»Strategie für ein tabakfreies Deutschland« Forscher fordern drastische Steuererhöhungen für Zigaretten

Zigarettenregal in einem deutschen Kiosk: Die »Strategie für ein tabakfreies Deutschland« fordert, dass Tabakwaren den Blicken der Verbraucher entzogen werden sollen
Foto: Daniel Bockwoldt / DPADieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Ein Bündnis von rund fünfzig Gesundheitsorganisationen und Hilfswerken fordert eine radikale Verschärfung der Tabakpolitik nach der Bundestagswahl – mit dem Ziel, Deutschland in den kommenden zwei Jahrzehnten fast rauchfrei zu machen. Hierfür sollen Zigaretten, E-Zigaretten und verwandte Nikotinprodukte vom Staat massiv verteuert, schwerer zugänglich und unattraktiv gemacht werden.
Trotz 127.000 Tabaktoten pro Jahr habe Deutschland »keine Strategie für eine nachhaltige Tabakkontrolle« und sei »bei der Umsetzung von Maßnahmen zur Senkung des Tabakkonsums das Schlusslicht in Europa. Wir wollen, dass sich das ändert«, heißt es in der »Strategie für ein tabakfreies Deutschland 2040«, die das Deutsche Krebsforschungszentrum federführend verfasst hat und das dem SPIEGEL vorab vorliegt. Zu den Unterstützern gehören unter anderem die Stiftung Deutsche Krebshilfe, das Deutsche Kinderhilfswerk, die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin sowie die Deutsche Lungen- und die Herzstiftung.
Zehn Prozent höhere Tabaksteuer: Jahr für Jahr
Bis 2040 solle die Raucherquote bei Erwachsenen von derzeit knapp 24 Prozent auf unter fünf Prozent und bei Jugendlichen unter zwei Prozent gesenkt werden, heißt es in dem Aufruf zum Weltnichtrauchertag am kommenden Montag. Erreicht werden soll dies mit zehn Maßnahmen, unter anderem durch
jährliche Tabaksteuererhöhungen um mindestens zehn Prozent per annum;
Verkaufsbeschränkungen wie ein Automaten- oder auch ein Auslageverbot für Tabakwaren;
ein vollständiges Werbeverbot für Zigaretten, Tabakerhitzer und E-Zigaretten einschließlich Sponsoring von Veranstaltungen durch die Hersteller;
Einheitsschachteln ohne Markenlogo für Zigaretten, E-Zigaretten und Liquids (»Plain Packaging«);
konsequente Rauchverbote in Bildungseinrichtungen, der Gastronomie, auf Spielplätzen, in Autos und am Arbeitsplatz;
Unterstützungsprogramme für Raucher, die aufhören wollen;
ein Verbot für Spenden der Tabakindustrie an politische Parteien.
»Diese Maßnahmen sind alles andere als utopisch«, sagt die Mitverfasserin Laura Graen vom Deutschen Krebsforschungszentrum. »Andere Staaten haben sie längst eingeführt.«
Deutschland, der Nachzügler
So kostet ein Zwanzigerpäckchen Markenzigaretten in Australien schon mehr als 30 Dollar (umgerechnet 19 Euro). In Frankreich, Belgien oder Irland dürfen Kippen nur in uniforme olivgrüne Schachteln mit extragroßen Schockfotos verpackt werden. Österreich verbietet das Rauchen in Fahrzeugen, wenn Kinder mit dabei sind. Sämtliche EU-Staaten haben schon vor Jahren die Plakatwerbung für Zigaretten abgeschafft – bis auf Deutschland, das nun immerhin Anfang 2022 nachzieht, nach jahrelangem politischem Gerangel und heftiger Gegenwehr vor allem von CDU-Politikern.
Und in Großbritannien gilt schon seit Jahren ein »display ban«: Wer hier Tabakwaren kaufen will, kriegt sie nicht einfach an der Supermarktkasse oder am Automaten – sondern muss an Verkaufsstellen nachfragen, wo die Nikotinprodukte hinter abschließbaren Türen aufbewahrt werden, damit Kundinnen und Kunden sie gar nicht erst zu Gesicht bekommen.
Staaten wie Australien, Neuseeland oder auch das Vereinigte Königreich haben es mit diesen Maßnahmen geschafft, die Zahl der Raucherinnen und Raucher signifikant zu senken. In Deutschland ist der Raucheranteil zwar bei Akademikern in den vergangenen Jahren deutlich gefallen, in bildungsfernen Schichten aber hoch geblieben. Ergebnis: Die Zahl der Tabaktoten pro Jahr ist in der Bundesrepublik fast anderthalbmal so hoch wie die der Menschen, die seit Beginn der Pandemie an oder mit Covid-19 gestorben sind – auch wenn sich die Zahlen wegen unterschiedlicher Berechnungen nur bedingt vergleichen lassen.
Dass die Tabakregulierung in der Bundesrepublik im internationalen Vergleich so lax ist, liegt laut Graen unter anderem an einer auffallend großen Nähe der Industrie zur hiesigen Politik. So lassen sich CDU und SPD ihre Parteitage noch immer von der Zigarettenlobby mitfinanzieren; andere Formen des Sponsorings waren ebenfalls lange Zeit üblich.
Auch deshalb dürften einige Vertreter dieser beiden Parteien Widerstand gegen die »Strategie für ein tabakfreies Deutschland« leisten.