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VERKEHR Affe in der Rakete

Mit drastisch höheren Geldbußen will die Bundesregierung gegen Raser und Trunkenbolde am Steuer vorgehen. Doch Psychologen haben erhebliche Zweifel an der abschreckenden Wirkung der geplanten Strafverschärfung. Was hilft wirklich gegen das Rowdytum auf den Straßen?
aus DER SPIEGEL 20/2008

Anfang der Woche trat Wolfgang Tiefensee das Erbe eines uralten Vorbildes an. Der Bundesverkehrsminister präsentierte einen drastisch verschärften Bußgeldkatalog für Verkehrssünder.

Schon der Merowinger-König Chlodwig glaubte, mit empfindlichen Geldstrafen schlimmstes Unrecht unter seinen Getreuen verhindern zu können. Zwischen 508 und 511 nach Christus ließ der Herrscher die »Lex Salica« aufschreiben. Der Mord an einem Franken sollte getreu dem fränkischen Rechtsbuch mit einem Wergeld von 200 Schillingen gesühnt werden. Bluttaten an gebärfähigen Frauen schlugen gar mit 600 Schillingen zu Buche.

Der Vergleich des modernen Verkehrsrowdytums mit mittelalterlichen Meucheleien scheint nicht gänzlich aus der Luft gegriffen zu sein: »Ein Auto ist eine Waffe und der Führerschein eine Lizenz zum Töten«, deutet Bernd Rothenberger, Vorsitzender des Bundesverbands Niedergelassener Verkehrspsychologen (BNV), die Nebeneffekte zeitgemäßer Beförderungspraxis.

Zwar geht die Zahl der Verkehrstoten in Deutschland seit Jahren kontinuierlich zurück; dennoch wurden auch im vorigen Jahr in Deutschland immer noch knapp 5000 Menschen totgefahren.

So denken sich rund 15 Prozent der männlichen Verkehrssünder offenbar nichts dabei, sich alkoholisiert hinter das Steuer zu setzen. Knapp 17 Prozent der Frauen wiederum missachten die Vorfahrtsregel. Vor allem aber rasen 60 Prozent der Verkehrsteilnehmer (beiderlei Geschlechts) regelmäßig deutlich über dem Tempolimit durch die Landschaft (siehe Grafik).

Dem will der SPD-Minister nun mit drakonischen Disziplinierungsmaßnahmen Einhalt gebieten. Der deutlich verschärfte Bußkatalog für Verkehrssünder sieht unter anderem vor,

* das Fahren unter Alkoholeinfluss mit bis zu 1500 Euro zu bestrafen (bisher 750);

* Raserei in geschlossenen Ortschaften mit maximal 680 Euro zu belegen (früher 425);

* Drängler mit einer Geldbuße von maximal 400 Euro zu disziplinieren (bisher 250);

* das Überfahren einer roten Ampel mit bis zu 360 Euro zu ahnden (zuvor 200).

Erwartungsgemäß polterte der ADAC postwendend gegen die verschärfte Gebührenordnung: »Bußgelderhöhungen alleine bringen es sicherlich nicht«, beschied ein Sprecher des Verbands den Minister. Doch nicht nur unter PS-Lobbyisten regen sich ernste Zweifel an der Wirksamkeit des Vorstoßes aus der Politik.

2002 berief der damalige Verkehrsminister Kurt Bodewig (SPD) den Psychologen Alf Zimmer in seinen Beraterstab. Vier Jahre lang stand der Rektor der Universität Regensburg verschiedenen Ministern mit Empfehlungen zur Seite.

Von der jüngsten Initiative Tiefensees rät Zimmer dringend ab: »Ärgerliche Preissteigerung«, »Symptombekämpfung« und »nicht wirksam« - so barsch urteilt der Professor über die geplante Erhöhung der Strafgelder um teilweise mehr als hundert Prozent.

Die Androhung einer Bußmarter hält der Verkehrspsychologe für weitgehend wirkungslos: Sie schreckt den gemeinen Autofahrer kaum ab, selbst wenn vom Gesetzgeber noch so hohe Geldstrafen in Aussicht gestellt werden.

Vielmehr wirkt jede unentdeckte Nachtfahrt bei Trunkenheit, jede geheime Raserei und jede ohne Anzeige überstandene Ampelüberquerung bei Rot als sogenannter negativer Verstärker.

»Mit jedem Mal, das ich nicht erwischt werde, verfestigt sich meine Überzeugung von der Richtigkeit meines Tuns«, erläutert Zimmer die fatale Entwicklung eines chronischen Verkehrssünders. Wirkungsvoller als immer höhere Strafen wären demnach vor allem engmaschigere Kontrollen.

Zudem hadern die Deutschen mit dem komplexen und variantenreichen Regelwerk hierzulande.

»Es ist kein Zufall, dass der deutsche Führerschein als ganz besondere Herausforderung gilt. Wo gibt es schon so viele Vorschriften und Verkehrsschilder wie in Deutschland?«, beklagt Zimmer und folgert: »Da fühlt sich sicher mancher aufgerufen, seine eigenen, überschaubaren Regeln zu schaffen.«

Verglichen mit den europäischen Nachbarn belegen die Deutschen trotz ihrer mitunter anarchistischen Auslegung der Straßenverkehrsordnung bei den absoluten Todeszahlen ohnehin nur einen Platz im unteren Mittelfeld - in Griechenland, Spanien oder Belgien etwa verlieren statistisch gesehen sehr viel mehr Menschen ihr Leben auf der Straße.

Bislang trug ein eher moderater Bußgeldkatalog diesem Umstand auch Rechnung. Die neue Tiefensee-Tabelle langt nun deutlich deftiger hin. So spricht einiges dafür, dass der Staat mit seinen Strafgebühren in erster Linie abkassiert, statt die Straßen zu befrieden. »Sicherheit kann man nicht kaufen wie eine Currywurst«, glaubt denn auch BNV-Chef Rothenberger.

Bis die gewünschte Entspannung auf dem Asphalt eintrete, sei ein langer Prozess der Bewusstseinsveränderung erforderlich. Derzeit glichen selbst reifere Pkw-Piloten oft pubertierenden Backfischen. »Entwicklungsbiologisch ist der Mensch überhaupt nicht reif fürs Auto«, resümiert Rothenberger. »Wenn sie jemanden an das Lenkrad eines Porsche lassen, dann ist das so, als würden sie einen Affen in eine Rakete setzen.«

Die große Mehrheit der Kraftfahrer bewege sich im Verkehr wie in einer archaischen Urgesellschaft, hat Rothenberger beobachtet: »Die denken: Solange mich niemand umbringen will, bringe ich auch niemanden um.«

Die schlimmsten Sünder dieses täglich ablaufenden Überlebenskampfes landen etwa in der Praxis des Verkehrspsychologen Edmund Wirzba in Berlin-Neukölln. Etlichen seiner Patienten stellt Wirzba ein ähnlich schlechtes Zeugnis aus wie sein Kollege Rothenberger: »Viele von denen haben völlig verdrängt, dass ein Führerschein nicht als lebenslanges Eigentum verliehen wird, sondern bei Missbrauch auch wieder entzogen werden kann.«

Dennoch hält der Diplompsychologe eine Strafe in Form höherer Bußgelder für eine denkbar schlechte Lösung. »Die Leute begreifen das als staatlich verordnete Rache und fühlen sich unverhältnismäßig bestraft«, fürchtet Wirzba.

Der Seelenkundler aus dem Berliner Problemkiez setzt vielmehr auf verhaltenstherapeutische Maßnahmen. Er verweist auf geringe Rückfallquoten bei solchen Rasern oder Alkohol-Delinquenten, die eine sechs- bis zwölfmonatige Therapie durchlaufen haben.

Dass langfristiger Segen aus einer durchtherapierten Gesellschaft von Autofahrern erwächst, ist jedoch eher unwahrscheinlich. Pragmatischere Experten setzen größere Hoffnung auf eine verbesserte Fahrzeugsicherheitstechnik. Längst habe sich daher auch das Wirkungsfeld der Verkehrspsychologen verlagert, meint Alf Zimmer. »Wir fragen uns heute mehr: Wie soll und kann man intelligente Sicherheitslösungen gestalten?«

Schon befinden sich Systeme in der Erprobung, die allzu tollkühne Zeitgenossen zum sichereren Verhalten im Verkehr zwingen sollen: darunter Autos, die automatisch abbremsen, wenn der Abstand zum vorderen Wagen zu gering wird, oder gleich ganz blockieren, wenn der Fahrer eine Alkoholfahne in die Fahrzeugkabine bläst.

Dass die fortschreitende Sicherheitstechnik überzeugende Ergebnisse liefert, belegen denn auch die nackten Zahlen: Mit barbarischen, aber vergleichsweise langsamen und weit weniger Karossen verursachten die Deutschen in der alten Bundesrepublik des Jahres 1970 noch über 19 000 Verkehrstote. FRANK THADEUSZ

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