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GESCHICHTE Barbaren im Garten Eden

Eine Ausstellung in Karlsruhe sorgt für einen Historikerstreit: Waren die Vandalen, die vor 1500 Jahren Nordafrika eroberten, keine blindwütigen Zerstörer, sondern Bewahrer der römischen Kultur?
aus DER SPIEGEL 42/2009

In antiken Quellen tritt König Geiserich (um 390 bis 477 nach Christus) als »der gewaltigste Kämpfer unter allen Männern« auf. »Jähzornig«, aber auch »außerordentlich erfinderisch und vorausblickend« führt er ein Volk von 80 000 Menschen an. Einziges Manko: Er hinkte - nach einem Sturz vom Pferd.

Die Versehrtheit hinderte den Ostgermanen vom Stamm der Vandalen allerdings nicht daran, halb Europa zu durchqueren. Als junger Prinz war er bei Mainz über den vereisten Rhein ins Römische Reich eingebrochen. Kurz danach brannte Gallien. »Ein einziger Scheiterhaufen«, notierte ein Chronist.

439 nach Christus stand er mit seinen Kriegern schließlich vor Karthago, der alten Heimstatt Hannibals. Prachtvolle Kirchen erhoben sich dort, Thermen und Zirkusarenen. Die Provinz »Africa proconsularis« war die Kornkammer des Reiches.

Geiserich nahm das Land im Handstreich. Bei bis zu 40 Grad Hitze war er auf den Schwarzen Kontinent vorgerückt, um ein märchenhaftes Germanenreich zu gründen. Der Braunschweiger Altgeschichtler Helmut Castritius spricht von »Barbaren im Garten Eden«.

Trieb sie die Sehnsucht? Wie konnte es gelingen, die Meerenge von Gibraltar zu überwinden? Und wieso brach der Vandalen-Staat so jäh in sich zusammen? Am Ende trottete der letzte König Gelimer 534 nach Christus als Gefangener durch Byzanz und murmelte nur noch: »Eitelkeiten, alles Eitelkeiten.«

Entrückt, wie aus einer Heldensage muten die Geschehnisse an. Harte Zeugnisse gab es bislang kaum. Die Archäologie in Tunesien wurde vernachlässigt. Und von den Vandalen selbst liegt kaum Schriftliches vor. Der längste überlieferte Satz lautet: »Eils, scapia matzia ia drincan« (übersetzt etwa: »Heil! Lasst uns schaffen das Schmatzen und Trinken").

Erst in jüngster Zeit wendet sich das Blatt. Im algerischen Grenzgebiet kam das Grab einer »Gudrun« zutage, man fand germanischen Schmuck in Wüstengrüften, dazu Kampfspuren und vandalische Bauinschriften.

Im Nationalmuseum von Tunis hängen sogar Mosaike, die die Fremdlinge abbilden. Sie zeigen Männer in engen Hosen ("Beinlingen") und gegürteten Hemden. Ihre Haare sind glatt und artig zur Ponyfrisur geschnitten.

Der Leumund der Invasoren ist gleichwohl verheerend. Schon früh wurden die »Sturmgeister« und ihre »Unbändigkeit« beklagt. Als Geiserich in Karthago einmarschierte, ließ er Bischöfe foltern. Ein Nachfolger zwang junge Nonnen, sexuellen Umgang mit ihren Priestern einzugestehen.

Stiche aus dem 19. Jahrhundert zeigen die Rekordwanderer als integrationsunwillige Hünen mit Rauschebart. Gegen dieses Klischee laufen Vertreter der modernen Geschichtswissenschaft nun Sturm. Statt Trinkhörner zu stemmen, meinen einige Historiker, hätten die Eindringlinge sich in Togen gekleidet und lateinischen Grammatikern gelauscht.

Die »Zeit« stufte die vermeintlichen Banausen jüngst sogar als »kultivierte Eroberer« ein, die sich auch kulinarisch angepasst hätten. Statt »Haferbrei und Schwarzwurzeleintopf« wie in der Heimat hätten sie schon bald Oliven, Feigen und Fischwürze geschlemmt.

Die weltweit erste große Vandalen-Ausstellung, die Ende kommender Woche im Badischen Landesmuseum in Karlsruhe beginnt, schließt sich der Assimilationsthese an. Rund 300 Kostbarkeiten werden gezeigt. Direktor Harald Siebenmorgen ist sicher: »Die Vandalen bewahrten den römischen Lebensstil und fügten sich.«

Nur stimmt das? »Multikulturelles Wunschdenken« nennt Castritius den Versuch, sich die Invasoren im Nachhinein zahmzureden. In Wahrheit seien sie »unproduktive Schmarotzer« gewesen, die mit »purer Gewalt« vorgingen.

In der Tat klingt aus der historischen Überlieferung ein heftiger Ton. Der Zeitzeuge Victor von Vita erzählt von einem Foltercamp in der Wüste, wo knapp 5000 Kirchenleute, gedrängt wie »Haufen von Heuschrecken«, lebten. Bewacht von Mauren, versanken sie im eigenen Dreck.

Jene Fraktion, die meint, die Vandalen hätten sich schnell eingereiht in die spätrömische Lebensweise, tun derlei Berichte als Übertreibung und katholische Propaganda ab. Zudem verweisen die Neudeuter auf die allgemeine Rohheit dieser Zeit.

Richtig ist: Während der Völkerwanderung gerieten ganze Stämme aus der Bahn. Sie verlegten sich aufs Rauben und verloren die Fähigkeit zur Erwirtschaftung der Grundversorgung.

Auch die Vandalen (übersetzt: die Raschen, die Beweglichen) fassten bald keinen Pflug mehr an. Vor der Zeitenwende siedelten sie noch irgendwo zwischen Jütland, Schweden und Mecklenburg. Vom Hunger getrieben, zogen sie dann elbaufwärts. Versuche, den Limes zu überwinden, misslangen.

Erst 405 nach Christus bot sich eine Chance. Unter dem Ansturm einer Völkerlawine aus Alanen, Goten und Sueben brach an der mittleren Donau die Grenze zusammen. Leute mit »weißer Hautfarbe und blonden Haaren«, so antike Quellen, drangen in das Reich ein. Rom geriet ins Taumeln.

Die Vandalen rückten weiter westlich über Gallien nach Spanien vor. Rund 15 000 Krieger - gefolgt von Frauen und Kindern, Ochsenkarren und Schweinehirten - wälzten sich über 20 Jahre lang stehlend und mordend durch die Westprovinzen des Imperiums.

Schließlich stand Geiserich (benannt nach dem gotischen Wort für Speerspitze) in Gibraltar und blickte übers Meer. Da war er 40 Jahre alt.

Afrika, das gelobte Land, war vom spätantiken Verfall noch weitgehend unberührt. Olivenhaine und goldene Kornfelder wogten im fruchtbaren Bergland der Kroumirie (im heutigen Tunesien). Die römischen Grundbesitzer lebten in turmartigen Villen, umringt von Bädern, Zierteichen und Obstgärten.

Kurzerhand enteignete Geiserich die Besitzer von Fischkuttern und Frachtkähnen. Dann führte er seinen Stamm in »80 Tausendschaften« übers Mittelmeer. Ein Meisterstreich an Disziplin und Organisationstalent.

Nun befand sich das Volk auf urchristlichem Gebiet. 391 nach Christus hatte das Römische Reich den Glauben zur Staatsreligion erhoben. Zirkusarenen wurden geschlossen, Bordelle geächtet. Eine neue Moral der Enthaltsamheit und Zügelung der Begierden hatte auch Nordafrika erfasst.

In dieser frommen Welt stampften die Vandalen entlang der Küstenstraßen Richtung Osten. Zwar waren auch sie Christen - nämlich arianische, die Jesus als Sterblichen ansahen. Im Herzen aber blieb der Stamm gottesfern und beutegierig. Die Folge: 430 nach Christus, bei der Belagerung von Hippo Regius, ging es dem ersten katholischen Großdenker an den Kragen. In der eingeschlossenen nordafrikanischen Stadt lebte der greise Augustinus, der mit seiner Tugendlehre zum Lehrmeister des Abendlandes wurde.

Als der alte Mann die Lästerungen der heranbrandenden Feinde hörte, schwand ihm offenbar der Lebensmut. Er starb im dritten Monat der Belagerung.

Auch der Klerus von Karthago hatte bald schwer zu leiden. Geiserich ließ Bischöfe martern. Kirchen wurden geschlossen.

Ohnmächtig mussten die Führer Westroms, die in Ravenna saßen, zusehen, wie die Feinde eine ihrer schönsten Provinzen aussaugten. Die Landgüter der Senatoren wurden enteignet, die Stadträte davongejagt. Die Provinzen Byzacena und Numidia erklärte Geiserich zu seinem Privateigentum.

Rasch saßen Vandalen in den Schlüsselpositionen von Heer und Politik. Es war eine winzige Elite, umgeben von einer 30fachen Überzahl an Altbewohnern. Während Mauren auf den Feldern schufteten, fütterten die Germanen auf ihren gut bewässerten Anwesen die Zierfische.

»Tag für Tag nahmen sie warme Bäder«, schreibt der oströmische Historiker Prokop, »bei jeder Gelegenheit veranstalteten sie Trinkgelage und übten sich in allen Arten von Liebesgenuss.« Prachtvolle Mosaike zeigen die neuen Herren beim Fischfang auf sanften Mittelmeerwellen oder inmitten lichter Korkeichenwälder bei der Falkenjagd.

Geiserichs Palast wird auf dem Byrsahügel östlich von Tunis vermutet. Gegraben hat dort bis heute niemand.

Nur aus dem Schrifttum weiß man, dass der nordische Monarch Gabeln, besetzt mit Edelsteinen, besaß. Seine Frau fuhr in einer Prunkkutsche umher.

455 nach Christus, nach einem Überfall auf Rom, kam weiterer Hausrat hinzu, darunter Teile des jüdischen Tempelschatzes. Selbst das vergoldete Dach des Jupiter-Heiligtums nahmen die Diebe mit.

Sieht so eine gelungene Einbürgerung aus? »Natürlich floß damals viel Blut, doch die anderen waren auch nicht besser«, verteidigt der Ausstellungsmacher Siebenmorgen seine Linie: »Blindwütig zerstört haben die Vandalen überhaupt nichts, sie bauten sogar Kirchen.«

Nur wo? Eindeutige Belege für die Behauptung liegen bislang nicht vor.

Umso besser sind die Brutalitäten dokumentiert. Unter König Hunerich steigerte sich der Kampf gegen den Klerus ab 483 nach Christus fast zum Massenmord. Um die eigene Identität zu stützen und die katholische Bevölkerung gefügig zu machen, kam es zu Zwangsbekehrungen.

Arianische Bischöfe teilten Fausthiebe aus und ließen Gegnern mit Widerhaken die Kopfhaut abreißen. Die Verfolgungen mündeten in der Deportation von 4966 Geistlichen.

Auch wirtschaftlich stand es nicht gut - keine Spur von der neuerdings vermeldeten »Renaissance« und »Blütezeit« unter den Vandalen.

Zwar sei es nicht zum »katastrophalen Einschnitt« gekommen, erklärt der Archäologe Philipp von Rummel. »Doch vergleicht man den Zustand der afrikanischen Städte um das Jahr 300 nach Christus mit demjenigen um 500 nach Christus, sind überall negative Entwicklungen festzustellen.«

Ein Paradies hatten die Eroberer geerbt - jetzt zehrten sie es auf. Sie lebten von der Substanz.

Im reichen Karthago gingen die Sausen bis zum bitteren Ende weiter. Wenn die germanischen Prinzen nicht gerade in Thronstreitigkeiten verstrickt waren (und sich dabei gegenseitig verstümmelten), verbrachten sie ihre Tage in »Theatern und auf Rennbahnen«, wie Prokop berichtet.

Im Palast trug derweil der Dichter Luxurius zotige Verse vor. 90 seiner Epigramme sind erhalten - eine wahre Fundgrube für Sozialgeschichtler. Der Reimeschmied machte sich über Impotente lustig sowie über Ärzte, die kleine Mädchen verführten. Sein Spott ergoss sich über Transvestiten, Schwule und Bucklige. Frauen wurden bei ihm mit einem »Ast« belästigt.

Und immer wieder lobpreiste er die Zirkusartisten und Tierkämpfer, die in Eisenrüstungen gegen Bären und Löwen antraten. Noch höheres Ansehen genossen nur die Wagenlenker, gleichsam die Formel-1-Stars der Antike.

Kein anderer Zeitzeuge hat so eindringlich den derben Humor und die derbe Lebensart der Umstürzler aus dem Norden beschrieben.

In der Ausstellung in Karlsruhe ist für den Dichter leider kein Platz.

MATTHIAS SCHULZ

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