MEDIZIN Buße tun
Eine »Information von Mutter Natur« gilt unter Wissenschaftlern allemal mehr als das Forschungsergebnis eines Kollegen. Unlängst hat Mutter Natur den Hochdruckexperten ein starkes Argument gegen das Kochsalz in der Nahrung präsentiert: Zum ersten Mal analysierten Ärzte kontinuierlich den Salzgehalt der Muttermilch. Zur Überraschung der Gelehrten, die diesen Wert bisher für konstant hielten, erwies es sich, daß die Mutterbrust dem Säugling von Mal zu Mal weniger Salz zukommen läßt, zum Schluß nur noch zwei zehntel Gramm pro Tag.
Ganz anders die Nahrungsmittelindustrie: Tiefkühlpackungen enthalten einhundertmal mehr Salz als natürliche Nahrungsmittel. Erbsen aus der Dose sind durchschnittlich sogar 250mal stärker salzhaltig als frische Hülsenfrüchte. Am Kochsalz - chemisch: Natriumchlorid, NaCl - wird nirgendwo gespart: Hundert Gramm roher Räucherschinken enthalten 5,6 Gramm, ein Beutel Salzstangen meist schon sechs, 100 Gramm Matjeshering gut sechseinhalb Gramm.
Soviel Salz, sagen die Ärzte, sei viel zuviel: Während der rund drei Millionen Jahre, die die Entwicklungsgeschichte des Menschen währt, ist der Organismus mit der täglichen Zufuhr weniger Zehntelgramm Salz ausgekommen. Erst in den letzten paar hundert Jahren - im Zeitraum der Evolution nur ein kurzer
Augenblick - wird der Mensch mit Salz gepäppelt: Im Durchschnitt konsumieren Bürger in den Industrieländern hundertmal mehr Salz als ihre Urahnen - 15 Gramm pro Tag in Deutschland, gut 25 Gramm in den USA und sogar 40 Gramm pro Tag in Japan.
Diese »schleichende Kochsalzvergiftung« machen die Mediziner mehrheitlich für den Bluthochdruck (Hypertonie) verantwortlich, ein chronisches und schmerzloses Leiden, daß erst nach Jahrzehnten zu Krankheitssymptomen führt. Je höher der Druck in den Arterien steigt, desto schneller altern diese, sie werden starr und eng, »arteriosklerotisch«. Durchblutungsstörungen sind die Folge, Herzinfarkt, Schlaganfall und Nierenversagen häufige Komplikationen.
Im Jahre 1895 erfand der italienische Kinderarzt Scipione Riva-Rocci eine unblutige und gänzlich harmlose Methode des Blutdruckmessens: Man legt eine aufblasbare Gummimanschette um den Oberarm, die mit einem Meßgerät gekoppelt ist, das den ausgeübten Druck in Millimeter Quecksilbersäule (mm Hg) angibt. Durch das Aufpumpen der Manschette komprimiert der Arzt vorübergehend Muskeln und Adern und unterbindet so jede Blutzirkulation.
Beim langsamen Nachlassen des Manschettendrucks nimmt der Untersucher mit Hilfe eines in der Ellenbeuge aufgesetzten Hörrohres ein deutliches Geräusch wahr, wenn sich die Armschlagader zum erstenmal nach einem Herzpumpenstoß (Systole) wieder öffnet. Es ist der Moment des höchsten Drucks in den Gefäßen - der obere (systolische) Wert des Blutdrucks. Während der Herzmuskel erschlafft (Diastole) und sich dabei wieder mit Blut füllt, sinkt der Blutdruck auf seinen unteren (diastolischen) Wert.
Beide Blutdruckwerte sind gleich wichtig. Nach langem Hin und Her haben sich die Ärzte, von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) immer wieder angestoßen, auf eine Interpretation geeinigt: Beim Erwachsenen gehören danach zum Normalbereich Werte bis zu 140/90 mm Hg. Systolische Werte über 160 mm Hg und diastolische Werte über 95 gelten als Hochdruck - dazwischen liegt eine Grauzone, die »ärztliche Überwachung« (WHO) geraten erscheinen läßt.
Legt man diese Definitionen zugrunde, so sind mindestens 12, womöglich sogar 20 Prozent der bundesdeutschen Erwachsenen hochdruckkrank.
Aus anderen Industrieländern werden ähnliche Zahlen gemeldet. Gänzlich unbekannt ist die Hypertonie nur noch in abgeschiedenen Weltgegenden, wo primitive Stämme extrem salzarm leben: Am Amazonas, in Polynesien, auch in Grönland und in Südpersien suchte der US-Mediziner Professor Lot Page aus Boston vergeblich nach einem einzigen Blutdruck-Patienten. Nicht einmal die Häuptlinge hatten Hypertonie.
Solche Forschungsergebnisse bestärkten die Experten darin, dem Salz die Schuld am Desaster zuzuweisen. Völlig ungeklärt blieb bisher jedoch die Frage, warum die Natriumchlorid-Überdosierung nicht allen Menschen in gleicher Weise schadet. Für den salzigen Exzeß, dieses Massenexperiment in der Geschichte der Menschheit, büßt nur eine Minderheit: »höchstens 30 Prozent«, wie das »Journal of the American Medical Association« (Jama) konstatierte, nicht ohne diesen Umstand »erstaunlich, sehr erstaunlich« zu finden.
Das Rätsel hoffen fünf deutschsprachige Mediziner zu lösen, die an der Universitätsklinik für Innere Medizin in Innsbruck experimentieren. Sie legten jüngst ein »neues Konzept« für die Entstehung der Hypertonie vor. Es handele sich, sagt der Oberarzt Falko Skabal, 40, zwar nur um eine »Hypothese«, doch sei sie durch Versuche an Freiwilligen abgesichert: Hochdruckkranke weisen eine möglicherweise ererbte Überempfindlichkeit gegen Noradrenalin, einen körpereigenen Wirkstoff des Nebennierenmarks, auf. Noradrenalin sorgt, unter anderem, für eine erhöhte Rückgewinnung des Natrium-Anteils aus dem Kochsalz in der Niere.
Seit längerem ist bekannt, daß eine Erhöhung der Natriumkonzentration auch auf die Muskelzellen in der Wand der Blutgefäße wirkt. Es entsteht eine höhere Bereitschaft zur Verengung, die wiederum den Blutdruck steigert.
Seine gestörte Natriumbilanz sucht der Organismus, so vermuten die Innsbrucker in einem Aufsatz für die »Deutsche Medizinische Wochenschrift«, durch Druckerhöhung wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Unter Druck scheiden die Nieren anfänglich mehr Natrium aus. Aber: »Das würde es über die Jahre mit sich bringen, daß sich die Hochdruckkrankheit entwickelt.«
Unter ihren Freiwilligen, 52 gesunden Medizinstudenten, fanden die Tester zwei Gruppen heraus: eine Minderheit, die auf salzarme Kost mit einer empfindlichen Blutdrucksenkung, also »salzsensitiv«, reagierte und eine Mehrheit, deren
Blutdruck vom NaCl-Gehalt der Testmahlzeiten unbeeinflußt, also »salzresistent« blieb. Das Experiment brachte noch weitere Unterschiede zwischen den beiden Gruppen zutage: Eltern und Großeltern der Eltern und Großeltern der »Salzsensitiven« litten 2,5mal häufiger an Hochdruck als die Vorfahren der »Salzresistenten«. Und die Empfindlichen reagierten auf die Zufuhr von Noradrenalin durch eine Infusion mit einem »doppelt so starken Blutdruckanstieg«.
Ihre Kandidaten wollen die Innsbrucker im Auge behalten. Sie erwarten, daß die »Salzsensitiven«, deren Blutdruck derzeit noch keinen Anlaß zur Beunruhigung bietet, im Laufe des Lebens einen Hochdruck entwickeln werden - falls sie auch weiterhin in den üblichen Mengen Kochsalz konsumieren.
Doch Salz allein macht auch den Sensitiven nicht zwangsläufig krank. Die Hypertonie entwickelt sich mit größerer Wahrscheinlichkeit und vor allem schneller, wenn beispielsweise psychosozialer Streß, starkes Übergewicht, Genußmittelmißbrauch und Bewegungsmangel hinzukommen. Auch Umweltbelastungen wie Lärm und Luftverschmutzung treiben den Blutdruck nach oben. Mit Medikamenten ist dagegen allerdings wenig auszurichten. Die meisten Arzneistoffe stiften, vor allem, wenn sie langfristig eingenommen werden, eher Schaden als Nutzen.
Die Idee, besonders gefährdete Salz-Konsumenten rechtzeitig zu entdecken und zu warnen, stößt noch auf untersuchungstechnische Schwierigkeiten.
So mußten die Innsbrucker Freiwilligen nicht nur immer wieder zu Tisch und Test gebeten werden, sie entzogen sich auch der geforderten »automatischen Blutdruckaufzeichnung über Stunden«. Auch die Einspritzung des »Notfall«-Hormons Noradrenalin direkt in die Blutbahn gehört sicher nicht zum Vorsorge-Wunschprogramm der Gesunden. Dozent Skabal und seine Mitarbeiter forschen deshalb nach weniger eingreifenden biochemischen Labormethoden, mit deren Hilfe sich die »Salzsensitiven« entdecken ließen.
Hochdruckkranke und ihr Nachwuchs sollten sich, so empfehlen die Ärzte, mit fünf Gramm Salz pro Tag zufriedengeben. »Jama« empfiehlt seinen ärztlichen Lesern, alle Patienten mit hochdrucckranken Eltern, mit chronischen Nierenleiden und auch die »meisten Menschen über 50« auf Salzverzicht einzuschwören - vorsichtshalber.
Solche allgemeine Prophylaxe trifft allerdings auch viele, denen Salz nicht schadet. In Innsbruck hofft man deshalb, noch in diesem Jahr einen akzeptablen Test vorstellen zu können, der Salzempfindliche und -unempfindliche schnell und reinlich scheiden soll.
Für die Sensitiven bleibt dann ein freudloser Weg. Drei Tage dauert es nur, bis der Gaumen eines lebenslang salzarm ernährten Steinzeitmenschen das kristalline Produkt köstlich findet und er seine Suppe freiwillig hundertfach übersalzt.
Wer aber als Hochdruckkranker auf salzarme Diät gesetzt wird und sich daran hält, der jammert noch nach sechs Wochen über den »faden Geschmack« seiner gesunden Kost.