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Aufbruch ins Schlaraffenland

Gentechnisch vergorenes Bier, koffeinfreie Kaffeepflanzen, Kartoffeln, die Skorpiongift enthalten, Käse, Wurst, Joghurt und Schokolade aus dem Bioreaktor - EG-Politiker in Brüssel haben ein furchterregendes Lebensmittelgesetz vorbereitet. Auf 340 Millionen Europäer rollt eine Welle erbgutmanipulierter »neuartiger Nahrung« zu.
aus DER SPIEGEL 10/1992

Ob''s außerdem Genuß verschafft, bleibt hin und wieder zweifelhaft.

Martin Bangemann ißt gern und reichlich. Mehr als 100 Kilo wiegt der Binnenmarkt-Kommissar der EG. Käse mag er, von Schimmelpilzen überzogenen Roquefort, abgehangenen Schinken, auch Sahne und Geselchtes und die von Hefe-Enzymen durchsetzten Produkte Brot und Bier.

Das reicht dem Schlemmer nicht. Nach Gen-Tomaten, die nie matschig werden, sehnt sich sein Gaumen, Milch will er trinken, die sich selbst konserviert. Nach Süßstoff, ausgeschwitzt von genmanipulierten Darmbakterien, trachtet sein Magen.

»Council Regulation on novel foods and novel food ingredients« heißt das EG-Gesetz, mit dem Bangemann zum Aufbruch ins gentechnische Schlaraffenland antreibt. Fast zwei Jahre haben die Kommissionsmitglieder an der Verordnung über biotechnisch hergestellte Nahrungsmittel herumgefeilt. Die jüngste Fassung, es ist die zehnte, wird in den nächsten Tagen vorgestellt.

Mit dem 18-Seiten-Papier, das von 1993 an im glatten Gang in die Gesetzgebung der nationalen Parlamente übergehen soll, ist der Biotech-Lobby auf ihrem wichtigsten Forschungsfeld ein Dammbruch gelungen. Konservenfabriken, Freß-Multis und Pizzabäcker werden in Zukunft ihre Speisen mit »synthetischen Substanzen, neuen und exotischen Rohstoffen« (EG-Gesetz) herstellen dürfen.

Der neue Speiseplan kommt für die Industrie gerade rechtzeitig. In 300 Tagen werden Europas Zollgrenzen geöffnet. Dänische rote Grütze kann dann ungehindert nach Griechenland rollen, spanischer Weinbrand die Irländer erwärmen.

Anders als technische Handelsware sperrt sich das der Natur entstammende Nahrungsmittel hartnäckig gegen die Logik der industriellen Produktion. Guter Käse nimmt sich Monate Zeit, um zu reifen, Milch will ständig sauer werden. Bei zu langen Transportwegen beginnen Obst und Gemüse zu gammeln. Vielerlei Schädlinge und Krankheiten bedrohen die Nutzpflanzen und mindern die Erträge.

Auf all diese Probleme haben die Erbgut-Manipulatoren Antworten parat. Über 30 Nutzpflanzen wurden bereits gentechnisch umgerüstet. Die Forscher arbeiten an Tabakstauden, die Unkrautvertilger in Dünger umwandeln, und Farb-Genen, die die Salami röten. In Zürich bemühen sich Biotechniker um das magenschonende Vorhaben, den Kaffeepflanzen das Koffein wegzuklonen.

Die transportfreundliche Anti-Matsch-Tomate haben Pflanzengenetiker aus Kalifornien gebaut. Sie schleusten ins Tomaten-Erbgut ein Fremd-Gen ein, das die Produktion des Reiferegulators Ethylen verhindert. Noch nach »120 Tagen an der Luft«, so die Experten, sei die Frucht »orangefarben« und fest. Mit Propylen begast, kann die Supertomate dann schlagartig zur Reifung gebracht werden.

Solche Nahrung aus den Gen-Labors dürfte bald die Regale der Supermärkte füllen. Das »Novel Food«-Gesetz der EG sieht keine Kennzeichnungspflicht für Gen-Speisen vor und lockert auf beängstigende Weise die bestehenden Einschränkungen und nationalen Zulassungsverfahren. »Das Gesetz ist ein Verbrechen«, meint die grüne EG-Parlamentarierin Hiltrud Breyer.

Der Haupteinwand der Kritiker richtet sich gegen Artikel eins der Verordnung. Demnach müssen gentechnisch erzeugte Lebensmittel nur dann ein gesondertes Prüfverfahren durchlaufen, wenn sie eine »fundamentale Veränderung« in ihrer Zusammensetzung oder ihrem Nährwert aufweisen.

Das aber ist nach Meinung der Gen-Ingenieure meist nicht der Fall. Chemisch gesehen, beteuern sie, sei es egal, ob zum Beispiel Käselab aus dem Magen von Kälbern gewonnen wird oder ob genmanipulierte Bodenpilze den Gerinnungsstoff ausbrüten. Die chemische Zusammensetzung bleibe gleich.

Gegen diese Ansicht sprechen dramatische Zwischenfälle mit der Gen-Technik. 1989 starben in den USA 27 Menschen nach Einnahme des Schlafmittels L-Tryptophan. Nachforschungen ergaben, daß die in dem Medikament enthaltenen Aminosäuren von genveränderten Bakterien erzeugt worden waren. Dabei war den Wirtstieren ein winziger Kopierfehler unterlaufen, der den Stoff in eine Todesdroge verwandelte.

Nach dem geplanten EG-Recht bleibt jedoch das Herstellungsverfahren völlig ausgeklammert. Nur das Produkt zählt. Ob der Stoff im Bioreaktor erzeugt oder traditionell gewonnen wurde, spielt keine Rolle. Fast alle Gen-Produkte werden somit handstreichartig in gesunde Naturkost umgelogen.

Mit dem Trick hat die Gen-Lobby endlich ihr Hauptziel erreicht: freie Hand beim Komponieren neuer Kunstspeisen, »die bisher noch nicht von Menschen konsumiert wurden« (EG-Gesetz).

Die rührigste Lobby in Brüssel ist die »Senior Advisory Group Biotechnology«, bestehend aus Vertretern von Gentech-Firmen wie Hoechst, ICI, Feruzzi, Monsanto, Rhone-Poulenc und Unilever. Gruppenchef Brian Ager verfügt als ehemaliger Mitarbeiter bei der EG-Generaldirektion Forschung und Technologie über beste Kontakte zu den Eurokraten.

Vor allem auf dem Feld der Hilfsstoffe und Nahrungsmittelzusätze - Pilze, Hefen, Enzyme, Aminosäuren - arbeiten die Gen-Ingenieure wie entfesselt. Diese Mikroben vergären, säuern und blähen seit Jahrtausenden im Dienst der Menschheit.

Bislang steigerte die Industrie die Schlagkraft ihrer »Starterkulturen« für Käse, Bier, Wein oder Joghurt mit raffinierten Zuchtmethoden. Dabei werden die biologischen Helfer mit UV-Licht bestrahlt. Die entstehenden Mutationen werden sorgsam selektiert, auf ihre Eigenschaften hin überprüft und so über Generationen zu »Hochleistungsstämmen« entwickelt.

Beispiel: Saccharomyces cerevisiae, die Bierhefe. Diese dralle, noppenüberzogene Mikrobe brauchte im Mittelalter noch zwölf Tage, um Bier zu vergären. Infolge besserer Gärtechniken und nach unzähligen UV-Bombardements schafft der Einzeller seine Arbeit heute in sechs Tagen.

Die Gen-Technik verspricht weitere Leistungsschübe. Sogenannte explodierende Starterkulturen sollen noch schneller schimmeln, würzen und aromatisieren. Die 15 Millionen Bausteine der Bierhefe werden bereits im Rahmen eines EG-Forschungsprogramms entschlüsselt. Ziel ist eine Superhefe aus dem Gen-Labor, die Bier in zwei Tagen vergärt.

Auf anderen Gebieten sind genmanipulierte Starterkulturen bereits im Einsatz. Die holländische Firma Gist Brocades etwa vertreibt unter dem Namen Maxiren ein biotechnisch erzeugtes Käselab. In den Niederlanden, Frankreich und der Schweiz ist der Gen-Käse bereits im Handel.

Auch die Käsegerinnung selbst dauert den Molkereien zu lange. Natürliche Reife-Bakterien brauchen Monate, ehe sie zerfallen und ihre Aromastoffe abgeben. Britische Wissenschaftler stellen nun Abhilfe in Aussicht. Sie implantierten den Mikroben eine Art Sprengstoff-Virus, das sie frühzeitig zum Platzen bringt.

Die traditionelle Grenze zwischen Schmieröl und Streichkäse, zwischen Chemie- und Nahrungsmittelsektor wird täglich undeutlicher. Der Kosmetikhersteller Merck besitzt ein Patent auf ein Gen, das Marzipan am Eintrocknen hindert. Der Pharmakonzern Monsanto (Assugrin, Nutrasweet) versteht es, Süßstoff mittels Darmbakterien zu erzeugen.

Auch der Metallveredler Degussa versucht sich als Appetitanreger. Gemeinsam mit dem Bonner Forschungsministerium will das Unternehmen den von Japan beherrschten Weltmarkt für Aminosäuren knacken. Die lebenswichtigen Eiweiße finden sich in Viehfutter oder werden als Glutamat-Gewürzpaste in Fertiggerichte, Wurst und Kraftnahrung gemischt.

Die Japaner stützen ihre Weltmachtstellung auf hochgezüchtete Stämme an Coryne-Bakterien. Diese Boden-Bakterien aus Nippon sind allen anderen Züchtungen überlegen. Mit Zucker gepäppelt, scheiden sie Rekordmengen der Aminosäure Lysin aus. Die Deutschen halten nun gentechnisch dagegen. Vor kurzem ist es ihnen gelungen, das Lysin-Gen der Coryne-Mikrobe zu isolieren. Damit soll das Wirtstier zur Turbo-Bakterie umgebaut werden.

Die fabelhaften Einfälle der Bio-Ingenieure werden manchem Esser sauer aufstoßen. Immer skurriler wird die Gen-Speisekarte: Bierbrauer experimentieren mit Gen-Hefe, die Gerstensaft automatisch in Light-Bier umbraut, Joghurt-Kulturen werden mit Erdbeeraroma-Genen bestückt. Die belgische Firma Plant Genetic Systems bemüht sich, das Gen für den natürlichen Süßstoff Thaumatin in Früchte einzuschmuggeln. Ergebnis: honigsüßes Obst. Das schrillste Vorhaben ist unter der Patentnummer 0431 829 A1 beim Europäischen Patentamt in München abgelegt: transgene Pflanzen, die (zur Schädlingsbekämpfung) Skorpiongift erzeugen.

Die Herstellung von blauen Äpfeln, pfeffrigen Bananen oder Hähnchen mit Schokoladengeschmack dürfte den Erbgut-Ingenieuren bald keine Schwierigkeiten mehr bereiten. Viele Vitamine, Fruchtsäuren und Farbstoffe lassen sich bereits biotechnisch erzeugen.

Der Aachener Gen-Technik-Kritiker Gerd Spelsberg sieht ein Zeitalter des »grenzenlosen Geschmacks« heraufziehen: »Gene für Pfirsich-, Nougat-, Kirsch-, Marzipan- und Kokosnußgeschmack sind isoliert und warten auf ihren praktischen Einsatz.«

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