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MEDIZIN Arme Arbeiter

In der Sowjet-Union sinkt die Lebenserwartung der erwachsenen Bevölkerung, die Säuglingssterblichkeit steigt dramatisch an. Woran liegt das?
aus DER SPIEGEL 31/1981

Sergej Burenkow, seit Dezember letzten Jahres sowjetischer Gesundheitsminister, blickte mürrisch in die achtziger Jahre. Der Mittfünfziger ist höchst unzufrieden: Zwar kommandiert der Technokrat ein Drittel aller Ärzte der Welt, fast 900 000 heilkundige Akademiker, doch was die bewirken, ist offenbar so blamabel, daß es dem Ober-Arzt die Zahlen verschlägt.

Seit 1971 hält das Gesundheitsministerium alle Daten über die durchschnittliche Lebenserwartung der Bevölkerung unter Verschluß. Die Säuglingssterblichkeit, der zweite verläßliche Indikator für die medizinische Qualität eines Gesellschaftssystems, wurde 1974 zum Staatsgeheimnis. Seither rühmte Boris Petrowski, gelernter Chirurg und 15 Jahre lang glückloser Vorgänger des neuen Mannes, den Segen seiner weißen Armee nur noch ganz allgemein. Beim Fluchen aber gehen Burenkow und Petrowski in die Einzelheiten. Beide beklagen mangelnde »Kultur der ärztlichen Versorgung«, fehlende Medikamente, Desorganisation bei der »Verwaltung der medizinischen Wissenschaft« und ein lahmes Rettungswesen (das offiziell »Schnelle Medizinische Hilfe« heißt).

Petrowski in seiner letzten Botschaft an die nachgeordneten Helfer: »Bessere Arbeit! Höhere Effektivität! Strengere S.148 Arbeitsdisziplin!« Dafür wird es höchste Zeit:

* Seit 1964 sinkt die Lebenserwartung der Sowjet-Bürger anscheinend unaufhaltsam, von durchschnittlich 68 Jahren auf nunmehr nur 62 Jahre;

* die Zahl der tödlich verlaufenden Herzinfarkte hat sich im gleichen Zeitraum mehr als verdoppelt. Besonders gefährdet: die »Männer in den besten Jahren«;

* die Säuglingssterblichkeit, 1971 22,9 pro 1000 Lebendgeborene, ist auf mindestens 28 angestiegen, nach Berechnungen amerikanischer Experten sogar auf nahezu 40 pro 1000 (USA: 15,6; Bundesrepublik: 13,5; Schweden: 8,6).

Die harten Daten bestätigen nur die Erfahrungsberichte sowjetischer Patienten aus dem Alltag der Medizin. In vielen Krankenhäusern herrscht Schlendrian, legen Ärzte und Pfleger nur Hand an, wenn vorher ein Trinkgeld gegeben wird.

Fernab der Metropole Moskau wurden Doktoren erwischt, als sie Gips und Binden auf den schwarzen Markt trugen. Daß der Patient seine Krankschreibung dem Medicus mit Naturalien und Rubeln danken muß, gehört zum Basiswissen jedes Karikaturisten.

Nichts zu lachen hat Burenkow, der jahrelang als zweiter Mann und graue Eminenz des Moskauer Gesundheitsministeriums amtierte, wenn er an den Hygienestandard in den Krankenhäusern denkt. Der ist mit dem vom Minister benutzten Begriff »mangelhaft« charmant umschrieben.

Im Kampf gegen die Mikroben verläßt sich das Personal am liebsten auf die natürliche Widerstandskraft des menschlichen Organismus. Die Kinderabteilung eines großen Leningrader Krankenhauses hat sich noch etwas anderes einfallen lassen. Sie ist durch zwei nebeneinanderliegende Türen zugänglich. Auf der einen steht »Nur für gesunde Kinder«, auf der anderen »Nur für kranke Kinder« -- beide Türen führen in denselben Warteraum.

Alles in allem, urteilt der amerikanische Medizinprofessor Leonard Weyl von der Georgetown University in Washington nach einer ausgedehnten Besichtigungsreise, habe die Sowjet-Union auf medizinischem Gebiet gegenüber den USA einen Rückstand von 45 Jahren. In der Chirurgie würden Praktiken angewandt, die in westlichen Ländern schon in den dreißiger Jahren aufgegeben wurden. Auch die modernsten Kliniken seien »nach amerikanischen Maßstäben völlig unzureichend«.

Die auch für ausländische Besucher offensichtlichen Mängel sind jedoch nur ein Aspekt der Misere. Zur sinkenden Lebenserwartung der Erwachsenen und der immer höheren Sterblichkeit der Säuglinge tragen vor allem die sozialen und ökonomischen Strukturen der sowjetischen Gesellschaft bei.

So beruht die steigende Säuglingssterblichkeit vor allem auf der anstrengenden Berufstätigkeit werdender Mütter, auf der großen Zahl legaler Schwangerschaftsabbrüche, durchschnittlich sechs bis acht pro Frau, die als Mittel der Wahl zur Familienplanung gelten, und auf Alkoholmißbrauch. Das sind nach einhelliger Ansicht der Geburtshelfer drei Risikofaktoren, die sich in ihren Wirkungen noch gegenseitig verstärken.

Arbeiterinnen haben deshalb die schlechtesten Chancen, ein gesundes Baby zur Welt zu bringen und es großzuziehen: 56 Tage nach der Entbindung endet der Mutterschaftsurlaub. Wer sein Kind im ersten Lebensjahr zu Hause selbst versorgen will -- erfahrungsgemäß fördert das die körperliche und seelische Entwicklung eines Neugeborenen am besten --, der muß beträchtliche finanzielle Einbußen hinnehmen: In einem Arbeiterhaushalt halbiert dieser Entschluß das ohnehin geringe Familieneinkommen. Wird das kleine Kind aber notgedrungen in eine Krippe gebracht, so steigt sein Risiko, an einer Infektion oder einem Ernährungsschaden zu erkranken, auf das Zwölffache.

In Zukunft, hat jedenfalls der 26. Parteitag der KPdSU dem arbeitenden Volk versprochen, sollen Mütter ein Jahr lang nach der Geburt zu Hause bleiben dürfen, monatlich alimentiert mit 50 Rubeln (einem durchschnittlichen Wochenlohn). Diese Zukunft hat freilich noch nicht begonnen.

Allerlei überkommenen und ein paar neuen Übeln sieht sich das sowjetische Gesundheitswesen auch bei seiner erwachsenen Kundschaft konfrontiert -der schlimmste Feind heißt König Alkohol. Zwar ist, nach einer alten Ärzteweisheit, »Schnaps gut für die Arterien«, weil er, in Maßen genossen, ihre Verkalkung verlangsamt. Doch die Kombination von Nikotin, psychosozialem Streß, fettreicher Fehlernährung, Bewegungsmangel und dem ritualisierten Wodkamißbrauch schon am Vormittag ist offenbar für immer mehr russische Herzkranzgefäße einfach zuviel: Der Infarkt hat sich zu einer Epidemie ausgewachsen mit jährlichen Steigerungsraten, die nirgendwo anders registriert werden (siehe Graphik).

Ein funktionierendes Gesundheitswesen mit Intensivstationen, mobilen Rettungstrupps, Infusions- und Sauerstofftherapie schon in den ersten Minuten nach einem Infarkt kann die Sterblichkeit der Opfer -- wie ausgedehnte Studien in zahlreichen westlichen Ländern beweisen -- nur unwesentlich senken. Erfolgreich bekämpfen läßt sich der bedrohliche Durchblutungsstopp im hohlen Muskel Herz vor allem durch Prophylaxe: Wem es gelingt, die Risikofaktoren zu vermindern, der darf S.149 auf ein längeres Leben hoffen, in West und Ost gleichermaßen.

Alle Kampagnen des sowjetischen Gesundheitswesens, die kollektiven, den Infarkt fördernden Verhaltensweisen zu ändern, sind jedoch glanzlos gescheitert. In jeder hierarchischen Etage der Gesellschaft, von der hart arbeitenden Holzfällerbrigade bis hin zum schwer gestreßten Politbüro, wird um die Wette geraucht, getrunken und gegessen. Mit Burenkows Macht ist dagegen nichts getan.

Auch gegen Lärm und Luftverschmutzung ist der Minister, der nun alles besser machen soll, hilflos. In den neuen Industriezentren wird wenig Rücksicht genommen auf die Gesundheit des Volkes. Vorrang hat die Produktion. In den Ballungszentren der Sowjet-Macht ist die Herzinfarktrate deshalb am höchsten, die Lebenserwartung der Bürger am niedrigsten.

Gesunken ist, seit 1965, auch der Anteil des Bruttosozialprodukts, der für das Gesundheitswesen aufgewendet wird: Damals, Nikita Chruschtschow hatte seinen Herzinfarkt noch vor sich, gab man 6,6 Prozent für das Gesundheitswesen aus. Jetzt, während dem Herzen Leonid Breschnews von einem amerikanischen Schrittmacher der Takt vorgegeben wird, sind es gerade noch 5,2 Prozent.

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