SCHIFFAHRT Brei im Hirn
Sie werden rindslederne Trommelfelle brauchen, Bandscheiben aus Gußeisen und ein Gemüt, so gelassen und gleichzeitig so schlicht wie das eines Esels.
Um sich das gewaltige Gedröhn von zwei mächtigen Zwölf-Zylinder-Dieselmotoren, Stunde um Stunde gebeutelt und geknufft beim rasenden Ritt über die Kämme meterhoher Wellen, kaum Schlaf und große Hitze - solche Torturen erwarten die neunköpfige Crew der »Virgin Atlantic Challenger« auf ihrer für diese Woche geplanten Rekordfahrt über den Nordatlantik.
Mit dem Zweirumpf-Boot gedenken die Messrs. Richard Branson und Ted Toleman, zwei ebenso wohlhabende wie patriotisch gesinnte Briten, das »Blaue Band des Atlantiks« für ihr Vaterland zurückzugewinnen.
In etwa 72 Stunden will die Mannschaft den Ozean mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 80 km/h überqueren. Daß dabei Eisschollen, Treibgut sowie vor allem plötzlich heranrollende Riesenwellen ("Freak Waves") dem Unternehmen, möglicherweise sogar ihrem Leben ein jähes Ende setzen können, ficht Branson nicht an - es geht um Höheres: »Letzthin haben wir Briten mehr Rekorde verloren als gewonnen«, so Branson, »es wird Zeit, daß sich daran etwas ändert.«
Doch das, was die beiden Briten zu erringen suchen, gibt es eigentlich gar nicht: Das Blaue Band ist die rein imaginäre Auszeichnung für das Schiff, das die 2819 Seemeilen lange Strecke zwischen dem (vor dem New Yorker Hafen gelegenen) Ambrose Light Tower und dem Bishop Rock Lighthouse (bei den englischen Scilly-Inseln) am schnellsten durchpflügt.
Der Rekord liegt bei drei Tagen und zehn Stunden, aufgestellt von dem Luxusliner »United States« im Jahre 1952. Seitdem hat sich kein Mensch mehr für das Blaue Band interessiert.
Denn von Bedeutung war die Auszeichnung allenfalls zur Zeit der großen Passagierschiffe: die Reederei, unter deren Flagge der schnellste Liner fuhr, gewann an Prestige - Trägerinnen des
Blauen Bandes wie etwa die englische »Majestic« (1891) oder die deutsche »Europa« (1930) mit ihren luxuriösen Salons und Kabinen, die bis zu 2000 Reisende schnell und mit Stil ans Ziel brachten, wurden zu ihrer Zeit als Synthese abendländischer Kultur und Technik bewundert.
Doch als Ende der fünfziger Jahre das Zeitalter der Düsenflugzeuge anbrach und das Reisen zur schlichten Personenbeförderung verkam, wurden die meisten der großen Schiffe abgewrackt und vergessen - und mit ihnen die Institution das Blauen Bandes.
Dieses Relikt aus einer vergangenen, vielleicht gemütlicheren, sicher aber stilvolleren Epoche will nun die Crew der »Virgin« für Großbritannien wieder erobern - freilich mit der modernen Zeitläuften eigenen Brachialgewalt.
Die Konstrukteure des Bootes nahmen zwei superstarke Dieselmotoren mit insgesamt 4000 PS Leistung, fügten zehn riesige Tanks hinzu und bauten einen Bootskörper aus Aluminium drum herum. Herauskam ein 20 Meter langer Katamaran mit einem engen Cockpit im Raumfahrt-Design, der außer 16547 Liter Dieselöl nichts anderes befördern kann als die Besatzung.
Weil die mächtigen Motoren 670 Liter Sprit pro Stunde verbrauchen, muß die »Virgin« bei ihrem Atlantik-Cross dreimal nachtanken. Um bei diesem Stafettenlauf über den Atlantik die kürzeste und sicherste Route zu finden, hat die Besatzung die modernsten und teuersten elektronischen Hilfsmittel zur Verfügung: An Bord sind vier Satelliten- und Funknavigationssysteme, Infrarotsuchgeräte und Farbradar, Sensoren an der Außenhaut registrieren zahlreiche Meßwerte. Alle Daten werden im Bordcomputer gespeichert, der sie dann über Funk an einen Zentralrechner in London weiterleitet.
Doch trotz aller Elektronik muß jeweils ein Besatzungsmitglied, ausgerüstet freilich mit einem besonderen Sichtgerät, wie es Hubschrauberpiloten benützen, während des ganzen Trips Ausguck halten - wie zu jenen Zeiten, als die großen Passagierschiffe im Liniendienst über den Atlantik dampften.
Besonders die Reisen neuer Schiffe gerieten damals zu Rekordfahrten um das begehrte Blaue Band - meist unter enthusiastischer Teilnahme der Passagiere, die häufig erhebliche Summen auf den Ausgang des Rennens gegen die bestehende Bestzeit setzten.
In den zehn Jahren zwischen 1897 und 1907 dominierten die Deutschen den Wettkampf der Ozeanriesen; dieser fand seinen Höhepunkt in einer Wettfahrt der deutschen Liner »Kaiser Wilhelm der Große« und »Deutschland«, die am 4. September des Jahres 1900 im Abstand von 90 Minuten den New Yorker Hafen verließen.
Häufig in Sichtkontakt qualmten die zwei Schiffe mit Volldampf in Richtung Europa, beide Kapitäne holten das Letzte aus den Kesseln heraus. Ein gewisser Mister F. Higbee vom Internationalen Roten Kreuz berichtete, die Heizer auf der »Deutschland« hätten nackt gearbeitet und seien ständig mit kaltem Wasser übersprüht worden. Die »Deutschland« bewältigte die Strecke in fünf Tagen, sieben Stunden und 38 Minuten - ihre Konkurrentin war zehn Stunden länger unterwegs - und gewann auf dieser Fahrt das Blaue Band.
Bei solchen Rekordversuchen mußten die Passagiere oft erhebliche Unbill erdulden; denn wenn sie mit Höchstgeschwindigkeit gefahren wurden, vibrierten viele Schiffe derart, daß sich die Schachfiguren auf dem Brett und die Gläser auf der Bartheke selbständig machten. So klagte etwa ein englischer Passagier auf der »Deutschland«, die starken Vibrationen hätten sein »Gehirn in Porridge verwandelt« - jenem Brei aus gekochten Haferflocken, den sich Engländer traditionell zum Frühstück antun.
Um ihr durch die Vorherrschaft der deutschen Schnelldampfer angeschlagenes maritimes Selbstbewußtsein wieder aufzurichten, veranlaßte die britische Regierung die Cunard Line mittels einer kräftigen Subvention zum Bau von zwei Ozeanriesen, die das Blaue Band wieder für das Empire zurückerobern sollten: Die »Lusitania«, das größte und luxuriöseste Schiff ihrer Zeit, gewann das Blaue Band im Oktober 1907 (Fahrtdauer: vier Tage und 19 Stunden), ihr Schwesterschiff »Mauretania« hielt die Trophäe für die nächsten 22 Jahre. »The Grand Old Lady« oder, liebevoller, »Maury« nannten die Engländer das Schiff.
Rund 45 Schiffe trugen das Blaue Band. 1930 und 1933 waren es mit der »Europa« und der »Bremen« zum letzten Mal Passagierschiffe unter deutscher Flagge, bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hielten abwechselnd die englische »Queen Mary« und die französische »Normandie« die Trophäe. Mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 35,59 Knoten (66 Stundenkilometer) errang schließlich die »United States« im Juli 1952 das Blaue Band.
An die glanzvolle Geschichte der Passagierdampfer suchen nun Branson und Toleman mit ihrem dröhnenden Power Boat anzuknüpfen. Getauft wurde diese maritime Fortsetzung eines Rennwagens im Mai 1984 von der deutschbürtigen Princess Michael of Kent, die alles einweiht und eröffnet, wofür sich andere Mitglieder der königlichen Familie zu schade sind - häufig, how frightfully shocking, gegen Honorar, was ihr den Spottnamen »Rent-a-Princess« eingetragen hat.
Seit dem 20. Juli wartet die »Virgin«-Crew in den USA auf gutes Wetter, denn in Stürme sollte das Boot tunlichst nicht geraten - es ist ungefähr so seetüchtig wie ein Formel-1-Renner straßentauglich ist. »Wir werden«, versprach Toleman, »das Blaue Band holen.«
Durchaus möglich, nur behalten werden sie es kaum lange. Im nächsten Jahr wollen die Amerikaner den Wimpel mit einem noch schnelleren Transatlantik-Renner zurückgewinnen. _(Beim Auslaufen aus dem New Yorker Hafen. )
Beim Auslaufen aus dem New Yorker Hafen.