LANDWIRTSCHAFT Asyl für Wollsau und Rotvieh
Als der schottische Seemann Alexander Selkirk, Vorbild für den Romanhelden Robinson Crusoe, im Jahre 1704 auf einer unbewohnten Insel 600 Kilometer vor der chilenischen Küste zurückblieb, hatte er Glück im Unglück: Auf dem felsigen Eiland kletterten kleine braune Ziegen - die Ernährung des Mannes war gesichert.
295 Jahre später, im April 1999, landete der Biologe und Haustierpark-Direktor Jürgen Güntherschulze bei steifer Brise in einem Sechssitzer-Flugzeug auf der - inzwischen bewohnten - Insel. Sein Anliegen belustigte die Einheimischen: Güntherschulze fing einige der wilden Ziegen auf der Inselgruppe ein, um sie als lebenden Genpool nach Europa zu verfrachten. Von dort waren die Tiere ursprünglich gekommen: Der spanische Seefahrer Juan Fernández hatte die robusten Fleisch- und Milchziegen 1563 als Nahrungsreserve für seine Mannschaft ausgesetzt.
In Deutschland wartete Gesellschaft auf die Juan-Fernández-Ziegen aus dem Pazifik: In seinem Haustierpark in Warder bei Kiel wollte Güntherschulze sie mit den 22 einzig überlebenden europäischen Exemplaren ihrer Rasse verkuppeln. Diese hatten infolge jahrzehntelanger Inzucht Probleme bei der Fortpflanzung.
Reisefreudig wie Güntherschulze sind in Deutschland über 70 weitere Betreiber so genannter »Arche-Höfe«. Auf der Suche nach geeigneten Zuchttieren fahren sie von Hof zu Hof oft Hunderte von Kilometern durch die Republik. Ihre Mission: Sie wollen jenen Rassen Asyl bieten, für die sich die industrialisierte Landwirtschaft schon lange nicht mehr interessiert, weil sie nicht einseitig auf Leistungen wie Milch, Fleisch oder Wolle getrimmt sind.
Die Gesellschaft zur Erhaltung alter und gefährdeter Haustierrassen (GEH) aus Witzenhausen bei Kassel führt auf ihrer Roten Liste 84 gefährdete Nutztierrassen wie etwa das Exmoor-Pony, die Weiße Gehörnte Heidschnucke oder das mit nur noch 40 Exemplaren extrem seltene Vogtländische Rotvieh. Die Namen verraten oftmals einiges über Herkunft und Aussehen der Tiere: So lebte die Hinterwälder Kuh einst in großen Herden auf den hoch gelegenen Weiden im Schwarzwald, wo ihre Klauen und das geringe Gewicht - durchschnittlich nur 420 Kilogramm - kaum Schäden an der empfindlichen Grasnarbe hinterließen.
Die Diepholzer Gänse wurden einst im Frühjahr zu Tausenden von den Bauern rund um den niedersächsischen Ort Diepholz auf die Feuchtwiesen getrieben, wo sie sich auf dem sauren Boden von Moorgras ernährten. Und das schwalbenbäuchige Wollschwein aus Ungarn ist dank seines lockigen Fells (oben dunkelgrau, am Bauch weiß) winterfest und feuchteunempfindlich.
Diese und andere Schweine- und Rinderrassen lebten jahrhundertelang in ihren Heimatregionen - bis seit den vierziger Jahren die künstliche Besamung ihre Zucht revolutionierte. Heute beherrschen spezialisierte Milch-, Eier- und Fleischproduzenten die Viehwirtschaft. Rund die Hälfte aller 15 Millionen deutschen Rinder beispielsweise sind inzwischen weiß gescheckte Schwarzbunte.
Die GEH fördert deshalb die Lebenderhaltung der alten Nutztiere. Ihre Erbanlagen sind züchterisch weniger beeinflusst. Sie gelten als genügsam, widerstandsfähig und langlebig. Zudem betrachten die Arche-Bauern ihre Tiere als lebendige Kulturgüter. »Diese Rassen sind ebenso erhaltenswert wie Kirchen, alte Gemäuer oder Gemälde«, verkündet GEH-Geschäftsführerin Antje Feldmann. »Sie sind ein Spiegelbild der regionalen Kultur.«
Dem Bäckermeister und Arche-Bauern Jan Teerling, 65, aus Suhlingen bei Diepholz ist es beispielsweise zu verdanken, dass die Moorschnucke den Jahrtausendwechsel überlebte. Das Schaf mit den nässeunempfindlichen Klauen (Teerling: »Bei allen anderen Rassen verfaulen hier die Füße") prägte in den vergangenen Jahrhunderten viele norddeutsche Feuchtgebiete. Junge Birken, Heidekräuter und Moorgräser gehören zu seiner Nahrung. Sein Hunger bewahrt so die charakteristischen Landschaften vor dem Verbuschen.
Doch weil die Schnucken im Vergleich zu schneller wachsenden Schafen zu wenig Fleisch auf die Waage bringen, wurden sie von den Zuchtverbänden nach und nach vergessen. 1975 hatte sich ihre Zahl von ursprünglich einer Million auf nicht einmal 300 reduziert - bis Teerling begann, in ganz Deutschland übrig gebliebene Tiere aufzukaufen. Sein Schäferhof ist inzwischen auf rund 1500 Schnucken gewachsen. Als offizielle Landschaftspflegeherde beweiden sie jetzt ein Moor-Naturschutzgebiet.
Auch Güntherschulzes verwilderte Ziegen haben »haustierkundlich hoch interessante Eigenschaften«, wie der Biologe betont: Zum einen besitzen sie im Gegensatz zu ihren hochgezüchteten Verwandten noch die genetische Vielfalt ihrer Urahnen. Zum anderen haben die harten Lebensbedingungen auf der Pazifikinsel sie perfekt abgehärtet gegen Wind, Regenzeit, heiße Sonne und raue, unwirtliche Böden - Klimaverhältnisse, die in vielen Regionen der Erde die Aufzucht von Ziegen erschweren. »Die aufwendige Suche nach Zuchttieren ist keine Spinnerei«, versichert der Biologe, der in seinem Tierpark 150 seltene Nutztierrassen hält.
»Die alten Rassen sind sehr gut an bestimmte örtliche Bedingungen angepasst und damit eine Absicherung gegen Hunger, Dürren oder Epidemien«, schwärmt auch Keith Hammond, scheidender Chef für tiergenetische Ressourcen bei der Welternährungsorganisation FAO. Vor wenigen Wochen erst schickte Hammond den Appell um die Welt, die vom Aussterben bedrohten Nutz- und Haustierrassen zu schützen. Von den 6400 bei der FAO registrierten Rassen sind 740 bereits ausgestorben, 40 Prozent der noch lebenden gelten als akut in ihrem Bestand gefährdet; jede Woche gehen zwei Nutztierrassen verloren.
Da die wachsende Weltbevölkerung - vor allem in den Entwicklungsländern - laut FAO in den nächsten 20 Jahren mehr als doppelt so viel Fleisch, Eier und Milch brauchen wird wie heute, ist sie auf widerstandsfähige Rassen angewiesen. Die FAO wird deshalb in Kürze alle 180 Mitgliedstaaten auffordern, an den Erhaltungsprogrammen für einen »Weltzustandsbericht für tiergenetische Ressourcen« mitzuarbeiten.
In Deutschland fördern einige Bundesländer die Zucht lokaler Haustierrassen. Zudem verpflichten sie die Besamungsstationen, Spermien bedrohter Nutztiere einzufrieren. Die GEH betrachtet die so genannte Kryokonservierung als »unterstützende Ergänzungsmaßnahme«. So lagern in ihren Genreservebeständen über 1000 Sperma-Portionen des bedrohten Rotvieh-Rinds und 400 Embryos der Angler-Rinder. Für GEH-Chefin Feldmann ist die »Labor-Erhaltung« jedoch nur Notbehelf. Ihr Credo lautet: »Die Tiere sollen leben.«
Mit dieser Idee stürzten sich auch Claudia Talaga, 35, und Dieter Gruner, 52, in das Abenteuer Arche-Hof. 1993 kauften die Krankenpfleger aus Berlin einen Resthof im schleswig-holsteinischen Krumstedt. Als Arche-Bauern züchteten sie später Hinterwälder Rinder, von denen nur noch 4000 Tiere existieren. Seit 1999 ist ihr Hof auch Bioland-Betrieb. Auf der Wiese vor der renovierten Scheune leben Peking-Enten und Cröllwitzer Puten - alles bei der GEH gelistete Tiere. Die rosa-schwarz gestreiften Angler Sattelschweine - früher die am meisten verbreitete Schweinerasse in Schleswig-Holstein, heute stehen noch rund 50 Sauen im Herdbuch - suhlen sich im Sommer im Schlamm.
Im Winter teilen sich Sau, Eber und Ferkel einen Stall. »Die Bauern in der Nachbarschaft sagen dazu nur: ,Ihr spinnt, der Eber beißt euch doch alle Ferkel tot'«, berichtet Gruner, »doch so was passiert bei den alten Rassen nicht.« Ihr Fleisch schmeckt kräftiger und ist stärker marmoriert als gewöhnliches Supermarktfleisch. »Tja«, erklärt Talaga den überraschten Kunden, »so sollte Schwein eigentlich schmecken.« Denn den Sattelschweinen hat im Gegensatz zu den Edelschweinen der Massentierhaltung niemand mit dem unbeliebten Randfett auch das wertvolle Muskelfett weggezüchtet.
Gruner-Kälber ernähren sich ausschließlich von Muttermilch und Heu und kommen mit zehn Monaten zum Schlachter. Im Selbstvertrieb verkaufen die Arche-Bauern halbe oder viertel Rinder für 21 Mark das Kilogramm, für Pekingenten verlangen sie pro Kilogramm 16 Mark. Doch in den Genuss der Delikatesse kommt nur, wer lange Zeit im Voraus bestellt: Monate vor dem Schlachttermin sind Gruners Rinder bereits verkauft. »Zucht nach Nachfrage« lautet das Motto des Züchter-Paars, »die alten Rassen wachsen eben nicht so schnell. Hier läuft alles etwas langsamer.«
Leben können die Autodidakten von dieser Form der Viehzucht nicht, beide arbeiten nebenher voll in ihrem Beruf. Doch so sehr die Landwirte in der Umgebung die »Ökos aus Berlin« mitsamt ihren urigen Tieren auch verspotten, Gruner ist überzeugt, eine Nische gefunden zu haben. »Unsere Rassen sind besonders und schmecken auch so«, sagt er. »Nur indem wir uns als Feinschmecker-Bauern von der üblichen Viehwirtschaft absetzen, haben wir eine Chance auf dem Markt.« Dieses Jahr, so hofft das Arche-Paar, soll der Hof sich erstmals selbst tragen. »BSE kommt uns da natürlich zugute«, erklärt Talaga, »die Nachfrage nach unserem Fleisch steigt wie verrückt.«
Das GEH-Motto »Erhalten durch Aufessen« scheint zu funktionieren: Je gefragter die alten Rassen beim Verbraucher sind, umso mehr werden sie nachgezüchtet - und umso geringer ist ihr Risiko auszusterben. »Das Motto mag brutal klingen«, sagt GEH-Chefin Feldmann. »Aber hier geht es schließlich um Nutztiere. Mit der Delikatessen-Schiene haben wir schon viele bedrohte Rassen über den Berg gebracht.« Schäferhof-Besitzer Teerling kann das bestätigen: Seit er das Fleisch seiner Schafe mit dem EU-Emblem »Diepholzer Moorschnucke« bewerben darf, gehören neben Feinschmeckern auch »normale Leute aus der Umgebung« zu seiner Kundschaft. »Das ist schon seltsam«, wundert er sich, »erst seit die lokalen Rassen als Exoten gelten, kommen die Leute wieder auf den Geschmack.«
Der Haustierpark Warder schützt die bedrohten Rassen gleich auf zweierlei Art und Weise: Im Streichelhof wecken die lebendigen Tiere bei den Besuchern Sympathie für bedrohte Rassen, im Hofladen soll die Liebe durch den Magen gehen. Der Renner: essbare »Souvenirs« aus verwursteten Zootieren. KATJA TRIPPEL