MEDIZIN Acht, neun, aus
Der K. o.«, sagt der amerikanische Medizinprofessor Ernst Jokl, »ist die einzige gesetzlich erlaubte Tötungsart.« Das Kampfziel der Faustsportler, so erläutern die Doktoren, sei die Gehirnerschütterung. Jeder Kopftreffer wird als Punkt gewertet. Rund tausend Tote im Ring, gezählt seit 1900, seien genug. Die Boxer sollen endlich das Handtuch werfen. Der Boxsport, so erklärt der Weltärztebund, sei »verabscheuungswürdig«, sein Verbot wünschenswert. »In einem zivilisierten Land«, forderte Ende Mai die führende amerikanische Ärztezeitschrift »Jama«, könne der Faustkampf nicht länger geduldet werden. In einer Titelgeschichte referierte die Zeitschrift die erdrückenden medizinischen Beweise für die Schädlichkeit dieser Sportart. Ein generelles Verbot des Boxsports forderten letzte Woche auch die 600 Delegierten des britischen Ärztetages.
Auch mancher große Profiboxer wackelt schon bedenklich mit dem Kopf. Muhammad Ali, vormals Cassius Clay, 42, das größte Boxtalent des Jahrhunderts, flüstert seinen Besuchern zu: »Wenn ihr 3000 Schläge an die Birne bekommen hättet, so wie ich, wie würde es euch dann gehen?« So wie ihm: Clays Hände zittern, sein Gang ist schleppend, manchmal schläft er im Sitzen ein.
»Wir Boxer«, hat Larry Holmes, 34, Ex-Weltmeister im Schwergewicht, erkannt, »sind für die Manager und Veranstalter nur ein Stück Fleisch. Sie sind unsere Zuhälter, wir ihre Prostituierten.« Holmes ist so weichgeklopft, daß er am 8. Juni in Las Vegas wieder in den Ring klettern wollte. No fight, no money. Aber die Veranstalter konnten die garantierte Börse nicht aufbringen: No money, no fight.
Am Ende wird auch Larry Holmes, der fröhliche Neger, in der Berufskrankheit der Boxer versinken. Sie heißt unter Ärzten »Dementia pugilistica«, Verblödung durch Boxen, von Kampfsportfreunden wird sie liebevoll »Schlagtrunkenheit« genannt. Das Leiden gehört zur edlen Kunst der Selbstverteidigung wie das Blumenkohlohr und die Sattelnase. Nur: Mit der Demenz ist schlecht leben.
Sie nimmt dem Kämpfer, nach und nach, alle Qualitäten: Seine Bewegungen werden tapsig, die Reflexe langsamer. Der Schädel brummt ohne Unterlaß. Sehstörungen irritieren den Sportler. »Wenn du verprügelt wirst«, riet Ex-Weltmeister Max Baer, »und du siehst plötzlich drei Gegner auf dich zukommen, achte auf den in der Mitte. Das ist''s, was mich ruiniert hat - daß ich auf die beiden anderen losgegangen bin.«
Nicht jeder Boxer kann solche Einsichten formulieren, denn die Sprache wird wortarm, die Silben schleifen. Am Ende verlieren die alten Haudegen gänzlich die Orientierung über Ort, Zeit und Situation. So mancher, der tapfer ausgeteilt und als Revanche auch viel eingesteckt hat, verdämmert in einer Nervenheilanstalt. Prominentestes deutsches Beispiel: Adolf Heuser, Jahrgang 1907, einst Europameister im Schwergewicht, lebt seit 1949 unter der Obhut von Psychiatern in einer Bonner Fachklinik. Heuser: »Ich wußte nicht mehr ein noch aus, so landete ich im Irrenhaus.«
Reihenuntersuchungen von Boxsportlern und die Anwendung modernster Diagnoseverfahren haben jetzt bewiesen, daß die Schläge auf den Kopf nicht nur einzelne Fighter nachhaltig schädigen, sondern die meisten von ihnen: *___Eine Überprüfung des unwillkürlichen, rhythmischen ____Augenzitterns ("Nystagmus") durch Aufzeichnung der ____dabei entstehenden Ströme erbrachte bei 13 von 20 ____österreichischen Boxsportlern krankhafte Befunde - ____Beweis für funktionelle Schäden des Gehirns. *___12 von 14 skandinavischen Faustkämpfern, die mal ____Landes- oder gar Europameister waren, zeigen typische ____Symptome der Boxerkrankheit - die wassergefüllten ____Hohlräume des Gehirns haben sich erweitert, die ____Hirnströme krankhaft verändert. *___Von 311 Sportlern, die wegen Sprach- und ____Gedächtnisstörungen an britische Ärzte zur Behandlung ____überwiesen wurden, hatten sich zwölf als Jockeis, fünf ____als Fußballer und je zwei als Rugby-Spieler und Catcher ____betätigt - die anderen 290 Hirnverletzten waren Boxer. *___Von 18 amerikanischen aktiven oder früheren ____Berufsboxern im Alter zwischen
18 und 60 Jahren wiesen 16 bei einer gründlichen Untersuchung bleibende Hirnschäden auf - die beiden noch nicht geschädigten waren die zwei Jüngsten (mit maximal zwölf absolvierten Kämpfen).
Konsequenterweise empfehlen die US-amerikanischen Ringärzte - im Prinzip dem Schlagabtausch von Herzen zugetan -, daß in Zukunft nur noch »in der Nähe eines hirnchirurgischen Zentrums« geboxt werden dürfe. In Nähe des Rings habe ein Ambulanzfahrzeug bereitzustehen. Vor und nach jedem Kampf sei der Kopf des Schlägers gegen Honorar zu röntgen: No money, no fight.
Die gutgemeinte Prophylaxe geht freilich am Kern des Problems vorbei. Sie soll vor allem spektakuläre und dem Ruf des Boxsports abträgliche Todesfälle verhindern, wie den des Koreaners Duk Koo Kim bei einem Weltmeisterschaftskampf in Las Vegas im November 1982. »Duk Koo Kim, vielleicht haben Sie den Namen vorher noch nie gehört«, hatte der TV-Reporter nach der dreizehnten Runde in der erbitterten Ringschlacht gegen Titelhalter Ray ("Bum-Bum") Mancini den Millionen Zuschauern verkündet. »... aber von heute an werden Sie diesen Namen kennen, egal ob Duk gewinnt oder verliert.«
In der vierzehnten Runde erfüllte sich das Reporter-Klischee auf tragische Weise. Nach einer zweifachen Rechts-links-Kombination Mancinis, die er praktisch verteidigungslos hinnahm, wurde Duk Koo Kim, der bis dahin unbekannte Sohn eines koreanischen Reisbauern, »auf einer Trage aus der Anonymität gehoben« wie das »New York Times Magazine« schrieb. Vier Tage später, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben, starb der Boxer.
Solche akut lebensgefährlichen Hirnblutungen, die - wenn überhaupt - nur durch das rasche Eingreifen eines Neurochirurgen-Teams kuriert werden können, sind relativ selten. Die meisten Schäden resultieren vielmehr aus einem Additionseffekt: Weich geklopft wird die Birne Schlag auf Schlag, im Training und in Kämpfen. Die einzelnen Kopftreffer summieren sich, obgleich sie, jeder für sich, meist ohne dramatischen Effekt bleiben. Doch die Nervenzellen des Gehirns vergeben Prügel nicht.
Menschliches Nervengewebe weist, neben den Drüsenzellen, die höchstentwickelten Strukturen auf. Das Gehirn eines jungen, gesunden Erwachsenen besteht aus rund 14 Milliarden Nervenzellen. Sie sind die biologische Grundlage für Denken und Fühlen, Intelligenz, Gedächtnis und Charakter, für jegliches bewußte Leben. Die Nervenzellen dirigieren aber auch, dem Menschen unbewußt, ohne willentliche Steuerung die Arbeit der inneren Organe, regulieren Atmung, Kreislauf, Verdauung und Muskelaktivität.
Untereinander sind die Zellen des Gehirns auf vielfältige Weise verbunden, nach außen durch die knöchernen Hüllen des Schädels gut geschützt. Die Knochen geben dem Zentralnervensystem nicht nur Schutz, sondern auch Halt: Beim lebenden Menschen ist das Gehirn von Natur aus weich wie Pudding. Umgeben von drei Hirnhäuten und einer dünnen Schicht klaren Hirnwassers, ist das Organ gleichsam schwebend aufgehängt - zum Schutz vor Stoß und Schlag: Erschütterung ist den Gehirnzellen höchst zuwider. In mehr oder minder großen Arealen des Gehirns bricht der Informationsfluß zusammen, stets stellen auch einige Millionen Nervenzellen für immer die Arbeit ein und gehen zugrunde (siehe Graphik Seite 141).
Die drei klassischen Symptome einer Gehirnerschütterung ("Commotio cerebri") sind die Auslöschung der Erinnerung für den unmittelbaren Zeitraum vor der Gewalteinwirkung ("retrograde Amnesie"), die Bewußtlosigkeit in der Zeit danach sowie Gleichgewichtsstörungen, Übelkeit und Bewußtseinstrübungen von oft tagelanger Dauer: Jeder K.-o.-Schlag ist eine vorsätzlich herbeigeführte Gehirnerschütterung. Doch selbst dann, wenn der Kämpfer sich auf den Beinen hält und sich angeschlagen ("groggy") über die Runden rettet, nehmen die Nervenzellen Schaden, ein Kopf ist kein Punchingball.
Die Gewalt, die ihn trifft, ist groß und inzwischen präzise ermittelt. Schützt der Boxer seine Faust mit einem 12-Unzen-Handschuh, _(Eine Unze entspricht 28,35 Gramm. )
so kann die Schlagwirkung einer schwungvoll an den Kopf des Sportfreundes placierten Geraden der 50fachen Erdbeschleunigung (50 g) entsprechen. Astronauten werden beim Start vier bis acht g zugemutet. Ist der Boxhandschuh, wie bei Profis üblich, weniger gepolstert, setzt der Stoßkörper Faust am Stoßziel Kopf noch ganz andere Kräfte frei: Bei einem Sechs-Unzen-Handschuh sind es bis zu 100 g.
Boxhandschuhe bestehen je etwa zur Hälfte aus Leder und Polsterstoff. Je voluminöser sie sind, desto mehr Schlagkraft absorbieren sie. Nur: Was ein rechter Faustkämpfer ist, der will seine Hiebe möglichst ungedämpft austeilen. Bemühungen, die Unzenzahl der Handschuhe zu erhöhen und die gefährlichen Daumen, die routinemäßig die Augen des Kameraden gefährden, in den Lederfäustling zu integrieren, sind zumeist gescheitert. Statt dessen kennen die Schläger und ihre Hintermänner listige Tricks. Der Wiener Nervenarzt Christian Spunda: »Die beinharten Bandagen unter den Boxhandschuhen«, mit denen die Hände umwickelt werden, »wirken wie Eisenringe. Dadurch wird der dämpfende Effekt der Handschuhe wieder aufgehoben«.
Wenn es darum ginge, einem Gegner »den größtmöglichen Schaden zuzufügen«, so formulierte es der amerikanische Bio-Ingenieur Voigt Hodgson, dann gebe es dafür »kein besseres Instrument als die Acht-Unzen-Handschuhe, wie sie von Berufsboxern benutzt werden«.
Wird der Kopf von einem Haken getroffen, so versetzt der Schwinger den knöchernen Schädel in eine Rotationsbewegung, der das Gehirn wegen seiner elastischen Aufhängung und der Massenträgheit jedoch nur verzögert folgen kann: Während dieser Millisekunden reißen im Kopf des Kämpfers zarte Blutgefäße. Meist bleibt die Blutung winzig und deshalb unbemerkt. Doch kann sie auch der Anfang vom Ende sein: Die weichen Nervenzellen werden durch eine größere Blutmenge tödlich komprimiert, die allerletzte Runde ist eingeläutet - acht, neun, aus.
Der menschliche Organismus ist nicht in der Lage, zugrundegegangene Nervenzellen neu zu bilden wie andere Körperzellen. Was verloren ist, ist für immer verloren. Im Laufe seines Lebens muß ein Boxer deshalb von Kampf zu Kampf mit immer weniger Gehirn auskommen.
Dabei besteht, wie der renommierte Schweizer Sportarzt Dr. Hans Howald, Leiter des Forschungsinstituts der Eidgenössischen Turn- und Sportschule Magglingen, erläutert, zwischen der »Hirnschrumpfung und dem Ausmaß ihrer Spätschäden« einerseits und der »Anzahl der ausgefochtenen Kämpfe« andererseits ein zweifelsfrei nachgewiesener statistischer Zusammenhang. Auch der Box-Stil spielt eine gewisse Rolle: »Schläger« sind stärker von Spätschäden bedroht als »Techniker«.
Zum Kummer der Ärzte gibt jedoch keine Statistik eine Prognose des boxerischen Einzelschicksals her: Von hundert Profiboxern, werden sie nur alt genug, verblöden zwar mehr als die Hälfte, doch erfreuen sich ohne Zweifel etliche Ex-Boxer einer guten Gesundheit und schöner Erinnerungen an die großen Zeiten. Legendäre Stehaufmänner wie Max Schmeling, 78, und Bubi Scholz, 54, verkörpern für die zahllosen Nobodies des Boxgeschäftes das Prinzip Hoffnung.
Coca-Cola-Millionär Schmeling bringt die Sache auf den Punkt: »Niemand wird zum Boxen gezwungen.« Aber: »Alles, was ich geworden bin, verdanke ich dem Boxen.« Außerdem brauche die Jugend »Kampfsportarten«.
Gelobt sei, was hart macht? »Die Jugend muß wieder lernen, sich durchzuboxen«, lehrt der Lübecker Theologe Professor Hans-Joachim Thilo. Auch für Deutschlands höchstrangigen Boxarzt, den Sportmediziner Professor Hans Grebe, 70, ist es gar keine Frage, daß Boxen eine Sportart »mit hohem erzieherischem Wert« ist, die »die Persönlichkeit fördert«.
Um Leib und Leben der von ihm überwachten harten Männer vor den ärgsten Gefahren zu schützen und außerdem die argumentative Deckung dicht zu halten, behauptet Grebe, daß *___in den letzten zehn Jahren die Vorsichtsmaßnahmen ____ständig verbessert worden seien; *___Profiboxen eine ganz andere Sportart als Amateurboxen *___und Boxen die medizinisch am besten überwachte Sportart ____sei.
»Voller Freude« nahm Dr. Grebe Anfang Mai an der Einweihung eines Sportmedizinischen Instituts in Italien teil, das sich ausschließlich der Erforschung der Boxer-Gesundheit widmen will - so, als sei da wissenschaftliches Neuland zu beackern. »Große Hoffnung« setzt Grebe auch auf eine Zusammenkunft anläßlich der Olympischen Spiele in Los Angeles. Die Amateur-Boxverbände wollen darüber nachsinnen, ob der für Olympia schon verordnete Kopfschutz allgemeine Kämpfer-Pflicht werden soll. Bei Meisterschaften innerhalb der Bundesrepublik ist er vorerst noch ausdrücklich untersagt.
Bisher stehen die meisten deutschen Faustkämpfer und ihre Altvorderen der Novität eher ablehnend gegenüber. »Der Kopfschutz verdient diese Bezeichnung nicht«, urteilt der Berliner Herbert Sonnenberg. »Wer mal Sparring mit Kopfschutz gemacht hat, weiß, daß so ein Ding nicht viel nutzt« - es absorbiert nur Bruchteile der Schlagenergie. »Mit der Einführung des Helms wird mehr gekloppt werden als bisher«, weissagt der derzeit bekannteste deutsche Profi, der »schöne Rene« Weller: »Jeder glaubt, optimal geschützt zu sein!«
In Los Angeles soll deshalb auch über ein neues Faustrecht nachgedacht werden. Zur Debatte stehen eine Verlängerung der Sperrfristen nach einem Niederschlag und die Ausweitung der Rechte des Ringarztes: Er soll ein Handtuch werfen dürfen. Die Idee, Schläge auf den Kopf ebenso zu verbieten wie seit jeher Schläge in den Unterleib, ist noch keinem Verantwortlichen gekommen, denn die meisten haben Kopf und Hirn in jungen Jahren tapfer hingehalten und haben »seither anstelle eines Hirns nur mehr Rührei im Kopf« (so ein amerikanischer Ringrichter).
Das ist gute olympische Tradition. Schon der griechische Dichter Lucillius wandte sich in einem Spottgedicht an einen Boxer namens Stratophon: »Als Odysseus nach 20 Jahren heimkehrte, erkannte ihn sein Hund sofort. Doch dich würde nach nur vierstündigem Faustkampf kein Hund wiedererkennen, geschweige denn ein Mensch ...«
Nur da nicht weich werden, Um Gottes willen, nicht weich werden! Nur
immer ruhig reingehauen auf die Nuß. So''n kleiner Mann macht nämlich
immer so''n Theater. Nur nicht d''rum kümmern, Mann, du bist doch
nicht sein Vater. Nur keine Noblesse, Sondern eine in die Fresse,
Immer eine in die Fresse. Aus dem »Lied von der harten Nuß« von
Bertolt Brecht
[Grafiktext]
SCHWINGEND AUFGEHÄNGT Die Wirkung von Boxhieben auf das menschliche Gehirn (schematische Darstellung) Bei jedem Boxhieb gegen den Kopf gerät der Schädel in eine Rotationsbewegung. Das elastisch aufgehängte Gehirn folgt dieser Bewegung aufgrund der Massenträgheit mit Verzögerung. Während dieser Millisekunden können im Kopf des Kämpfers die zarten Blutgefäße der gefäßführenden Hirnhaut (Pia mater) reißen. Kopfhaut Schädeldecke Harte Hirnhaut Spinngewebshaut Gefäßführende Hirnhaut Gehirn Blutgefäße Mit Flüssigkeit gefüllter Hohlraum zwischen Hirn und Schädeldecke
[GrafiktextEnde]
Eine Unze entspricht 28,35 Gramm.