Zukunftsforschung Wie sich die Welt durch die Finanzkrise wandelt
Hamburg - Wenn es um die Folgen der globalen Wirtschaftskrise geht, kennt der Pessimismus derzeit keine Grenzen: Haben Kapitalismus und Marktwirtschaft versagt, ist die Globalisierung am Ende? Folgt gar eine lange und düstere Phase der Rezession - so lauten die quälenden Fragen.
Alles übertrieben, meinen jedoch Trendforscher in einer aktuellen Analyse: "Die Krise ist weder sensationell noch historisch außergewöhnlich", so das Ergebnis einer Studie des Zukunftsinstituts. Wie im persönlichen Leben von Zeit zu Zeit Krisen auftreten müssen, damit Menschen sich weiterentwickeln, gebe es auch im Finanz-System Sollbruchstellen, wie etwa die Immobilienkrise, heißt es da. Finanzblasen seien so alt wie das Geldsystem selbst - regelmäßig würde in der realen Wirtschaft ein Sprung in eine höhere Ebene stattfinden.
Die Wirtschaftskrise als reinigendes Gewitter also, als Beschleuniger für einen überfälligen Wandel?
Wie der genau aussehen könnte, das analysieren die Autoren Matthias Horx, Oliver Dziemba und Eike Wenzel anhand einer Matrix von acht wirtschaftlich und gesellschaftlich wichtigen Bereichen. Sie fragen, wie Menschen künftig arbeiten, was sie konsumieren, wie sie einkaufen, was ihnen wichtig ist, welche Werte gefragt sind und worauf Firmen in Zukunft achten müssen, um ihre Produkte zu verkaufen.
Die Ergebnisse der Studie überraschen in der allgemeinen Krisenstimmung - denn sie sind fast ausnahmslos positiv: Nach den Thesen der Trendforscher sieht es in der Wirtschaftsordnung der Zukunft gut aus für Arbeitnehmer und Unternehmer.
Auch in Sachen Umweltschutz gibt es positive Entwicklungen. Nur die Männer müssen in der Ökonomie der Zukunft zurückstecken - denn Frauen sind auf dem Vormarsch, weibliche Eigenschaften in der Wirtschaft künftig gefragt.
SPIEGEL ONLINE stellt die Ergebnisse im Einzelnen vor:
Vom Mitarbeiter zum Selbstunternehmer
In keinem anderen gesellschaftlichen Feld werden die Zäsuren aus der Wirtschaftskrise solch tiefe Einschnitte hinterlassen wie in der Arbeitswelt, heißt es in der Studie.
Da durch die konjunkturelle Schieflage viele Teile der Wirtschaft komplett umgekrempelt werden, ergeben sich völlig neue Bedürfnisse: Starre Hierarchien, behäbige Kommunikationsstrukturen und lineare Unternehmensabläufe passen immer weniger zur schnell drehenden digitalen Wirtschaftswelt des 21. Jahrhunderts. Selbständigkeit, freiberuflicher Projektarbeit, temporäre Arbeitslosigkeit oder Multijobbing werden die neue Arbeitswelt kennzeichnen.
Der Wunsch nach einer sinnvollen beruflichen Tätigkeit und Selbstverwirklichung im Job werden in der Ökonomie von morgen zur entscheidenden Produktivitätskraft für zukunftsfähige Unternehmen. Diese müssen zu lernenden Organisationen werden und sich wandelbar zeigen, wenn sie zukunftsfähig sein wollen, glauben die Wissenschaftler.
Globalisierung 4.0
In der Vergangenheit sind Produktionsstätten und Dienstleistungen europäischer und amerikanischer Konzerne oft in Länder wie China, Indien und Brasilien verlagert worden. Zunächst funktionierte der Mechanismus, billig in Fernost produzieren, teuer auf dem heimischen Märkten verkaufen - aber mit der Wirtschaftskrise geht er zu Ende, prognostizieren die Zukunftsforscher.
Die Löhne in Indien und China werden weiter steigen. Der nächste asiatische und indische Boom wird von den Mittelschichten betrieben, nicht mehr von verarmten Wanderarbeitern. Die ausgelagerten Jobs kehren zurück und es wird wieder lukrativer, im Inland zu produzieren. Transferkosten rechnen sich oft nicht mehr. Wenn die westliche Welt ihre Kreativität und ihren innovativen Output nicht deutlich erhöht, könnte sich sogar eine Wohlstandsverschiebung in Richtung der "Anderen" vollziehen, heißt es in der Analyse. Denn Milliarden Menschen in anderen Teilen der Erde würden immer klüger und wohlhabender werden.
Außer China und Indien gehört auch Afrika zu den Märkten mit Zukunft. Immer mehr Global Player beginnen das bisher unergründete Potential des Kontinents zu entdecken.
Die Krise führt auch zur "Greenobalisierung", also zu mehr Umweltbewusstsein: Auch in Ländern, die bisher keinen großen Wert auf Umweltschutz legen wie China, erleben die Umwelttechnologien in den nächsten Jahren einen gewaltigen Boom, glauben die Trendforscher.
Kreativität durch Widersprüche
Reale Innovationen sind das Gegenteil von unendlich langweiligen Produktvariationen, die nur das eine bezwecken: Innovationskosten niedrig zu halten, heißt es in der Studie. Gefragt seien dagegen künftig echte Neuerungen. Unvereinbare Gegensätze werden im 21. Jahrhundert zusammengebracht, kennzeichnen die Gesellschaft und werden damit zum tragenden Prinzip für Innovation in den nächsten Jahren, glauben die Wissenschaftler.
Auch sogenannte disruptive Innovationen, also technische Meilensteine, werden weiterhin entscheidend zu Fortschritt und Wandel beitragen. Das iPhone krempelte beispielsweise die gesamte Branche um. Entscheidend seien künftig auch nutzerorientierte Innovationen - die Unternehmen müssten demnach vor allem auf Trends setzten.
Ikea zieht in die Stadt
Die dominanten Leitbranchen der letzten Jahre, vom Handel über Automobilsektor bis zu Banken, Pharma und Massenmedien, müssen sich nach Ansicht der Zukunftsforscher neu orientieren. Die Einteilung der Branchen erfolgt künftig nicht mehr in Anlehnung an die anbietenden Industrien, sondern an die Wünsche und Sehnsüchte der Konsumenten.
Diese suchen schon längst nicht mehr nach Produkten, sondern nach umfassenden Lösungen, die ihnen ein Stück der Alltagsarbeit abnehmen. Es sind vor allem netzwerkartige und Dienstleistungsmärkte, die in der Wirtschaft von morgen bedeutsam werden und neue Anforderungen an Industrie und Handel stellen. Der soziodemografische Wandel und die Arbeitsbedingungen in der globalen Gesellschaft zwingen zu neuen Beziehungskonzepten, glauben die Wissenschaftler. Care Providing als neuer Unterstützungsmarkt avanciert dabei zu einem Zukunftsmarkt, der Gesundheits-, Pflege-, Wohlfühl-, Erziehungs- und Instandsetzungsdienstleistungen bündelt, heißt es in der Untersuchung.
In den Städten werden viele Zonen künftig, nur mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen sein. Die grüne Wiese wird schon in einigen Jahren keine wirkliche Einkaufsalternative mehr sein, weil es umweltverträglicher ist, in der Innenstadt einzukaufen. Und selbst das Möbelhaus Ikea, dessen Abholprinzip die grüne Wiese voraussetzt, verlagert seinen Schwerpunkt in die urbanen Zonen, glauben die Forscher.
Geiz ist geil ist vorbei
Eine Entwicklung zu mehr Substanz und Sinnhaftigkeit im Konsum macht sich bemerkbar: Kunden wollen nicht mehr zwischen den Extremen superbillig und luxuriös wählen. Konsumenten investieren künftig ausgewählter und bewusster, weil sie sich in ihren eigentlichen Bedürfnissen angesprochen fühlen wollen.
Denn Back-to-Basic heißt auch Stressreduktion: Wer dies glaubhaft vermitteln kann, gehört künftig zu den Gewinnern, prognostizieren die Zukunftsforscher. Produkte und Innovationen, die einfach nur neu und anders sein wollen, verlieren für die Konsumenten an Attraktivität. Der Jagdtrieb der Konsumenten ist in den Boomjahren vor der Krise gestillt worden. Die Schubladen sind gefüllt, alle Regale überladen, alle Keller dicht. Keiner braucht mehr alle zwei Jahre ein neues Sofa. Die Geiz-ist-Geil-Ära ist vorbei. Der Reiz am Schnäppchenkauf verliert mehr und mehr an Zugkraft, glauben die Wissenschaftler.
Regionale Wirtschaftskreisläufe vor dem Comeback
Wer bislang angenommen hat, dass das Internet regionale Kommunikations- und Wirtschaftsprozesse einschränken oder beschädigen würde, hat nichts vom Internet verstanden, verkünden die Zukunftsforscher. Ein Viertel aller Suchanfragen bei Google hätten einen lokalen Bezug.
Insbesondere durch steigende Rohstoffpreise und die weiter steigenden Löhne in den Schwellenländern werden viele ökonomische Prozesse re-regionalisiert, heißt es in der Studie. Das sogenannte Nearshoring ersetzt das Outsourcing in ferne Länder: Lokale und regionale Wirtschaftskreisläufe werden so gestützt, neue Regionenbündel enstehen, die jedoch mit der Weltwirtschaft verknüpft bleiben.
Female Values: Frauen auf dem Vormarsch
Erfolg im Job, steile Karrieren und gesellschaftliches Ansehen war lange Zeit nur den Männern vorbehalten, den Frauen blieb meist nur die Rolle hinter dem Herd und als Mutter, heißt es in der Studie. Die Finanzkrise war nicht zuletzt ein Produkt männlichen Risikoverhaltens. Doch die Ökonomie von morgen verlangt nach anderen Fähigkeiten: Intuition, Bauchgefühl, emotionale Intelligenz - allesamt eher weibliche Eigenschaften - treten an die Stelle der systemischen Rationalität des Industriezeitalters. Während der männliche "Super-Angestellte" in der Versenkung verschwindet, setzen sich weibliche Verhaltensmuster, Lösungsstrategien und Wertesysteme mehr und mehr in Wirtschaft, Kultur und Politik durch, glauben die Wissenschaftler.
Technischer Fortschritt
Bedeutende technologische Innovationen sind immer das Ergebnis von sozialen Veränderungen oder die kühne Vorausschau auf soziale Veränderungen, heißt es in der Studie. Damit ist es in erster Linie die Gesellschaft, die über die Zukunft der Technologie entscheidet. Trends und Megatrends und deren Einfluss auf Wirtschaft und Gesellschaft spielen künftig für innovative Technologien eine entscheidende Rolle, wenn diese erfolgreich sein möchten.
In der Zukunft gibt es zwei technologische Herausforderungen: Internet und seine Fruchtbarmachung in den Real-World-Wertschöpfungsketten und "Green Technologies", wie etwa virtuelle Energienetzwerke.