
Ampel-Koalitionsvertrag Endlich konservative Digitalpolitik


Jens Schlueter / Getty Images
In Deutschland gibt es etwas, das viele andere Länder nicht zu bieten haben und es hat, so seltsam das auch klingen mag, mit Digitalisierung zu tun. Eine der ältesten Organisationen für digitale Bürgerrechte ist vor Kurzem vierzig Jahre alt geworden, was im Bereich digitaler Technologie eine Ewigkeit ist. Sie heißt Chaos Computer Club (CCC).
Diese lange Tradition von politischer Auseinandersetzung mit digitaler Technologie und Vernetzung brachte schon früh Werte hervor, die man heute »traditionell« nennen muss. Man findet sie noch immer unter der Überschrift »Hackerethik« auf der Website des CCC: Es handelt sich um acht Grundprinzipien, von denen sechs aus dem historischen Sachbuch »Hacker – Helden der Computerrevolution« des US-Journalisten Steven Levy stammen, ergänzt um zwei Regeln, die sich CCC-Gründer Wau Holland in den Achtzigern ausdachte.
Diese acht Gebote beschwören einen idealistischen, optimistischen Geist, den Geist einer freien, fairen digitalen Welt in der man »mit Computern Kunst und Schönheit schaffen« kann, und »Computer dein Leben zum Besseren verändern«.
Traditionelle Werte bewahren
Eine Politik, die sich an solchen Idealen orientiert, müsste eigentlich konservative Netzpolitik genannt werden, schließlich geht es um das Bewahren traditioneller Werte. Vierzig Jahre nach der CCC-Gründung scheinen diese Werte zum ersten Mal auch die Pläne einer künftigen Bundesregierung zu leiten.
Es soll jetzt also konservative, werteorientierte Netzpolitik geben in Deutschland. Dass es wirklich so kommen könnte, hat viel mit Personal zu tun.
Hier sind, zur Illustration, zwei Gebote aus der »Hackerethik«:
»Alle Informationen müssen frei sein.«
»Öffentliche Daten nützen, private Daten schützen.«
Und hier ein paar Sätze aus dem Ampel-Koalitionsvertrag:
»Für öffentliche IT-Projekte schreiben wir offene Standards fest.«
»Wir führen einen Rechtsanspruch auf Open Data ein und verbessern die Datenexpertise öffentlicher Stellen.«
»Wir fördern Anonymisierungstechniken, schaffen Rechtssicherheit durch Standards und führen die Strafbarkeit rechtswidriger De-anonymisierung ein.«
Hier noch einer von Wau Hollands Sätzen:
»Mülle nicht in den Daten anderer Leute.«
Und hier noch ein paar aus dem Koalitionsvertrag:
»Wir führen ein Recht auf Verschlüsselung, ein wirksames Schwachstellenmanagement, mit dem Ziel Sicherheitslücken zu schließen, und die Vorgaben ›security-by-design/default‹ ein.«
»Das Identifizieren, Melden und Schließen von Sicherheitslücken in einem verantwortlichen Verfahren, z. B. in der IT-Sicherheitsforschung, soll legal durchführbar sein. Hackbacks lehnen wir als Mittel der Cyberabwehr grundsätzlich ab.«
Offene Standards, Open Source, echte Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, Verbot von Gesichtserkennung im öffentlichen Raum, Breitbandausbau, Verbot von automatisierter Beurteilung durch lernende Maschinen, Förderung für Spiele und Start-ups – das Kapitel »Digitale Innovation und digitale Infrastruktur« liest sich in weiten Teilen wie eine alte Weihnachtswunschliste deutscher Netzaktivisten.
Netzaktivist – bislang war das in Deutschland eine Betätigung für Menschen mit extrem hoher Frustrationstoleranz.
Man muss sich diese Ministerlisten in Erinnerung rufen
Man darf nicht vergessen, dass die Liste der deutschen Innenminister der vergangenen 16 Jahre so aussieht: Wolfgang Schäuble (CDU), Thomas de Maizière (CDU), Hans-Peter Friedrich (CSU), Thomas de Maizière (CDU), Horst Seehofer (CSU).
Seit es ein Ministerium für »Verkehr und Digitale Infrastruktur« gibt, seit 2013 also, hießen die Minister Alexander Dobrindt (CSU), Christian Schmidt (CSU) und Andreas Scheuer (CSU). Mehr als diese Namen braucht es nicht, um das ganze Elend zu illustrieren.
Das kolossale Versagen der Merkeljahre in Sachen Digitalisierung und digitale Bürgerrechte ist vor allem das Versagen der Unionsparteien (unterstützt durch die Schwäche der Sozialdemokraten). Wobei auch die FDP sich in der schwarz-gelben Koalition nicht mit Ruhm bedeckte und etwa einen Breitband-Universaldienst verhinderte, mit dem es heute womöglich weniger weiße Flecken auf der Netz-Landkarte gäbe.
Vorsichtige Erleichterung
16 Jahre Merkel, das war fürs Digitale eine bleierne, lähmende Zeit. Ein ums andere Mal machten Regierungen Netzgesetze, die dann das Verfassungsgericht wieder kassieren musste. Netzpolitik war in diesen 16 Jahren fast immer: Überwachungs-, Gängelungs- und Repressionspolitik. Die anlasslose Massenüberwachung durch NSA und Co. wurde ausgesessen, der Breitbandausbau verschlafen, digitale Spiele verteufelt, Hacker pauschal kriminalisiert, digitale Plattformen erst ignoriert und dann hilf- und zahnlos reguliert.
Jetzt schreibt Markus Beckedahl, Gründer des Blogs Netzpolitik.org und seit bald 20 Jahren Netzaktivist in einem Kommentar zum Koalitionsvertrag : »Wir leben in spannenden Zeiten. Aber jetzt gibt es etwas mehr Hoffnung, dass sich unsere langjährige Arbeit endlich auszahlt und eine lebenswertere digitale Gesellschaft möglicher erscheint.« Der Koalitionsvertrag enthalte »zahlreiche Sätze, die man gerne unterschreiben will«.
Da paart sich vorsichtige Erleichterung mit der Skepsis desjenigen, der seit vielen Jahren den gleichen, sehr frustrierenden Kampf kämpft. Ist der digitale Generationenkonflikt womöglich tatsächlich vorüber?
Warum man das ernstnehmen sollte
Sicher: Was in einem Koalitionsvertrag steht, ist zunächst einmal nur ein Versprechen. Aber dieses Versprechen kommt jetzt zumindest von Leuten, denen man glauben kann, dass sie es ernst meinen, und zwar quer durch die Koalitionsparteien.
Tatsächlich sind die größten Antagonisten innerhalb des Dreierbundes, Grüne und FDP, sich vermutlich nirgends näher als beim Thema digitale Bürgerrechte. In Deutschland gibt es schon seit vielen Jahren eine Art informellen, überparteilichen Club der verzweifelten Digitalpolitiker und -politikerinnen, die immer wieder mit ihren Ideen an den Bleiministern aus CDU und CSU scheiterten. Einige von ihnen saßen jetzt gemeinsam in der Arbeitsgruppe »Digitale Innovation und digitale Infrastruktur«.
Kennen Sie den?
Sie alle kennen sich, aus Gremien wie den Ausschüssen »Digitale Agenda«, den Enquete-Kommissionen für Künstliche Intelligenz und »Internet und Digitale Gesellschaft«, dem NSA-Untersuchungsausschuss. Jens Zimmermann war zum Beispiel bislang digitalpolitischer Sprecher der SPD und ist ein Freund des digitalen Sports . Zwei der profiliertesten Digitalisierungsfachleute der SPD fehlen allerdings in der Runde, weil sie anderswo gebraucht wurden : Sie heißen Saskia Esken und Lars Klingbeil.
Der Grüne Malte Spitz wurde 2009 international bekannt, weil er die über ihn selbst auf Vorrat gespeicherten Handydaten von OpenDataCity und der »ZEIT« auswerten und veröffentlichen ließ , heute ist er Generalsekretär der Bürgerrechtsorganisation »Gesellschaft für Freiheitsrechte« . Jan-Philipp Albrecht ist einer der Architekten der EU-Datenschutzgrundverordnung, Anna Christmann eine hervorragend vernetzte Fachfrau für künstliche Intelligenz.
Die FDP schickte mit Manuel Höferlin einen digitalpolitischen Veteranen in die Verhandlungsgruppe, der sich seit vielen Jahren für digitale Bürgerrechte einsetzt und den »interfraktionellen Parlamentskreis« für eSports und Gaming gegründet hat, einen dieser informellen Treffpunkte der Digitalpolitikerinnen und -politiker. Sein Fraktionskollege Mario Brandenburg kommt von SAP.
Der Name eines weiteren FDP-Unterhändlers kommt ihnen möglicherweise bekannt vor, und seine Präsenz in dieser Runde sagt vielleicht am deutlichsten, wie weit weg von den Merkeljahren die deutsche Digitalpolitik der kommenden vier Jahre sein könnte: Bernd Schlömer war früher einmal Bundesvorsitzender der Piratenpartei.