Corona-Pandemie So unterschiedlich meisterte Europa die erste Welle

Vor sechs Monaten breitete sich das Coronavirus rasant in Europa aus. Die Länder reagierten ganz unterschiedlich darauf - mit entsprechenden Konsequenzen. Eine Bilanz der ersten Pandemiewelle in Zahlen.
Die Statistiken und Kennzahlen der ersten Monate liefern wichtige Hinweise über den Verlauf der Pandemie

Die Statistiken und Kennzahlen der ersten Monate liefern wichtige Hinweise über den Verlauf der Pandemie

Foto: DER SPIEGEL

Als das neuartige Coronavirus nach Europa kam, geschah dies weitgehend unerkannt. Die Menschen wussten kaum etwas über den Erreger und die Krankheitssymptome. Es gab keinerlei Vorsichtsmaßnahmen. Ein exponentielles Wachstum der Fallzahlen war die Folge.

Der weitere Verlauf ist bekannt: überfüllte Notaufnahmen in Italien, Ausgangsbeschränkungen, Schulschließungen, Homeoffice. Mehr als 200.000 Menschen sind in Europa bislang an Covid-19 gestorben.

Dabei verlief die erste große Welle der Pandemie von Land zu Land durchaus unterschiedlich. Die Analyse der Daten bringt einige überraschende Einsichten - etwa über offenkundige Lücken in den offiziellen Statistiken und die Besonderheiten Schwedens im Umgang mit der Pandemie.

Der Fokus der Auswertung liegt dabei auf den Todesstatistiken der Länder. Denn diese spiegeln den Pandemieverlauf in der Regel genauer wider als Infektionszahlen, deren Höhe vor allem von der aktuellen Teststrategie in den Ländern abhängt.

1) Wo die meisten Menschen gestorben sind

Schaut man auf die Todesopfer laut den offiziellen Coronastatistiken der Länder, wurde - bezogen auf die Einwohnerzahl - Belgien am härtesten getroffen. Das Land kommt auf 87 Covid-19-Tote je 100.000 Einwohner. Deutschland liegt bei 11 Toten je 100.000, Griechenland bei zwei.

Doch die offiziellen Corona-Zahlen sind zumindest in einigen Ländern offensichtlich unvollständig. Denn nicht alle Todesopfer des Coronavirus wurden als solche registriert und in der Statistik ausgewiesen.

2) Nicht erfasste Covid-19-Tote

Als die Todeszahlen im März und April rasant anstiegen, kamen schnell auch erste Zweifel an den offiziellen Statistiken auf. Es gab Berichte aus italienischen Dörfern, wo plötzlich viel mehr Menschen beerdigt wurden als normalerweise - gleichzeitig aber kaum Covid-19-Tote gemeldet wurden.

Klarheit schaffte schließlich der Vergleich der meist in Standesämtern erfassten wöchentlichen Sterbefälle mit dem Mittelwert der Sterbefälle aus den Vorjahren - also den erwarteten Sterbefällen. Hier zeigte sich in einigen Ländern eine auffällige Übersterblichkeit - siehe die roten Linien in den folgenden Länderdiagrammen:

Trägt man in das Diagramm mit den wöchentlichen Todesfällen noch die in der jeweiligen Woche offiziell erfassten Covid-19-Toten ein, zeigt sich, wie verlässlich die Coronastatistiken in den einzelnen Ländern sind - siehe graue Flächen in den Diagrammen oben.

In Frankreich, Deutschland, Belgien und Schweden passen Übersterblichkeit und die offizielle Zahl der Covid-19-Toten grundsätzlich gut zusammen.

Spanien, Italien, Großbritannien und die Niederlande hingegen haben womöglich nicht alle Coronatoten als solche erfasst. Diese Länder stehen in der offiziellen Todesstatistik, welche die Johns Hopkins University täglich zusammenträgt, somit besser da als sie es wahrscheinlich sind. Würde man mit den Übersterblichkeitsfällen rechnen, ergäben sich für diese Länder folgende Totenzahlen je 100.000 Einwohner:

3) Wo die Welle zuerst eintraf

In Italien grassierte das Virus vermutlich zuerst, dann folgten unter anderem Deutschland und Großbritannien - und mit etwas Verspätung Skandinavien und schließlich Osteuropa und der Balkan. Vom Tag mit den ersten Coronatoten bis zum Scheitelpunkt der ersten Welle, also dem Zeitpunkt, an dem die meisten Menschen pro Tag starben, lagen meist um die 50 Tage.

Folgende Heatmap zeigt den Verlauf der täglichen Todeszahlen für ausgewählte Länder Europas. Die dunkelrote Färbung zeigt den Zeitpunkt der höchsten täglichen Todeszahlen je Land.

4) Wo die Fallzahlen schnell wieder gesunken sind

Besonders aufschlussreich ist der Blick auf den weiteren Verlauf der Welle nach Erreichen des Scheitelpunkts. Viele Länder erließen drastische Schutzmaßnahmen, damit die Infektionen schnell wieder zurückgehen - und mit ihnen die Zahl der täglichen Todesopfer.

Die meisten Länder, darunter auch das besonders betroffene Italien, konnten die Zahl der täglichen Covid-19-Todesfälle nach Erreichen des Höchstwerts binnen 20 Tagen wieder halbieren.

Mit knapp 30 Tagen brauchten Großbritannien, die Niederlande und Dänemark deutlich länger. Schweden benötigte sogar 50 Tage, bis die Zahlen dauerhaft mindestens halbiert waren - siehe folgendes Diagramm:

Es fällt auf, dass die Kurven von Schweden und Großbritannien sich am langsamsten nach unten bewegen. Das könnte an der Coronapolitik dieser Länder liegen. Beide ergriffen zunächst eher lasche Schutzmaßnahmen, Schweden hält bis heute daran fest. Ein langsamer Rückgang kann auch damit zu tun haben, dass sich die Infektionen nicht auf wenige Hotspots konzentrierten, sondern sich nach und nach in mehreren Regionen des Landes ausgebreitet haben. Dadurch überlagern sich mehrere zeitlich verschobene Kurven zu einer breiteren Kurve.

5) Die Gegenmaßnahmen

Es wurde viel debattiert, ob die vielen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie angemessen waren oder überzogen. Forscher der University of Oxford haben eine Maßzahl entwickelt, welche die Coronapolitik der Länder vergleichbar machen soll: den sogenannten Government Response Stringency Index . Darin fließen 17 verschiedene Indikatoren ein, etwa Art und Umfang von Schulschließungen, Ausgangsbeschränkungen, Finanzhilfen für Unternehmen und Investitionen in die Impfstoffentwicklung.

Folgendes Diagramm zeigt den Verlauf des Government Response Stringency Index für europäische Länder. Werte, Datum und Land werden angezeigt, wenn Sie die Linien anklicken oder berühren. Der Wert 0 steht für gar keine Reaktion, der Wert 100 für die strengstmögliche Reaktion auf die Coronakrise.

Der Verlauf verdeutlicht den schwedischen Sonderweg: Während Deutschland und die meisten anderen Länder anfangs viele strenge Maßnahmen kurz nacheinander ergriffen, setzte die schwedische Regierung stärker auf Empfehlungen und Freiwilligkeit. Gut erkennbar sind auch die Lockerungen in fast allen Ländern ab Mai und Juni.

6) Weniger Verkehr

Die Folgen der Corona-Pandemie zeigten sich unter anderem auf den Straßen: Der Autoverkehr ging deutlich zurück - am stärksten in Spanien und Italien.

Vergleichsweise geringe Änderungen gab es Nord- und Mitteleuropa. Die Situation war dabei in urbanen und ländlichen Räumen verschieden. In großen Städten mit vielen Büroarbeitsplätzen gingen viele Menschen ins Homeoffice, der Pendlerverkehr brach ein. Auf dem Land war der Rückgang nicht so stark.

7) Daheim in Europa

Wie drastisch die Maßnahmen beispielsweise in Italien und Spanien waren, zeigt auch die Präsenz der Menschen in ihrem Zuhause. Google hat diese über Mobilitätsdaten gemessen. Der Internetkonzern zählt permanent, wie oft bestimmte Orte von Menschen frequentiert werden, etwa Bahnhöfe, Supermärkte oder der Arbeitsplatz. Google nutzt dafür Trackingdaten von Handys und setzt diese ins Verhältnis zu Durchschnittswerten aus der Vergangenheit.

Wegen der strengen Ausgangsbeschränkungen mussten die Menschen beispielsweise in Madrid wochenlang zu Hause bleiben und durften die Wohnung nur zum Einkaufen verlassen. Die geringsten Veränderungen gab es laut den Googledaten in Schweden, Finnland und Deutschland.

8) Rollt bereits die nächste Welle?

Die erste Coronawelle ist über Europa gerollt. Doch weil die Infektionszahlen in vielen Ländern inzwischen wieder langsam steigen, wächst die Sorge vor der oder den nächsten Wellen. Zumindest in der Todesstatistik ist - über ganz Europa gesehen - bislang kein Anstieg der Zahlen erkennbar.

Das Diagramm zeigt jedoch auch, dass in Europa derzeit immer noch jeden Tag etwa hundert Menschen an Covid-19 sterben. Die meisten davon in Großbritannien, Polen, Spanien und der Republik Moldau.

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