smarte Baron Empain Anerkennung und Aufträge. Die Regierung entschied, bei ihrer ehrgeizigen Atompolitik ausschließlich auf Reaktoren aus dem Hause Framatome zu bauen: Die Gruppe Empain-Schneider bekam ein Monopol zugeschanzt.

Edouard-Jean Empain faßte 1970 Nukleartechnologie, Maschinen- und Anlagebau in der Firma Creusot-Loire zusammen, kaufte mehrere Konkurrenzunternehmen und liierte sich mit der lothringischen Stahlfamilie de Wendel.

Die Regierung in Paris applaudierte, der Baron war salonfähig. Im Zenit seiner Macht stieg er als erster Ausländer in das Spitzengremium des Unternehmerverbandes CNPF auf.

Im Januar 1978 beendete ein dramatisches Ereignis die glanzvolle Unternehmerkarriere: Empain wurde in seiner Wohnung in der Pariser Avenue Foch von maskierten Gangstern gekidnappt und verschleppt. Nach Wochen zermürbender Isolierung war aus dem siegessicheren Bilderbuchkapitalisten ein gebrochener Mann geworden. Unaufhaltsam begann der Abstieg des Empain-Reiches.

Empain zog nach New York um, wo er sich mehr für das Nachtleben als für wirtschaftliche Dinge interessierte. Ein lustloses Comeback war kurz und ohne Erfolg. Im Februar 1981 zog sich Edouard-Jean Empain endgültig aus der Firma zurück. Das Erbe übernahm diesmal kein Familienclan, sondern die - ein Jahr später verstaatlichte - Compagnie financiere de Paris et des Pays-Bas, bekannter unter dem Kürzel Paribas.

Die Staatsbankiers brauchten nicht lange, um den faulen Kern in der äußerlich respektablen Firmengruppe zu entdecken: Creusot-Loire. Nur ein einziges Mal, 1974, hatte das Unternehmen mit Gewinn abgeschlossen. Nicht einmal die »Atomrente« ("Le Monde") der Tochtergesellschaft Framatome sicherte die Zukunft des Metall-Konzerns.

1982 drohte zum ersten Mal die Pleite. Creusot-Loire durfte seine Stahlproduktion an den Staat abtreten. Doch die erhoffte Gesundung blieb aus. Im Jahr darauf wurden 50 Prozent des Kapitals der gewinnträchtigen Tochter Framatome verkauft. Doch bei einem Verlust von 1,4 Milliarden Franc im Jahr 1983 reichte das nicht.

Das Überleben von Creusot-Loire hing nach Schätzungen von Experten an drei Milliarden Franc, die niemand in die leere Kasse einzahlen wollte. Industrieminister Laurent Fabius weigerte sich: »Der Staat ist keine Maschine, die dazu da ist, Fehler in der Unternehmensführung auszubügeln.«

Doch eine Pleite des in der französischen Metallindustrie führenden Unternehmens wollte sich die Regierung eigentlich genauso wenig leisten. Also appellierte Fabius an die Groß-Aktionäre, ihrerseits doch 800 Millionen Franc zur Verfügung zu stellen. Die Antwort war entrüstete Ablehnung.

Minister Fabius konnte nicht einmal den Großaktionär Paribas, schließlich eine verstaatlichte Bank, zu einem Creusot-Notopfer überreden.

Die Bankiers verlangten, daß erst der Staat selbst Geld herausrücken solle. Doch Fabius sträubte sich, jedenfalls bei Creusot-Loire. Anfang dieses Jahres spendierte er für die Rettung von 900 Arbeitsplätzen in der Papierfabrik La Chapelle-Darblay 2,3 Milliarden Franc - in seinem eigenen Wahlkreis.

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