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Boten der Erinnerung

US-Forscher entdeckten, daß ein Wachstumsfaktor bei der Bildung des Langzeitgedächtnisses bestimmend ist.
aus DER SPIEGEL 12/1997

Die herkömmliche Neuroanatomie hat ausgedient: »Durch konsequentes Starren auf Gehirne«, meint Hirnforscher Dr. Ralf Galuske vom Max-Planck-Institut in Frankfurt, »kann man heute einfach nichts mehr rauskriegen.«

Wo Neuroanatomen früherer Zeiten im Alleingang das Wesen des Geistes mit Hilfe des Mikroskops zu begreifen suchten, arbeiten heute Anatomen, Physiologen und Biochemiker Hand in Hand. Methoden aus Biochemie, Molekularbiologie und molekularer Zellbiologie dienen als Werkzeug, um die molekularen Veränderungen im Gehirn, die als Basis unseres Gedächtnisses gelten, zu analysieren und zu erklären.

US-Wissenschaftlern unter der Leitung des Neurobiologen John H. Byrne gelang dabei jetzt ein Durchbruch. Sie wiesen im Tierexperiment nach, daß ein Protein, der Wachstumsfaktor TGFb (transforming growth factor beta), in Nervenzellen dieselben Veränderungen hervorruft, die als bestimmend für die Bildung von Langzeitgedächtnis gelten: eine Zunahme der Verbindungen zwischen sensorischen Neuronen (Nerven, die Impulse zum Muskel leiten) und Motoneuronen (Nerven, die den Muskel steuern).

Die Arbeit der Forschergruppe aus Houston zeigt, so der Jenaer Zellbiologe Reinhard Wetzker, »die enorme Plastizität des Nervensystems«. Entgegen früherer Annahmen wird es lebenslang von Wachstumsfaktoren und anderen biochemischen Abläufen geformt und modifiziert.

Nervenwachstumsfaktoren, sogenannte Neurotrophine, stehen derzeit im Rampenlicht der Forschung. Sie können Nervenzellen beeinflussen und deren Aktivität verändern.

Viele Forscher waren daher überrascht, daß gerade TGFb die Gedächtnisleistung von Nervenzellen beeinflußt, gehört es doch gerade nicht zur Gruppe der Neurotrophine. Bislang hatte man das Protein lediglich als wichtigen Regulator von Wachstum und Differenzierung im Embryonalalter und als Hemmstoff des Zellwachstums bestimmter Zellen im Erwachsenenalter angesehen.

Jetzt, da Wissenschaftler die Botenstoffe der Erinnerung entschlüsseln, deuten sich auch deren Nutzungsmöglichkeiten an: Krankhafte Veränderungen des Nervensystems, bei denen die Gedächtnisleistung nachläßt, wie zum Beispiel die Alzheimerkrankheit, lassen sich durch Wachstumsfaktoren wie TGFb möglicherweise positiv beeinflussen. Die Pharmaindustrie hält sich bereit: TFGb und andere Wachstumsfaktoren lassen sich mittels Gentechnologie in beliebiger Menge produzieren.

Hirnforscher Galuske warnt jedoch davor, die Ergebnisse der US-Studie ohne weiteres auf den Menschen zu übertragen: Beim anatomisch simplen Versuchstier, der Meeresschnecke Aplysia, »kennt man jedes Neuron mit Vornamen«. Bei Menschen »ist das schon noch etwas komplizierter«.

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