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GEOPHYSIK Am Puls des Planeten

Mit einem weltumspannenden Netz aus Messstationen horchen die Vereinten Nationen nach illegalen Atomwaffentests. Dabei entsteht ein einzigartiger Datenschatz für Erdbebenforscher, Meteorologen und Meeresbiologen - den diese jedoch aus politischen Gründen nicht heben dürfen.
aus DER SPIEGEL 17/2005

Florian Haslingers Aufgabe ist es, der Erde zu lauschen: Da grummelt und gluckst es, da rauscht und rumpelt es, wenn er dem Planeten bei seinen täglichen Verrichtungen zuhört.

Als gezackte Linien und schlichte Zahlenkolonnen laufen die Signale aus dem Klangkörper Erde über seinen Schreibtisch-Monitor in Wien. Die ganze Welt ist umspannt von Horchposten, und Haslinger sitzt im Zentrum dieses Netzes.

Der deutsche Geophysiker beobachtet, wie sich die Kugel unter dem Gezerre der Anziehungskräfte jeden Tag einen halben Meter wölbt und staucht. Er registriert, wie heiße Magmablasen aus dem Erdinnern emporsteigen. Aber auch, ob in einem chinesischen Bergwerk eine Sprengung stattfindet. Wenn er will, lauscht er einem Tiefflug-Manöver der Nato oder dem Gesang der Wale im Atlantik. »Was wir hier an Daten zusammentragen«, sagt er in aller Nüchternheit, »ist einzigartig.«

Dabei arbeitet der deutsche Forscher eigentlich in einer politischen Behörde. Unter dem Kürzel CTBTO überwacht diese Unterorganisation der Vereinten Nationen in Wien die Einhaltung des Atomwaffenteststopp-Vertrags, den bis zum heutigen Tag 175 Nationen unterzeichnet haben.

Die Logik ist schlicht: Wer Nuklearwaffen entwickelt, der wird dies im Verborgenen tun. Um Vertragsbrecher dennoch zu überführen, bedarf es deshalb extrem feinfühliger Messinstrumente, wie sie Haslinger und seine Kollegen bedienen.

In den letzten Jahren sind zu diesem Zweck über 200 Anlagen rund um den Globus installiert worden. Sie stehen in der mexikanischen Wüste, unter dem Antarktis-Eis, im Pazifik oder auch im Bayerischen Wald. Dort messen die Sensoren nicht nur seismische Erschütterungen, sondern auch Schallwellen in der Erdatmosphäre und in den Ozeanen sowie radioaktive Spurenstoffe in der Luft. »Dieses Netzwerk wird ständig erweitert und enger geknüpft«, sagt Haslinger. Am Ende sollen es 321 Stationen sein (siehe Grafik).

Seine Behörde hat dazu auch Zeit. Denn solange noch nicht alle Vertragsstaaten das Übereinkommen ratifiziert haben, befindet sich die CTBTO offiziell noch »im Aufbau«. Für Haslinger heißt das: Zwar wird gemessen, zwar werden die Überwachungsmethoden stetig verfeinert - doch wenn ein Atomwaffentest detektiert wird, bleibt das völkerrechtlich folgenlos.

Bis heute allerdings ist kein solches Ereignis über die Bildschirme in Wien geflimmert. Dafür aber erzeugt der ganz normale Pulsschlag der Erde Tag für Tag eine kaum überschaubare Fülle von Daten - ein Schatz, der für Wissenschaftler weit interessanter als für Politiker ist.

Jede einzelne Station zeichnet in jeder Sekunde rund 50 000 Bits auf und schickt diese über abhörsichere Satellitenleitungen nach Wien. 11,4 Gigabyte können so täglich übermittelt werden.

Eine ganze Kompanie von Forschern sitzt in der Uno-City daran, verdächtige Signale aus dem Datenmeer herauszufischen. Fast wie am Fließband laufen bei ihnen die gezackten Linien seismischer Ereignisse über den Bildschirm - davon gibt es allein 2000 natürliche jeden Tag; hinzu kommen Hunderte konventionelle Sprengungen durch den Menschen, die alle begutachtet und als unbedenklich erkannt werden müssen.

Ein Erdbeben unterscheidet sich deutlich von der Zündung eines atomaren Sprengsatzes. »Wenn die Erde grollt, schwingt sich die Erschütterung erst auf. Und es dauert anschließend auch länger, bis sich der Boden wieder beruhigt«, erklärt Haslinger und tippt zum Vergleich auf den seismischen Ausschlag eines alten Atomwaffentests aus dem Kalten Krieg. »Sehen Sie: Schlagartig zuckt die Aufzeichnungsnadel, dann aber ebbt das Signal schnell wieder ab.«

Bei einer heißen Spur im Wust der Zacken und Zahlen beginnt der zweite,

schwierigere Teil der CTBTO-Arbeit: Der präzise Ort eines Ereignisses muss lokalisiert werden, ehe ein Inspektionsteam in das entsprechende Land entsendet wird. »Meine Aufgabe ist es, die Computermodelle so weit zu verbessern, dass wir ihn bis auf wenige Kilometer genau bestimmen können«, erklärt Haslinger. Weil die seismischen Wellen unterschiedlich schnell durch verschiedene Arten Untergrund laufen, ergebe sich aus den Aufzeichnungen »quasi nebenher« ein immer genaueres Bild vom Innern der Erde.

An dieser Art Tomografie des Planeten sind viele Geowissenschaftler interessiert. Und nicht nur daran. »Die Besonderheit der Wiener Daten liegt darin, dass sie aus seismischen, Infraschall- und hydrologischen Messgeräten kombiniert werden können«, schwärmt Hein Haak, Chefseismologe des Königlich Niederländischen Meteorologischen Instituts bei Utrecht, das Messanlagen für die CTBTO betreibt.

Bei dem schweren Beben vor Sumatra etwa sei die Überlegenheit der Daten in Wien besonders augenfällig geworden. Eine hydroakustische Messstation im Indischen Ozean habe die hochfrequenten Schallwellen des Bebens aufgezeichnet, und zwar in zeitlich exakter Auflösung. »Die Daten waren so exakt, dass man genau verfolgen konnte, wie sich die Risse, ähnlich wie bei einer brechenden Eisschicht, durch den Meeresboden gezogen haben«, sagt Haak: »Das ist fast das erste Mal, dass wir das sehen konnten.«

Mit Hilfe der CTBTO-Daten war es auch möglich, eine Erschütterungskarte zu zeichnen, auf der klar zu erkennen war, dass sich der Meeresboden an den beiden Kontinentalplatten während des Bebens anhob - ein entscheidendes Indiz für die Entstehung eines Tsunami.

Noch ist kaum abzusehen, wie viele Geheimnisse in den Wiener Zahlenkolonnen noch schlummern. »Wir stehen erst ganz am Anfang, das Potential voll ausschöpfen zu können«, sagt Haak. So zeichnen die hydroakustischen Geräte die Walgesänge auf, mit denen sich ihre Wanderungsrouten bestimmen lassen könnten. Auch abbrechende Eisberge in der Antarktis entgehen den Mikrofonen nicht. Ebenso sind Explosionen von nur wenigen Kilogramm Sprengstoff, etwa von Dynamitfischern, hörbar. Die hydroakustischen Geräte könnten so eine umfassende Bilanz über den Geräuschpegel in den Weltmeeren erstellen, einschließlich der brüllend lauten Sonare von Kriegsschiffen und U-Booten.

Vor allem aber könnten die Aufzeichnungen der Infraschall-Stationen für Überraschungen sorgen. »Das ist noch ein ganz junges wissenschaftliches Feld«, sagt Manfred Henger, der das deutsche System an der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) betreibt.

In dem für den Menschen nicht hörbaren Frequenzbereich breiten sich Schallwellen in der Erdatmosphäre mit großen Reichweiten aus. Einiges, was die Messsonden auffangen, ist bekannt: »Wir registrieren den charakteristischen Knall von Überschalljets, das Eindringen von Meteoriten, aber auch das Abfackeln von Gas auf den Förderplattformen in der Nordsee«, sagt Henger.

Beim Absturz des US-Space-Shuttles »Columbia« etwa konnte mit den Infraschall-Daten der CTBTO der genaue zeitliche Ablauf der Explosion rekonstruiert werden.

Aber die Sensoren zeichnen noch vieles andere auf, das bislang unverständliches

Rauschen ist. »Manchmal kommen wir uns vor wie Neugeborene, die das Sehen lernen«, so Henger.

So entstehen auf der windabgewandten Seite von Bergen bestimmte Schallwellen, die Meteorologen helfen könnten, gefährliche Wetterlagen zu erkennen. Auch Nordlichter verursachen ein charakteristisches Muster im Infraschall-Bereich. »Ich bin sicher, dass wir mit den CTBTO-Daten noch viele unbekannte Phänomene in der Atmosphäre entdecken könnten«, pflichtet auch der Niederländer Haak bei.

Doch dazu wird es vermutlich in den nächsten Jahren nicht kommen, fügt er »mit größtem Bedauern« hinzu. »Denn bislang dürfen wir die Daten an die Wissenschaftsgemeinde nicht weitergeben.«

Grund dafür ist die große Weltpolitik. Noch immer ist der Teststopp-Vertrag nicht rechtsgültig. Zu den säumigen Staaten, die entweder noch gar nicht unterschrieben oder nicht ratifiziert haben, zählen machtpolitische Schwergewichte wie China und Indien, Pakistan, Iran, Ägypten und Israel. Und allen voran: die USA.

»Keiner dieser Staaten wagt es, den ersten Schritt zu machen und zu unterschreiben«, sagt Wolfgang Hoffmann. Er ist der eigentliche Hüter des Datenschatzes und der Exekutivsekretär der CTBTO. Der Berliner ist ein Diplomat alter Schule mit selbstgebundener Fliege und Einstecktuch, geübt im Taktieren. »Wenn die USA ratifizieren würden, hätte das einen Dominoeffekt auf die anderen«, sagt er.

Um keinen ihrer säumigen Kandidaten einen Vorwand zu geben, nicht zu ratifizieren, hält sich die CTBTO peinlich genau an den Vertragstext. Darin wird schriftlich zugesichert, dass die Daten äußerst restriktiv und diskret gehandhabt werden. Besonders China legt größten Wert auf die Einhaltung dieser Bestimmung.

Im Falle Deutschlands heißt das: Die von der CTBTO vorbearbeiteten Daten aller Messstationen bekommt lediglich die BGR, und das ausschließlich für interne Zwecke. Bittet eine Universität um Dateneinsicht, muss die Bundesanstalt ablehnen.

Nun jedoch könnte ausgerechnet das Tsunami-Desaster in Asien für Bewegung sorgen. Die Daten, so viel ging den Wissenschaftlern in Wien und anderswo auf, könnten von großer Bedeutung beim Aufbau eines Frühwarnsystems sein.

Auf den kommenden Treffen der Unterzeichnerstaaten soll darüber verhandelt werden, wie die Daten schneller in ein Notfallsystem eingespeist werden könnten. Derzeit muss eine Katastrophe schon während der normalen Arbeitszeit der Uno-Beamten stattfinden, damit Daten nach außen dringen.

Als am 26. Dezember 2004 der Meeresgrund im Indischen Ozean bebte, war das Wiener Personal im Weihnachtsurlaub. GERALD TRAUFETTER

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