FORSCHUNG Aus heiterem Himmel
Siegfrieds Drache, Sindbads Vogel Rock und die Chimäre vom Loch Ness -- es ist, als habe sich da eine grausige Erinnerung bis ins Unterbewußtsein der Menschen vererbt.
Das ganze Erdmittelalter über waren die Dinosaurier die nach Artenreichtum und Anpassungsfähigkeit erfolgreichsten Großlebewesen. Neben diesen Land-, Luft- und Seeungeheuern blieben die ersten Säugetiere allenfalls ratten- bis katzengroße Kümmerlinge.
Doch dann, vor rund 65 Millionen Jahren, traten die »schrecklichen Echsen« so dramatisch ab, wie es ihrer Erscheinung entsprach. Ob Wüstenläufer oder Schwimmer, gelenker Segelflieger oder träger Panzerkoloß, ob Fisch-, Fleisch-, Pflanzen- oder Allesfresser -auf keiner ihrer vielfältigen Entwicklungslinien schafften sie den Übergang in die Neuzeit der Erde.
Daß die letzten Generationen dieser Reptilien unter lebensbedrohendem Streß gelitten haben, wies etwa der Bonner Paläontologie-Professor Heinrich K. Erben nach. Bei Rousset in Südfrankreich entdeckte er in Sedimenten aus der geologischen Zeitenwende Reste von Dinosaurier-Gelegen, die das Schicht um Schicht dokumentieren -in den älteren Ablagerungen fand er noch viele Eier mit normaler, 1,9 bis 2,6 Millimeter dicker Schale; die Eier aus den jüngsten Ablagerungen aber sind so extrem dünnschalig, daß die Embryonen darin wegen Kalkmangels kein gesundes Skelett mehr hätten ausbilden können.
Bisher nur wenige und teils widersprüchlich ausdeutbare Indizien lassen vermuten, was den globalen Arten-Tod auslöste. Von allen Krisen in der Geschichte der Lebewesen hat denn auch vor allem diese die Phantasie von Forschern angeregt.
Degeneration -- gleichsam ein Vergreisen der Erbmasse -- und Überspezialisierung, insbesondere der Riesenwuchs (der beispielsweise den Brachiosaurus mit rund 100 Tonnen Lebendgewicht belastete), wurden als Ursache angeführt. Eine Umkehr des Erdmagnetfeldes, die Explosion eines nahen Sterns, Epidemien, übermäßige Sauerstoffproduktion der Grünpflanzen oder der Einbruch arktischer Süßwassermassen in den Ozean sollen den Dinosauriern den letzten Rest gegeben haben.
Die neuesten Varianten dieses paläontologischen Krimis veröffentlichten jetzt die Wissenschaftszeitschriften »Science« und »Nature«. Ursache des großen Sterbens wäre demnach buchstäblich ein Schlag aus heiterem Himmel gewesen -- eine kosmische Katastrophe:
* Ein Asteroid von etwa zehn Kilometer Durchmesser, so schließen Physik-Professor Luis W. Alvarez von der University of California und seine Mitarbeiter aus Befunden an Ablagerungsschichten, müsse die Erde getroffen und eine derart gewaltige Staubwolke aufgeworfen haben, daß jahrelanger Mangel an Sonnenlicht die meisten pflanzlichen und tierischen Organismen vernichtete.
* Ein Milliarden Tonnen schwerer Komet, meint hingegen der für spektakuläre Heimsuchungs-Hypothesen bekannte Geologe Kenneth J. Hsü von der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich, sei in die Tethys -- das damals erdumfassende Meer -- gestürzt; dabei sei die Atmosphäre in einem für große Wirbeltiere unerträglichen Maße erhitzt und das Seewasser mit Blausäuresalzen vergiftet worden.
Erwiesen ist, daß dem Umschwung von der Kreidezeit zum Tertiär nicht nur die Dinosaurier samt den großen Meeres- und Flugreptilien erlagen. Damals starben auch die meisten Seelebewesen aus -- so die Ammoniten (Kopffüßer mit schneckenhausartig gewundenen Kalkschalen) und die tintenfischähnlichen Belemniten, desgleichen muschelförmige Weichtiere und zahlreiche Gattungen einzelliger Algen und Plankton-Tierchen.
Daß so unterschiedliche Organismen wie Plankton im Meer und die Riesenechsen an Land gleichzeitig in eine Sackgasse der Evolution geraten wären, ist unwahrscheinlich. Seit langem beschäftigt deshalb die Paläontologen das Ratespiel, welches verheerende Naturereignis das biologische Debakel vor 65 Millionen Jahren ausgelöst haben könnte.
Erstmals meinen nun Professor Alvarez und sein Team Anhaltspunkte gefunden zu haben, die eine Katastrophe außerirdischen Ursprungs direkt und in den geologischen Formationen auf den Millimeter genau anzeigen: In der Grenzschicht zwischen Sedimenten aus Mittelalter und Neuzeit der Erde wiesen sie ungewöhnlich hohe Konzentrationen seltener chemischer Elemente nach.
Als Hauptbeweismittel gilt ihnen Iridium. Dieses silberweiße, sehr harte S.196 platinähnliche Metall kommt in Ablagerungsgesteinen gewöhnlich nur feinst verteilt vor -- dagegen ist es vergleichsweise häufig in bestimmten Meteoriten.
Ihre erste Spur nahmen die amerikanischen Wissenschaftler in Italien auf. Im Bottaccione-Graben bei Gubbio im umbrischen Apennin steht rosafarbener Kalk an, der zuunterst noch mit den winzigen Gehäusen kreidezeitlicher Urtierchen durchsetzt ist, weiter oben jedoch nur mehr mit Schalen einer Einzeller-Art, die bereits dem Tertiär zugerechnet wird.
Dazwischen liegt eine mancherorts ein Zentimeter dicke Schicht Ton. Der aber enthält, wie Physiker Alvarez und seine Kollegen analysierten, etwa dreißigmal soviel Iridium wie das umgebende Sedimentgestein.
Am ehesten sei dieser Befund damit zu erklären, folgern die kalifornischen Forscher, daß die Erde mit einem vagabundierenden kleinen Himmelskörper kollidierte. Tatsächlich schätzen Astronomen, daß kosmische Irrläufer von mehr als zehn Kilometer Durchmesser alle 30 bis 100 Millionen Jahre den Globus treffen.
Der Aufprall, so die Gedankenkette, wäre von solcher Wucht gewesen, daß der Asteroid großenteils zerstäubte und das in die Stratosphäre gewirbelte Material sich allmählich rings um die Erde verteilte und ablagerte.
Gestützt wird diese Hypothese durch Funde von gleich alten Tonschichten mit ähnlich abnormer chemischer Zusammensetzung in Dänemark und Neuseeland. Und unabhängig von den Amerikanern haben die Geologen Smit und Hertogen -- der eine aus Amsterdam, der andere aus dem belgischen Löwen -- die Kreide-Tertiär-Grenze in Ablagerungen von Caravaca im südöstlichen Spanien untersucht; sie kamen zu ebensolchen Befunden.
Der Zürcher Geologe Hsü glaubt sogar erklären zu können, weshalb die Kreide-Tertiär-Grenzschicht aus Ton besteht und kaum Kalk enthält: Durch einen Kometen, spekuliert er, ohne freilich eigens Analysen angestellt zu haben, sei der Tethys-Ozean so stark mit Kohlendioxyd durchmischt worden, daß die daraus zusammen mit dem Wasser gebildete Kohlensäure -- eine Art Sprudel -- alle Kalkskelette der Meereslebewesen aufgelöst habe.
Professor Alvarez und seine Kollegen finden ihren Indizien-Beweis für eine kosmische Katastrophe derart plausibel, daß sie sich bereits Gedanken machten, wie überhaupt ein paar Arten entrinnen konnten. Denn selbst alle Landpflanzen, erstes Glied in der Nahrungskette höherer Tiere, sind ihrer Meinung nach vor 65 Millionen Jahren unter der Asteroiden-Staubwolke in jahrelanger Nacht verdorrt.
Das Sonnenlicht, erklären die Forscher in »Science«, muß gerade noch früh genug wieder durchgebrochen sein: Das Grün »regenerierte sich aus Samenkörnern, Sporen und Wurzelschößlingen«, und »viele kleinere Wirbeltiere, darunter die Ur-Säuger, konnten überleben, indem sie sich von Insekten und der verrottenden Vegetation ernährten«.
Die Dramaturgie der Naturgeschichte verlangt schließlich ein Happy-End. Denn so schlimm, daß er die Menschen ihrer Ahnen beraubt hätte, kann der kosmische Zwischenfall nicht gewesen sein.
S.196Der 1,2 Kilometer weite und 174 Meter tiefe Krater im Canon Diablovon Arizona stammt aus der Eiszeit.*