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MEDIZIN Bioboom in der Karibik

Mehr als eine Milliarde Dollar hat Kuba in den vergangenen Jahren für Bioforschung und Arzneiproduktion ausgegeben. Tausende von Touristen kommen in den Castro-Staat, um sich ärztlich behandeln zu lassen.
Von Rainer Paul
aus DER SPIEGEL 27/1999

Philipp Schaller, 19, sitzt auf einem schlichten Holzbett sozialistischen Zuschnitts. Sein Krankenlager steht im Zimmer 606 eines beigefarbenen Neubaus im Zentrum von Havanna.

Die Augäpfel des jungen Mannes aus dem bayerischen Haimhausen sind verquollen, die Augen zu Schlitzen verengt. Schaller erholt sich von einer Operation, mit der kubanische Chirurgen sein Augenleiden lindern wollen, das als unheilbar gilt und zur Erblindung führt.

Ärzte in den Industrienationen haben den Kampf gegen diesen sogenannten Tunnelblick, bei dem die Sehnerven nach und nach absterben, praktisch aufgegeben. Sie beschränken sich zumeist darauf, die genetischen Ursachen der »Retinopathia pigmentosa« (RP) zu ergründen. Bei ihm, so Schaller, hätten die Ärzte in Deutschland »die Krankheit erst erkannt, als ich 15 war, und dann eine Brille nach der andern verschrieben - gebracht hat's nichts«.

Mit der Karibik-Insel bringt der westliche Wohlstandsbürger Rum und Zigarren, sozialistische Mangelwirtschaft und unbelehrbare Kommunisten in Verbindung. Ausgerechnet in Kuba entwickelten Augenärzte der Klinik »Camilo Cienfuegos« eine Operationstechnik für RP-Patienten. »Wir können das Leiden auch nicht heilen«, räumt die Chirurgin Maritza Herrera Mora ein, doch durch den Eingriff werde die Erblindung zumindest hinausgeschoben: »eine Gnadenfrist«.

Zwar beurteilen europäische und US-Augenspezialisten das neue Verfahren zumeist skeptisch. Doch die Patienten schreckt das nicht. Schon über 10 000 RP-Kranke aus Kuba und anderen Ländern haben sich bei den karibischen Ärzten unters Messer begeben, davon etwa 80 aus Deutschland.

Die Augenoperationen sind ein besonders schillerndes Beispiel für den ungewöhnlichen Erfolg Kubas. Der karibische Inselstaat nimmt sich geradezu wie eine wissenschaftliche Großmacht aus:

* Kubanische Forscher entwickelten den derzeit einzig wirksamen Impfstoff gegen eine Form der Hirnhautentzündung, Meningitis B.

* In 38 wissenschaftlichen Einrichtungen in einem Außenbezirk Havannas beschäftigen sich rund 1400 Wissenschaftler mit der Herstellung und Erprobung neuer Medika-

mente, darunter Dutzende von Anti-Krebsmitteln. Auch experimentieren die Forscher mit gentechnisch veränderten Tieren und Pflanzen.

* Tausende von Patienten, auch aus westlichen Industrieländern, kommen jedes Jahr nach Kuba zur Behandlung typischer Alterskrankheiten wie etwa Alzheimer und Parkinson oder versuchen in Spezialkliniken, von ihrer Drogensucht loszukommen.

Diese Entwicklung angestoßen hatte Fidel Castro mit einem beschwörenden Aufruf, der noch heute als Motto in den Eingangshallen vieler Institute und Kliniken, Schulen und Universitäten zu finden ist: »Kubas Zukunft kann nur in der Zukunft seiner Wissenschaft begründet sein«, hatte Castro kurz nach der geglückten Revolution verkündet. Weggefährte Ché Guevara machte den Anfang; er gründete 1964 ein Institut zur Erforschung der Zuckerrohrverwertung.

Nun, vier Jahrzehnte später, scheint die damals großspurig klingende Vision des Staatschefs ein Stück kubanischer Realität geworden zu sein.

Sie schlägt sich zum einen nieder in der kostenlosen medizinischen Betreuung der kubanischen Bevölkerung. Um deren Wohl kümmern sich derzeit mehr als 62 000 Mediziner. Die Ärztedichte ist damit fast doppelt so hoch wie in Deutschland.

Die Erfolge sind meßbar: Die Säuglingssterblichkeit in Kuba - sie lag vor der Revolution bei 66 Todesfällen je 1000 Neugeborenen - sank auf eine Rate von 9, die niedrigste aller Länder Lateinamerikas. Zugleich stieg die Lebenserwartung der Kubaner beträchtlich; sie liegt heute bei 75,6 Jahren, vor der Revolution betrug sie etwa 60 Jahre. Masern, Tuberkulose und Polio wurden durch obligatorische Schutzimpfungen praktisch ausgerottet; im nächsten Jahr werden alle Kubaner unter 20 Jahren auch gegen die Folgen von Hepatitis B immunisiert sein. Den Impfstoff liefert die staatliche Pharmafabrik Biopreparados in Bejucal bei Havanna.

Als Fidel Castro 1960 dem Tabak- und Zuckerstaat den langen Marsch durch die Labors verordnete, »hatten wir zwar Wissenschaftler, aber keine Wissenschaft« nach westlichem Maßstab, erinnert sich Pedro Kouri vom Tropeninstitut in Havanna. Um die Vorgaben des in die Medizin vernarrten Máximo Líder wahr werden zu lassen, wurden die Lehrpläne reformiert. Die Universitäten konzentrierten sich fortan auf die Lehre naturwissenschaftlicher Disziplinen.

Tausende von Studenten gingen in den sechziger und siebziger Jahren zur Fortbildung ins Ausland. »Die meisten kamen als Experten ihrer jeweiligen Fachgebiete zurück«, sagt der Biologe Pedro López Saura, der sich in Belgien, Österreich und Frankreich weitergebildet hat.

Ins Ausland waren Kubas Wissenschaftler mit der Vorgabe gereist, sich auf Therapien und Techniken zu konzentrieren, die dem heutigen Elf-Millionen-Einwohner-Volk zugute kommen könnten. Der Ansatz hatte Erfolg, wie die Gesundheitsstatistiken bestätigen. Daß derlei Fortschritte in der übrigen wissenschaftlichen Welt kaum zur Kenntnis genommen wurden, »daran tragen wir selbst zweifellos die Hauptschuld«, gesteht Biologe López freimütig ein.

Denn nach ihrer Rückkehr aus dem Ausland hatten die kubanischen Wissenschaftler ein Gebot vernachlässigt, das die Welt der Wissenschaft beherrscht: »Publish or perish« - »Veröffentliche oder geh unter«.

Vor allem der »Schreibfaulheit kubanischer Wissenschaftler«, aber auch »einer gewissen Arroganz westlicher Wissenschaftsmedien«, schreibt es López zu, daß »kaum jemand weiß, was wir auf dem Feld von Medizin und Biotechnologie in den letzten Jahren geleistet haben«.

Woher kam das Geld für das kubanische Medizin-Wunder? Als sich 1991 die Sowjetunion, Kubas Geldgeber, auflöste, stürzte der Castro-Staat tief ins Wirtschaftschaos. Es mangelte an Nahrungsmitteln, die Öllieferungen blieben aus, die landwirtschaftliche Produktion fiel rapide ab, weil Kunstdünger und Pflanzenschutzmittel knapp wurden. Devisen sollten künftig die Touristen bringen, für die Castro zunehmend Kubas Strände öffnete und Luxushotels hochziehen ließ.

Einen Großteil der Einnahmen aus dem Tourismusbetrieb investierte der Altrevoluzzer jedoch nicht wie andere Alleinherrscher in Rüstungsgüter, Schnellstraßen oder Staudämme. Statt dessen gab Kuba in den vergangenen Jahren über eine Milliarde Dollar für das Ziel aus, den Staat auf biotechnologischem Gebiet an die Erste Welt heranzuführen.

Die Zwischenbilanz ist erstaunlich. In viertelstündiger Lada-Schnellfahrt aus dem Zentrum über die »Quinta«, Havannas palmenbestandene Park Avenue, ist der »Polo Científico del Oeste« erreichbar. Umgeben von alten Residenzen der Zuckerbarone und Mafiabosse, inmitten von Tabak- und Maisfeldern, sind in dem »Wissenschaftszentrum« biotechnologische Forschungs- und pharmazeutische Produktionsstätten konzentriert, Arbeitsplatz von 12 000 Chemikern, Medizinern und Molekularbiologen, Laboranten und Hilfskräften.

Die Mitarbeiter dieser Wissenschaftsstadt erreichen ihre klimatisierten Labors per Zubringerbus. Für Frühstück, Mittag- und Abendessen zahlen sie pro Tag einen Peso (umgerechnet: acht Pfennig), sie erhalten Schuh- und Kleidungsgeld sowie »Mittel zur persönlichen Körperpflege« (López). Mit 400 Pesos Monatssalär (33 Mark) gehören sie zu Kubas Spitzenverdienern, promovierte Wissenschaftler erhalten ein Aufgeld von 125 Pesos.

Von der in Havanna sonst allgegenwärtigen Mangelwirtschaft ist in der Wissenschaftsstadt kaum etwas zu erahnen. Dort stehen Elektronenmikroskope, Massenspektrometer und Laserkanonen, summen Zentrifugen und klicken Computertomographen. Stereotaktische Gehirnoperationen sind hier Routine. »Sämtliche Geräte« - Importe aus Japan, den Niederlanden, Deutschland oder Italien - gehörten zur »Spitzentechnologie und sind betriebsbereit«, versichert Eduardo Alvarez, Neurologe am Centro Internacional de Restauracíon Neurológica (Ciren).

Die Klinik (Motto: »Ein Zentrum der Liebe und Hoffnung") hat sich auf die Behandlung von Parkinson- und Epilepsiepatienten, von spastischen Erkrankungen, Hirntumoren und anderen Nervenleiden spezialisiert. Eine Reha-Klinik ist angeschlossen.

Herzstück der Biomedizin-Stätte ist das neunstöckige Centro de Ingeniería Genética y Biotecnología (CIGB), zu dessen Mitbegründern der Biologe López zählt. Wie nahezu alle anderen Institute ist auch das CIGB zugleich Forschungs-, Entwicklungs- und Produktionsstätte.

Die CIGB-Produktpalette umfaßt zum Beispiel mehrere Typen von Interferonen, die zur Behandlung spezieller Krebserkrankungen getestet werden sollen, und das Mittel Streptokinase zur Behandlung von Herzinfarkten. In den Laborkesseln des CIGB entstand der weltweit einzig wirksame Impfstoff gegen den Befall durch eine Rinderzecke.

In einem Seitenflügel des achten Stocks hat die Biologin Rebecca Martínez, 30, das neueste Produkt des Instituts aus einem unbepflanzten Aquarium gekescht: einen Tilapia. Dem Buntbarsch wurde ein weiteres Wachstumsgen eingepflanzt, nun wächst er doppelt so schnell wie seine unveränderten Artgenossen.

30 Tonnen dieser Buntbarsche hat das Team um Rebecca Martínez voriges Jahr gezüchtet. Eine Woche lang haben die kubanischen Fischforscher ihr Produkt auch versuchsweise verzehrt. Martínez: »Es war sehr lecker.« Nebenwirkungen verspürten die Testesser nicht, auch die medizinischen Untersuchungen waren ohne Befund. Trotzdem wurden, mangels behördlicher Zulassung, die Restbestände verbrannt.

Die Biologin möchte dies jedoch nur als Sicherheitsmaßnahme verstanden wissen: »Der dicke Fisch ist marktreif«, beteuert sie. Schon in den nächsten Wochen werde der Züchtung voraussichtlich die biologische Unbedenklichkeit attestiert.

US-amerikanische Besucher zeigen sich fast durchweg angetan. »Eindrucksvoll« und »sehr dynamisch«, urteilte beispielsweise der Nobelpreisträger Harold Varmus, Direktor der amerikanischen National Institutes of Health. Einige von Kubas Pharmafabriken gehörten »neben den britischen und US-amerikanischen zu den besten der Welt«, bestätigte James Larrick vom kalifornischen Palo Alto Institute for Molecular Medicine.

Solche Lobsprüche verstellen den kubanischen Wissenschaftlern nicht den Blick für die Realität. Trotz des Exportwerts kubanischer Medikamente und Medizingeräte von über 100 Millionen Dollar »werden wir auf dem Weltmarkt so schnell keine Rolle spielen«, räumt CIGB-Biologe López ein. »Dort müssen wir nicht nur gegen 25 Pharma-Multis antreten, sondern zudem gegen das Embargo.«

Die Auswirkung der US-amerikanischen Blockadepolitik zeigt sich beispielhaft am Impfstoff gegen Meningitis B. Das weltweit einzig wirksame Präparat gegen die bei zwölf Prozent der Betroffenen tödlich verlaufende Krankheit war bereits Mitte der achtziger Jahre am kubanischen Finlay-Institut entwickelt worden.

In zwölf Ländern, darunter - neben Kuba - Brasilien, Kolumbien und Argentinien, wurde der Impfstoff inzwischen eingesetzt. Die Erfolgsraten lagen zwischen 74 und 83 Prozent. Da nach Angabe der amerikanischen Meningitis-Expertin Nancy Rosenstein jedes Jahr allein in den USA 120 Menschen zu Opfern der Meningitis B werden, »wäre es wünschenswert, wenn wir einen effektiven Impfstoff hätten«. Ein Lieferant stünde auch bereit: Der britische Arzneimittelhersteller SmithKline Beecham will das kubanische Vakzin in seinen belgischen Labors testen und seine Wirksamkeit, wenn möglich, verbessern.

Dazu wird es vorerst nicht kommen. Die Laboranlage in Belgien gehört einer US-amerikanischen Tochterfirma des britischen Multis, und die ist an die Embargo-Vorschriften gebunden.

Anzeichen für eine Lockerung der 37jährigen totalen Blockadepolitik sind derzeit nicht erkennbar. Havannas Ankündigung, von den Vereinigten Staaten Schadensersatz in Höhe von 181,1 Milliarden Dollar für die »Aggressionspolitik der vergangenen 40 Jahre« zu fordern, dürfte die Lage politisch eher verschärfen.

Für den Fall, daß die USA das Relikt des Kalten Krieges dennoch abschütteln sollten, glauben sich die Kubaner gut vorbereitet. Damit die wissenschaftliche Welt Kubas Forschung und ihre Ergebnisse gebührend zur Kenntnis nimmt, richten die kubanischen Wissenschaftler ihre Arbeit mittlerweile »strikt nach internationalen Maßstäben aus«, sagt López.

Das werde nicht zuletzt beim Reizthema wissenschaftliche Publizierung deutlich: »Kann ein CIGB-Forscher pro Jahr nicht wenigstens eine Arbeit in einem anerkannten Wissenschaftsmagazin plazieren, kriegt er Schwierigkeiten mit seinem Boß.«

Unterdes erlebt der staatliche MedizinTourismus einen Wachstumsboom. Für die ärztliche Versorgung der Touristen in den Ferienhotels an den Stränden von Varadero ist die Firma Servimed verantwortlich.

Vom eigentlichen Unternehmensziel kündet ein Prospekt, der auf 50 Seiten medizinische Dienstleistungen anbietet. Sie reichen vom dreistündigen normalen Medizin-Check (235 US-Dollar) über die eingehende Untersuchung der »männlichen Sexual-Schwäche« bei viertägigem Klinikaufenthalt zum Preis von 1425 US-Dollar bis hin zur Hornhauttransplantation, die einschließlich zwei Wochen Krankenhausaufenthalt 5720 Dollar kostet.

Als weiteres Angebot enthält der Servimed-Katalog die Drogenentzugsbehandlung. Für den Versuch, mit Hilfe kubanischer Spezialisten in drei Monaten von Kokain, Alkohol oder Heroin loszukommen, muß ein Suchtkranker insgesamt 15 485 US-Dollar zahlen. Die 55 Therapieplätze sind fast das ganze Jahr ausgebucht.

Von dem regen Gesundheitstourismus profitiert auch die kubanische Bevölkerung. Rund 30 Millionen Dollar nahm der Staatsbetrieb im vergangenen Jahr ein - über die Hälfte davon wurde verwendet, um die kostenlose medizinische Versorgung der Bevölkerung zu sichern. RAINER PAUL

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