Zwei-Klassen-Medizin "Bald haben wir amerikanische Verhältnisse"
Die Situation ist dramatisch, glaubt Karl Lauterbach: "Wir erleben gerade einen historischen Moment in der Geschichte der deutschen Krankenversicherung", sagt der Gesundheitsexperte der SPD. "Bald haben wir amerikanische Verhältnisse."
Gern wird Lauterbach von Kritikern als düsterer Prophet mit putziger Fliege dargestellt, dessen Zukunftsszenarien allzu schwarz sind. Doch diesmal wartet er mit Zahlen auf, die eindeutig zu belegen scheinen, was Lauterbach schon lange verkündet: Deutschland ist in Gesundheitsdingen auf dem Weg zum Zwei-Klassen-Staat.
Eine Untersuchung am Institut für Gesundheitsökonomie und klinische Epidemologie - wo Lauterbach Direktor ist - hat gezeigt, dass Ärzte zumindest im Raum Köln/Bonn/Leverkusen Kassenpatienten im Schnitt dreimal so lang auf bestimmte Behandlungen warten lassen wie Privatpatienten.
189 Fachärzte wurden nach genauem Gesprächsleitfaden kontaktiert und um Termine für verschiedene nicht akute Untersuchungen gebeten - für einen Allergie- oder Hörtest oder eine Magenspiegelung. Bei allen Behandlungen mussten sich Kassenpatienten länger gedulden, bei der Magenspiegelung sogar im Schnitt 24,8 Tage mehr.
Und bei der untersuchten Region handle es sich sogar noch um ein "überversorgtes Gebiet", sagt Lauterbach. Das heißt: Dort gebe es genug Ärzte für alle Belange. In Ostdeutschland zum Beispiel oder auf dem Lande, wo der Mangel an Medizinern schon seit Jahren alarmierend ist, sei die Ungerechtigkeit sicher noch sehr viel dramatischer.
"Später muss ja nicht schlechter bedeuten"
Der Grund für die Schieflage ist simpel: Die unterschiedlichen Vergütungssysteme, nach denen private und gesetzliche Kassen zahlen. Allein bei den in Lauterbachs Studie verlangten Behandlungen verdienen Ärzte an Privatpatienten 25 bis 30 Prozent mehr als an denen von der Kasse. In anderen Fällen kann der Einkommensunterschied noch eklatanter ausfallen.
Ärztevertreter gestehen offen ein, das in bestimmten Fällen zu berücksichtigen. Wenn es um den "Komfort" geht, sei es durchaus berechtigt, Privatpatienten zu bevorzugen, sagt Andreas Köhler, Vorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), zu SPIEGEL ONLINE. Bei der Bundesärztekammer spricht man von "Serviceunterschieden". In der Qualität der Behandlung gebe es aber keinerlei Unterschiede, sagen Vertreter beider Vereinigungen immer wieder. Und bei akuten Beschwerden werde niemand als erstes nach der Kassenzugehörigkeit gefragt.
Auch der CDU-Gesundheitsexperte Jens Spahns erklärt nüchtern: In der Studie gehe es ja nicht um Notfälle, sondern nur um zeitunkritische Behandlungen. In solchen Fällen bedeute eine spätere Behandlung ja nicht, "dass sie auch schlechter behandelt werden".
Wenn Gutverdiener mehr zahlen und weniger bekommen
Müssen sich Mitglieder gesetzlicher Versicherungen also schlicht damit abfinden, in gewissen Fällen B-Patienten zu sein? Auf keinen Fall, findet Lauterbach. Schließlich werden nicht nur besonders Reiche, sondern auch besonders Gesunde in dem existierenden System bevorzugt, heißt es in der Studie. Private Kassen stufen ihre Mitglieder ja nicht zuletzt nach gesundheitlichen Kriterien ein - so dass der Anteil der Gesünderen größer ist.
"Gutverdiener zum Beispiel, die gesetzlich versichert sind und teilweise 500 oder 600 Euro pro Monat einzahlen - und damit auch Geringverdiener unterstützen -, werden später behandelt als Privatpatienten. Obwohl die vielleicht nur 200 Euro pro Monat bezahlen und die Solidargemeinschaft nicht unterstützen. Das ist ein völlig inakzeptables System", sagt Lauterbach.
Im Bundesgesundheitsministerium hält man nichts von einer Zwei-Klassen-Medizin: Eine Sprecherin verweist auf einen Gastbeitrag von Ulla Schmidt im "Tagesspiegel", der schon im November 2006 erschien. Da antwortete Schmidt einem Mediziner, der offen zugab, Privatpatienten bei nicht akuten Terminen zu bevorzugen: Woran erkenne der Mann, "dass es ein 'nicht akuter Fall ist?'" Handle er auf Basis von "Glaube, Hoffnung, Ferndiagnose?" An dieser Haltung habe sich nichts geändert, sagt die Sprecherin: "Aus Kostengründen darf kein Arzt den ein oder anderen Patienten bevorzugen."
KBV-Präsident Köhler hält diese Reaktion für übertrieben. Schon das "Qualitätsmanagement in den Praxen" verhindere, dass ein bedürftiger Patient von der Sprechstundenhilfe einfach vertröstet werde.
"Gleiche Honorare für gleiche Leistung"
Ärztekammerpräsident Hoppe gibt die Schuld allein der Politik. Schließlich seien die gesetzlich festgelegten Honorare für die Behandlung von Kassenpatienten zum Großteil "völlig unterbewertet": "Es ist perfide, Ärzte für die Folgen staatlich vorgegebener Unterfinanzierung im Gesundheitswesen verantwortlich zu machen."
Auch Lauterbach findet: Nicht die Ärzte, sondern das System ist schuld. "Es gibt nur eine Lösung für dieses Problem, gleiche Honorare für gleiche Leistung" - ob Privat- oder Kassenpatient.
Doch davon will man in Schmidts Ministerium nichts wissen: Eine Angleichung der Gebührenordnungen sei unmöglich, sagt die Sprecherin. Die leicht ausweichende Begründung: Die Vergütung bei Privatpatienten folge schließlich "einer ganz anderen Systematik". Aber immerhin gelte ab 2009 ein neues Honorarsystem für Ärzte, die Kassenpatienten behandeln - mit einem um 2,5 Milliarden Euro aufgestockten Gesamtvolumen.
Während CDU-Experte Spahn hofft, dass sich "dadurch die Situation entspannen wird", ist Lauterbach skeptisch. "2,5 Milliarden Euro - das sind zehn Prozent der jährlichen Gesamtsumme für Honorare. Das macht kaum einen Unterschied", sagt er. Schließlich bekomme ein Mediziner im krassesten Fall bis zu 150 Prozent mehr Geld für die Behandlung eines Privatpatienten - zum Beispiel bei einer Darmspiegelung. "Am Grundprinzip ändert sich nichts", sagt Lauterbach.