Rätselhafter Fund aus der Jungsteinzeit Die Kopflosen von Vráble

Ihre Gebeine lagen kreuz und quer, doch die Schädel sind verschwunden: Archäologen sind in der Slowakei auf ein seltsames Grab gestoßen. Wer waren die Toten aus der Jungsteinzeit?
Blick auf die Grabungsfläche: Einige der Toten lagen auf der Seite, andere auf dem Rücken

Blick auf die Grabungsfläche: Einige der Toten lagen auf der Seite, andere auf dem Rücken

Foto: Prof. Dr. Martin Furholt / Uni Kiel

Die Menschen der Steinzeit gingen nicht gerade zimperlich mit den Knochen Verstorbener um. Doch worauf Archäologinnen und Archäologen im slowakischen Vráble gestoßen sind, überrascht selbst Forschende.

Am Rande einer etwa 7000 Jahre alten Siedlung legte ein Grabungsteam die Skelette von 38 Menschen frei. Einige der Toten lagen auf der Seite, andere gestreckt auf dem Bauch oder auf dem Rücken, die Gliedmaßen abgespreizt. Ein entscheidendes Körperteil fehlte fast immer: der Schädel.

Die Archäologinnen und Archäologen hatten Mühe, überhaupt festzustellen, wie viele Menschen in dem Grab lagen. »Bei Massengräbern mit unübersichtlicher Fundlage orientiert sich die Identifizierung eines Individuums meist am Schädel«, erklärt Projektleiter Martin Furholt von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU). Das Kieler Forschungsteam untersucht den Fundplatz gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen vom Archäologischen Institut der Slowakischen Akademie der Wissenschaften (Nitra).

Von den Köpfen der Verstorbenen fehlt jede Spur

Von den Köpfen der Verstorbenen fehlt jede Spur

Foto: Dr. Till Kühl / Uni Kiel

Die Toten im Graben

Der Fundplatz in Vráble interessiert Forschende schon seit Jahren, lag hier doch einst eine Art Megasiedlung der Jungsteinzeit. Geomagnetische Untersuchungen haben inzwischen mehr als 300 Häuser offenbart, die sich drei Dörfern zuordnen lassen. Der Fundplatz ist damit einer der größten bekannten Siedlungen der frühen Jungsteinzeit in Zentraleuropa.

Etwa zwischen 5250 und 4950 vor Christus lebten dort Menschen, die ihre Keramiktöpfe mit Bändern aus Linien verzierten, weshalb Archäologen sie heute der sogenannten Linearbandkultur zuordnen.

In diesem Sommer arbeitete sich das Grabungsteam aus Deutschland und der Slowakei durch einen 1,3 Kilometer langen Doppelgraben, der das südwestliche Dorf umschloss. Zur Verteidigung taugte der Graben offenbar nicht. Die Archäologen vermuten eher, dass sich die Dorfgemeinschaft von den anderen abgrenzen wollte. Warum, ist unklar.

So könnten die Dörfer einst ausgesehen haben, zeitgleich waren bis zu 80 Häuser bewohnt, eine ungewöhnliche Ballung für die Jungsteinzeit

So könnten die Dörfer einst ausgesehen haben, zeitgleich waren bis zu 80 Häuser bewohnt, eine ungewöhnliche Ballung für die Jungsteinzeit

Foto: Karin Winter / Uni Kiel

Auf einer etwa 15 Quadratmeter großen Fläche in dem Graben lagen die meist kopflosen Skelette. Nur bei einem war der Schädel dabei, das Skelett gehört zu einem Kleinkind. Wo die übrigen Schädel geblieben sind, weiß niemand.

Dass Menschen in der Jungsteinzeit aus heutiger Sicht makabre Begräbnisriten pflegten, ist lange bekannt. Mit großem Aufwand bearbeiteten unsere Vorfahren die Knochen von Toten. Sie zerhackten, zermahlten oder verkohlten menschlichen Überreste, ehe sie diese endgültig verscharrten. Nicht selten landeten Skelette auch in Gräben steinzeitlicher Siedlungen. Doch ohne Kopf, wie in Vráble? Das ist in diese Dimension bisher einzigartig.

»Das übertraf alle unsere Vorstellungen«

Schon bei vorherigen Ausgrabungen stießen die Archäologen in Vráble auf menschliche Knochen. »Wir haben mit weiteren menschlichen Skeletten gerechnet, doch dies übertraf alle unsere Vorstellungen«, sagt Furholt über den Fund, den die Universität nun bekannt gegeben hat. Doch wer waren die 38 Toten und wie starben sie? Das sollen nun weitere Untersuchungen klären.

Die Knochen beinhalten wichtige Informationen, die sich mithilfe moderner Technik entschlüsseln lassen. Das Forschungsteam versucht etwa, in den Knochen alte DNA zu sichern. Die Analysen des Erbguts könnten zeigen, ob die Verstorbenen verwandt waren.

3D-Scan der Mehrfachbestattung: Nur das Skelett eines Kindes wurde mit Kopf gefunden

3D-Scan der Mehrfachbestattung: Nur das Skelett eines Kindes wurde mit Kopf gefunden

Foto: Dr. Till Kühl / Uni Kiel

Erste Indizien sprechen für unappetitliche Praktiken, zumindest aus heutiger Sicht. Die Toten wurden wahrscheinlich nicht achtsam in den Graben gebettet, sondern in ihn hinein gerollt oder geworfen, als ihre Körper bereits verfaulten. Für diese Theorie sprechen zumindest einzelne Knochen, die sich schon vom Rest des Skeletts gelöst hatten, als sie in dem Graben landeten.

Wahrscheinlich starben die 38 Menschen auch nicht zeitgleich, sondern in größerem zeitlichem Abstand, möglicherweise gar über Generationen hinweg. »Möglicherweise wurden skelettierte Leichen in die Mitte des Grabens geschoben, um Platz für neue zu schaffen«, sagt Anthropologin Katharina Fuchs.

Warum die 38 Menschen gerade auf diese Weise beerdigt wurden, ist unklar. Am Rande der Siedlung gab es auch aus heutiger Sicht normale Gräber, die Beigaben enthielten.

Geköpft oder nur verfault?

Doch wie kamen die 38 Menschen zu Tode? Starben sie bei einem Massaker? Oder waren gar Kopfjäger am Werk? Die Archäologinnen und Archäologen wollen nun allen Spuren nachgehen.

Denkbar ist auch eine gewaltfreie Erklärung. »Bei einigen Skeletten ist der erste Halswirbel erhalten, was eher auf eine sorgfältige Abtrennung des Kopfes hinweist als auf Köpfung im gewalttätigen, rücksichtslosen Sinne«, sagt Fuchs. Demnach wären die Toten von Vráble nicht bei lebendigem Leib enthauptet worden. Doch wer entfernte die Köpfe später und zu welchem Zweck? Dienten die Schädel womöglich als Glücksbringer oder Trophäe?

»Es mag naheliegen, ein Massaker mit Menschenopfern, vielleicht sogar in Verbindung mit magischen oder religiösen Vorstellungen, zu vermuten«, sagt Maria Wunderlich von der CAU. Auch kriegerische Auseinandersetzung könnten eine Rolle spielen. »Unstrittig ist aber, dass dieser Fund für das europäische Neolithikum bisher absolut einzigartig ist.«

koe

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