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Meeresforschung Beule im Meer

Die U.S. Navy gibt einen großen Teil ihrer geheimen Meßdaten frei - eine Fundgrube für die Wissenschaft.
aus DER SPIEGEL 1/1996

Während 100 Meter über ihren Köpfen das Eis knirscht, hören die Männer in ihrer engen Stahlröhre Schnulzen von Pat Boone aus der Musikbox. Am 3. August 1958 unterquert die »USS Nautilus« den Nordpol. Zwei Tage später, vor Grönland, funkt Navy-Kapitän William Anderson nach Washington: »Clear of ice.«

Die abenteuerliche Tauchfahrt der »Nautilus«, des ersten atomgetriebenen U-Bootes der Welt, war ein Vorstoß ins Unbekannte. Nach diesem Test begann der Kalte Krieg auch in der bis dahin unzugänglichen Dunkelwelt unter dem Polareis. Jahrzehntelang versteckten Amerikaner und Sowjets ihre mit Atomraketen bestückten U-Boote unter dem arktischen Frostschild.

Eine gefahrvolle Tarnung: Wie ein auf dem Kopf stehendes Gebirge ragt das Polareis in die Meerestiefe. Um zu verhindern, daß ihre Tauchboote aufgeschlitzt würden, tastete die Navy den Eispanzer mit Sonargeräten systematisch von unten her ab. Schon die Instrumente der »Nautilus« lieferten binnen weniger Stunden mehr und genauere Daten über die arktische Eisdecke als alle früheren Polarexpeditionen zusammen.

Jetzt, nach Ende des Wettstreits der Supermächte, will die Navy einen Großteil ihrer gesammelten Eiskarten freigeben. Für die Polarforscher sind die bislang geheimgehaltenen Messungen ein Leckerbissen.

»Die Militärs mit ihren Instrumenten waren uns immer haushoch überlegen«, sagt Glaziologe Heinz Miller vom Bremerhavener Alfred-Wegener-Institut für Polarforschung. Die Veröffentlichung der Navy-Daten sei »ein Riesengewinn«.

Brennend interessieren sich die Wissenschaftler etwa für die Frage, wie sich die Dicke der arktischen Eisdecke im Laufe der Jahre verändert hat. Ließe sich nachweisen, daß der Eispanzer abschmilzt, würde dies die Aufheizung der Erdatmosphäre bestätigen.

»Bisherige Messungen an der Oberfläche waren für diesen Zweck nicht genau genug«, erläutert Miller, »90 Prozent des arktischen Eises liegen unter der Wasseroberfläche; der Meßfehler ist deshalb viel geringer, wenn man den Eispanzer von unten aus abtastet.«

Nicht nur die Eiskarten der Atom-U-Boote will die US-Marine preisgeben. Auch eine Fülle weiterer Meeresdaten, die mit Hilfe von Bojen, Schiffen und Satelliten gesammelt wurden, sollen nicht länger geheim bleiben. »Der Wert dieser Daten beläuft sich auf mehrere zehn Milliarden Dollar«, schätzt Geophysiker Gordon MacDonald von der University of California.

»Zu dieser einzigartigen Datenbasis gibt es kein ziviles Gegenstück«, resümierte kürzlich auch eine Gruppe von US-Umweltexperten aus Wissenschaft und Industrie. In einem Bericht haben die Forscher begutachtet, was für Perlen in den bislang verschlossenen Schatztruhen der Navy lagern: *___In einem großangelegten Programm hat die US-Marine ____verschiedene Arten von Sedimenten am Meeresgrund ____untersucht, die Schallwellen in charakteristischer ____Weise zurückwerfen. Mit diesen Messungen sollten die ____Ortungssysteme der Kriegsschiffe verbessert werden. Nun ____könnten die Echo-Muster dazu beitragen, Manganknollen ____oder Öl-Lagerstätten aufzuspüren. *___Seit der Jahrhundertwende hat die Navy weltweit ____Wassertemperaturen und Salzgehalte aufgezeichnet. Weil ____sich Schallwellen je nach Temperatur schneller oder ____langsamer ausbreiten, konnte auch diese Erhebung ____helfen, feindliche U-Boote genauer zu orten. Die ____Freigabe der Langzeitmessungen kommt nun den ____Klimaforschern zugute. *___Um die Zuverlässigkeit ihrer Navigationssysteme zu ____verbessern, hat die Navy am Meeresgrund erfaßt, wie ____sich das Magnetfeld der Erde von Ort zu Ort geringfügig ____verändert. Die lokalen Schwankungen hängen mit ____langwierigen Verschiebungen in der Erdkruste zusammen ____und sind deshalb von großer Bedeutung »für das ____Verständnis der Erdgeschichte der letzten 200 Millionen ____Jahre« (so der Bericht).

Mehr als 10 Prozent ihrer bisher geheimgehaltenen Messungen hat die Navy bereits freigegeben. Insgesamt 95 Prozent aller Meeresdaten, schätzt Edward Whitman, technischer Direktor des ozeanographischen Büros der Navy, könnten veröffentlicht werden. Whitman: »Höchste Regierungsstellen setzen uns mächtig unter Druck, das ganze Zeug auf den Markt zu werfen.«

Treibende Kraft ist der amerikanische Vizepräsident Al Gore, der sich schon 1990 als Senator dafür einsetzte, Daten von Militärsatelliten für die Umweltforschung nutzbar zu machen. Vor einem halben Jahr unterzeichnete US-Präsident Bill Clinton einen Erlaß ("Executive Order 12958"), wonach praktisch sämtliche Daten freigegeben werden müssen, die älter als 25 Jahre sind.

Die neue Politik der offenen Archive bringt schon praktischen Nutzen. Vor wenigen Wochen präsentierten die Geophysiker David Sandwell und Walter Smith eine Weltkarte des Meeresgrundes, die 30mal genauer ist als alle vorherigen. Die neue Karte basiert maßgeblich auf bislang geheimen Militärdaten, die der 1985 gestartete Satellit Geosat geliefert hat.

Bis auf wenige Zentimeter genau hat der erdumkreisende Geosat seinen Abstand zur Meeresoberfläche vermessen. Mit ihrem Radarauge hat die Sonde dabei geringe Höhenunterschiede erfaßt, die durch Berge und Täler am Meeresgrund hervorgerufen werden: Überall dort, wo ein unterseeischer Vulkan emporsteigt, hat die - nur scheinbar glatte - Wasseroberfläche eine winzige Beule.

»Bis heute haben wir über die Topographie der Nachbarplaneten Mars und Venus mehr gewußt als über den Boden unserer eigenen Ozeane«, meint Geophysiker Smith. »Diesen Rückstand haben wir nun aufgeholt.«

[Grafiktext]

Darstellung der ozeanograph. Datenfindung d. U.S. Navy

[GrafiktextEnde]

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