Das Geheimnis des Zaren
Gerade eben hat man Nikolai Newolin wieder vier fürchterlich zugerichtete Tote ins Leichenschauhaus gebracht, und so geht das Tag für Tag. Bandenkriminalität um das Spielkasino der Stadt, Auftragsmorde unter Mafiosi - die russischen Umwälzungen haben längst auch Jekaterinburg, die Provinzstadt am Ural, erreicht. Der oberste Gerichtsmediziner hat einen 16-Stunden-Tag.
Und doch besteht Newolin auf seinem täglichen »rituellen Rundgang«, um regelmäßig nach den besonderen Gebeinen zu schauen, die ihm anvertraut sind - den Überresten der Zarenfamilie. Seit mehr als vier Jahren liegen sie nun in seinem Leichenschauhaus. »Es ist unsere Pflicht, sie endlich zu begraben«, sagt Newolin verzweifelt und plädiert dafür, die Knochen hier am Ural zu beerdigen, wo die Romanows ermordet wurden und wo sie schon einmal, vor 77 Jahren, verscharrt waren. Doch der Mediziner weiß, keiner wird ihn fragen.
Es geht um eine Sache von höchstem nationalen Interesse. Die Entscheidung liegt bei dem Mann, der hier an der Grenze zwischen Europa und Asien groß geworden ist, als KP-Gebietssekretär des Bezirks Swerdlowsk seinen Aufstieg schaffte und vor wenigen Wochen in Jekaterinburg seine erneute Kandidatur für die Präsidentenwahl in diesem Juni bekanntgab: Boris Jelzin.
Werden die Romanows heiliggesprochen und womöglich in einer Prunkzeremonie in der Familiengruft von St. Petersburg beigesetzt? Werden ihre Mörder - und mit ihnen Auftraggeber Lenin - von der Geschichte endgültig schuldig gesprochen? Riskiert Jelzin, knapp fünf Jahre nach dem Ende der Sowjetunion, die nationalistisch-konservative Stimmung im russischen Volk mit der Zaren-Rehabilitierung weiter anzuheizen?
Der Zarenkult lebt wieder in diesem Land, das sich nach starker Führung sehnt und seine Vergangenheit gern verklärt. Vor dem Moskauer Kaufhaus »Gum« wie auf dem Petersburger Newski Prospekt tragen viele voller Stolz die schwarz-weiß-goldenen Kaiser-Farben. Der Zaren-Doppeladler erscheint wie früher im Staatswappen und schmückt die Mützen der Generäle. Es gibt einen Run auf Romanow-Literatur und eine Romanow-Renaissance in der Kunstmalerei.
Im orientierungslosen und verunsicherten Rußland bestimmt der Umgang mit der Geschichte immer unmittelbar die politische Zukunft des Landes - und wird damit brisante Politik. Das Massaker von 1918 hat mehr als ein Herrschergeschlecht dahingerafft; mit dem Mord starb eine ganze Epoche, die bis 1547 zu Iwan dem Schrecklichen, dem ersten der Gekrönten, zurückreicht.
Die Zaren hatten eine quasi göttliche Verfügungsgewalt über ihre Untertanen: Autorität über jeden Aspekt in ihrem Leben, von Entscheidungen über Krieg und Frieden bis hin zum Nachbarschaftsstreit über eine Kuh. Der Zar von Rußland war Rußland, das Gesetz machte keinen Unterschied zwischen dem Willen seines Herrschers und dem Wohlergehen des Volkes.
Doch Anfang März 1917 machte der Petersburger Volksaufstand der Zarenherrlichkeit ein Ende. Am 15. März mußte Nikolai II., ein Zauderer, unfähig zu überfälligen Reformen, zurücktreten, fünf Monate später verbannte ihn die provisorische Regierung des Alexander Kerenski in die sibirische Kleinstadt Tobolsk. Die Bolschewiki verbannten nach ihrem Oktoberputsch die Zarenfamilie im April 1918 dann nach Jekaterinburg in ein Haus, das dem Ingenieur Ipatjew gehört hatte.
Um das Gebäude ließen sie einen vier Meter hohen Zaun bauen, es wurden die Fenster versiegelt und das Glas weiß gestrichen, so daß kein Blick mehr in die »Außenwelt« möglich war. ** Mark D. Steinberg and Vladimir M. Khrustalev: _("The Fall of the Romanovs«. New ) _(Haven und London, Yale University Press, ) _(1995; 444 Seiten; 27,50 Dollar. Robert ) _(K. Massie: »Die Romanows. Das letzte ) _(Kapitel«. Berlin Verlag, 1995; 376 ) _(Seiten; 42 Mark. ) _(* Ipatjew-Haus, 1977 auf Breschnews ) _(Befehl von Jelzin niedergerissen. )
Der Ural-Sowjet setzte sich für die Hinrichtung ein, Kriegskommissar Trotzki empfahl einen Schauprozeß gegen den Ex-Kaiser in Moskau. Lenin selbst erwog, die Familie als Faustpfand zu behalten und Nikolai, den Mitverantwortlichen an Rußlands Niederlage, zur Unterzeichnung des Friedensvertrags von Brest-Litowsk mit den Deutschen zu zwingen.
Doch alliierte Interventionstruppen und eine Legion tschechischer Emigranten und Ex-Kriegsgefangener näherten sich von Sibirien her Jekaterinburg, eine Befreiung des Zaren drohte. Der Jekaterinburger Sicherheitschef und Kommandant des Zaren-Gefängnisses, Jakow Jurowski, empfing am 16. Juli ein Telegramm aus dem Ural-Verwaltungszentrum Perm: »R-ows auslöschen.« Der wahre Auftraggeber aber saß in Moskau: Wladimir Iljitsch Lenin.
Manches an der geheimnisvollen Geschichte des letzten Zaren bleibt für Historiker bis heute zweifelhaft; aber vieles ist durch die jüngste Öffnung Moskauer Archive erhellt und durch Recherchen geklärt worden: ein Polit- und ein Wissenschafts-Krimi zugleich**.
Die Zarenfamilie ahnt nichts am Dienstag, dem 16. Juli 1918, dem Tag 78 ihrer Gefangenschaft in dem Ipatjew-Haus, das die Bolschewiki mit ihrer großen Begabung für Euphemismen »Haus zur besonderen Verwendung« getauft haben.
Sie hat sich in ihre Arrestroutine gefügt: karge Mahlzeiten mit Tee und Schwarzbrot, Spaziergänge auf dem abgesperrten Hof, gemeinsames Beten und solidarische Hausarbeit mit dem Koch, der Zofe und dem Familienarzt.
Gegen Mitternacht kommt Chefbewacher Jakow Jurowski die Treppe herauf, um die Groß-Familie zu wecken. Im Haus versteckt warten elf Kumpane mit Revolvern und Gewehren, die Mehrzahl von ihnen lettischer und ungarischer Abstammung (unter ** Von Jurowski, Uhrmacher, Fotograf und bol- _(schewistischer Untergrundkämpfer ) _(seit 1904, sind in den jetzt geöffneten ) _(Parteiarchiven zwei Aussagen zum ) _(Tathergang übermittelt, seine Notizen ) _(von 1920 und eine parteiinterne Rede von ) _(1934. Nach der Tat war er Chef der ) _(Geheimpolizei Tscheka in Jekaterinburg ) _(geworden. Jurowski starb 1938 im ) _(Kreml-Krankenhaus. ) _(* Am 25. Mai 1919 bei einer ) _(Truppenparade auf dem Roten Platz in ) _(Moskau. )
ihnen auch ein Imre Nagy, möglicherweise der spätere ungarische Premier). Jedem einzelnen hat Jurowski zuvor sein Mordopfer zugeteilt; zwei Letten mochten auf ihre Ziele, die Zarentöchter, nicht schießen.
Doktor Botkin, der Hausarzt, öffnet. Jurowski erklärt die Störung so: »Die Lage in der Stadt ist unsicher, und so sehen wir uns zum Schutz der Familie genötigt, die Familie nach unten zu verlegen« - in das Souterrain.
Sie brauchen mehr als eine halbe Stunde zum Anziehen: Alexandra, die Ex-Kaiserin, 46, und ihre Töchter Olga, 22, Tatjana, 21, Marija, 19, und Anastassija, 17, haben schlichte Kleider übergestreift. Nikolai, 50, trägt Hose mit Stiefeln und Uniformhemd wie der an Bluterkrankheit leidende Sohn Alexej, 13, den er zum Innenhof hinunterschleppt, und dann weiter in den Keller: 23 Treppenstufen.
»Keine Tränen, kein Schluchzen, auch keine Fragen«, notiert später Pawel Medwedew, einer von Jurowskis Leuten. Alexandra bittet wegen ihrer Ischias-Schmerzen lediglich um eine Sitzgelegenheit im leergeräumten Souterrainraum. Die Zarin und ihr Sohn nehmen auf herbeigeholten Stühlen Platz. Den anderen befiehlt Jurowski, sich in einer Reihe aufzustellen, als ob sie fotografiert werden sollten.
Dann sagt er, zu Nikolai gewandt: »Angesichts der Tatsache, daß Ihre Verwandten in Europa die Aggression gegen Sowjetrußland fortsetzen, hat das Ural-Exekutivkomitee beschlossen, Sie zu erschießen.«
»Wie? Was ist los?« fragt Nikolai noch. Jurowski wiederholt, zieht dann den Colt aus der Tasche und schießt ihm ins Herz. In dem winzigen überfüllten Raum beginnt nun »statt ordentlicher Exekution ein chaotisches Herumgeballere« (Jurowski). Überall Blut, Schreie und Wimmern. Umherfliegende Kugeln, die vor allem von den Körpern der jungen Großfürstinnen abprallen, als trügen sie einen Panzer.
Die Mörder packt Panik; einige von ihnen sind taub von den Schüssen, manche durch Querschläger verletzt. Sie laden nicht nach. Sie greifen zu ihren Bajonetten und stechen auf die Sterbenden ein, Dutzende Male. Dann, endlich, bewegt sich nichts mehr.
Die »ganze Prozedur« inklusive Pulskontrolle dauert laut Jurowski über 20 Minuten - erschwert, wie er bedauernd bemerkt, »durch unsere Unerfahrenheit in Liquidationsfragen"**.
Der Kommandant hatte zwei Tage zuvor 20 Kilometer nordwestlich von Jekaterinburg den Ort bestimmt, an dem die Erschossenen verscharrt werden sollen; ein Gebiet mit Sumpf, Torfmooren und Grubenschächten, als »Vier Brüder« bekannt, weil hier einmal vier riesige Kiefern standen.
In der vorbereiteten Grube steht das Wasser höher als erwartet. Nicht weit entfernt ist ein schmaler Schacht, der einige Meter in die Erde hineinreicht und trockener zu sein scheint. Jurowski bestimmt ihn als Grabstätte, läßt abladen.
Beim Entkleiden der Leichen entdecken die Männer, warum so viele Kugeln abprallten - die Zarentöchter verbargen im Korsett den Familienschatz aus Diamanten. Der Kommandant stellt mit gezogener Pistole acht Kilogramm Edelsteine sicher. Den in den Schacht geworfenen und mit Säure versetzten Leichen schleudert er ein paar Handgranaten hinterher, um den Hohlraum zum Einsturz zu bringen.
Die Politchefs in Moskau erhalten am Abend einen Bericht. Jakow Swerdlow, Lenins engster Berater, unterbricht eine Beratung der Volkskommissare über Gesundheitspolitik und meldet: »Wir haben Nachricht erhalten, daß auf Beschluß des Ural-Gebietssowjet in Jekaterinburg Nikolai erschossen worden ist. Alexandra und ihre Kinder sind in zuverlässigen Händen.« Stille - dann läßt Lenin fortfahren mit der Tagesordnung.
Noch Jahre hält die sowjetische Führung an der Lüge fest, daß alle Romanows bis auf den Zaren am Leben seien. Die deutsche Regierung, die sich 1918 öfter nach dem Schicksal der Zarin, einer ehemaligen Hessen-Prinzessin, und ihrer Kinder erkundigt, wird beruhigt. Es ist sogar von einem Austausch Kriegsgefangener gegen die Romanows die Rede - bis 1924 im Pariser Exil ein russischer Ermittlungsbeamter namens Nikolai Sokolow seinen akribischen Untersuchungsbericht aus Jekaterinburg vorlegt.
Acht Tage nach dem Massaker hatten antibolschewistische Weiße die Stadt am Ural erobert. Sie entdeckten die Spuren von Gewalt im Ipatjew-Haus, beriefen eine Untersuchungskommission unter dem damals 36jährigen Sokolow.
Als im Juli 1919 Jekaterinburg wieder in die Hände der Roten fiel, nahm Sokolow alle seine Fundstücke, Indizien und Protokolle in einer Kiste mit auf seine Flucht nach Frankreich. Er hatte schnell den Schacht bei den »Vier Brüdern« gefunden; er stöberte die Gürtelschnalle des Zaren auf, die Brille von Botkin, einen einzelnen Finger und den Kadaver des Schoßhündchens. Sokolow fand aber nicht die Leichen - so blieben Zweifel, Gerüchte wollten nicht verstummen. Immer wieder wurden sie genährt durch Hochstapler, die sich als Überlebende der Jekaterinburger Nacht ausgaben, um Anspruch zu erheben auf den Thron und auf das Romanow-Erbe (siehe Kasten Seite 184).
Erst mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Tat macht ein Geologe mit kriminalistischem Gespür eine sensationelle Entdeckung - und verschweigt aus Angst vor den Folgen seinen Fund noch einmal fast zehn Jahre: Alexander Awdonin.
Er arbeitet, besessen vom Zaren-Schicksal, auf eigene Rechnung in einem kleinen Büro, in einem Hochhaus von Jekaterinburg. Der Wissenschaftler hat eine Karte angefertigt, mit fein säuberlichen Strichen, genauen Ortsentfernungen, verschiedenfarbigen Punkten. Diese Karte ist sein Schatz. Mit ihrer Hilfe hat er einen weißen Fleck in der Geschichte seines Landes getilgt.
»Hier genau lagen die Gebeine der Romanows«, sagt er, trommelt mit dem Zeigefinger auf den Tisch, als sei alles eben erst passiert: »Diese Familie wurde verleumdet, verfolgt, brutal ermordet! Wir haben ihre Überreste aus einem Drecksloch geholt, gerettet«, ruft er erregt, »von diesen Gebeinen sollte jetzt die Einigung unseres Volkes ausgehen, das durch die Kommunisten gespalten wurde - und statt dessen spalten sie weiter, die Wissenschaftler, die Politiker, die Kirchenfürsten!«
Schon als Schüler machte er seine Streifzüge durch die hügeligen Wälder seiner Heimat am Ural. Jekaterinburg hatten die Kommunisten in Swerdlowsk umbenannt, nach Jakow Swerdlow, dem Lenin-Freund und zweiten Staatsoberhaupt des Sowjetstaats - sozusagen Nikolais Nachfolger -, und zu einer für Ausländer gesperrten Stadt der Rüstungsindustrie ausgebaut.
Der Junge hörte Gerüchte: Swerdlow habe den Befehl gegeben, die 1918 in der Stadt eingesperrten Romanows umzubringen; im Wald lägen noch immer Leichen von damals; es gebe Augenzeugen - sogar Überlebende des Massakers, womöglich zwei der Zarenkinder. Awdonin begann zu recherchieren, lernte die Nichte eines der damaligen Wachsoldaten kennen, den Sohn eines der Schergen, die geschossen hatten.
Immer wieder sah er sich auch die Ausstellungen im Ipatjew-Haus an, das Revolutionsmuseum geworden war, Sitz der »Atheistischen Gesellschaft«. In einem Raum wurde der Romanows gedacht - mit einem eingerahmten Jekaterinburger Zeitungsausschnitt: »Nikolai, der Blutige, der gekrönte Mörder, exekutiert - erschossen ohne bourgeoise Formalitäten, aber in Übereinstimmung mit unseren neuen demokratischen Prinzipien«.
Meist sei er allein gewesen in dem alten Haus, erinnert sich Awdonin heute. Dem KGB-Chef (und späteren KPdSU-Generalsekretär) Jurij Andropow aber trugen 1977 seine Spitzel zu, Monarchisten sammelten sich regelmäßig in der Ipatjew-Villa. KP-Chef Leonid Breschnew wies darauf den Ersten Sekretär der Swerdlowsker Region an, das Haus dem Erdboden gleichzumachen. Der schickte widerspruchslos die Bulldozer - und bereut diese Tat bis heute: Es war Boris Jelzin. In seiner Autobiographie schrieb er hernach: »Schon damals fühlte ich, daß wir uns eines Tages dieser Barbarei schämen würden.«
Ein Jahr später grub der Hobby-Detektiv Awdonin mit neuer Hoffnung nach den Zaren-Gebeinen. Er war davon überzeugt, das Feuer des Exekutionskommandos habe nicht alle Spuren von damals beseitigen können - und suchte nun an einem ganz anderen Platz nach Überresten. Ungereimtheiten in den Augenzeugenberichten, ein geheimnisvolles Foto, merkwürdige Zeitverschiebungen hatten ihn zu der Vermutung gebracht, daß dort die Leichen liegen mußten.
Awdonin freundete sich mit Geli Rjabow an, einem Moskauer Filmemacher. Gemeinsam trieben sie in Leningrad 1978 Alexander Jurowski auf, Vizeadmiral und Sohn des Mannes, der einst für die Exekution der kaiserlichen Familie zuständig war. Er stellte ihnen die Kopie des bei ihm zu Hause aufbewahrten Kommandanten-Berichts zur Verfügung, dessen Original damals noch im Geheimarchiv der Partei lag.
Das Dokument bestätigte, was der findige Geologe vermutet hatte: Jakow Jurowski hatte die Leichen tatsächlich - zur Verschleierung der Spuren - noch einmal ausbuddeln lassen, 24 Stunden nach dem Mord und dem ersten Vergraben. Und er hatte sie dann an einem geheimen Ort erneut verscharrt: »Koptjaki, neun Werst nordwestlich von Jekaterinburg. Die Bahntrasse führt in fünf Werst Entfernung vorbei . . . Von der Stelle, wo die Bahngleise (die Straße) kreuzen, etwa 200 Meter in Richtung Issjet-Werk sind sie vergraben.«
In der Nacht zum 30. Mai 1979 zogen Awdonin und seine Freunde los. Überraschend schnell legten sie mit ihren Spaten drei Totenköpfe frei, »da bekamen wir Angst, es war zu unheimlich«. Sie verstauten die grausigen, von Säure zerfressenen menschlichen Überreste, fuhren zu Awdonin nach Hause, schauten sich ratlos an: »Das sind sie - und was sollen wir jetzt tun?«
Rjabow nahm zwei Schädel mit nach Moskau, einen, den des Zaren, wie er vermutete, behielt Awdonin in Jekaterinburg und verbarg ihn monatelang unter seinem Bett.
Die Knochensucher hatten Angst vor ihrer eigenen Courage bekommen, fürchteten KGB-Häscher, einen Prozeß wegen Einmischung in Staatsgeheimnisse. Im Sommer 1980 begruben sie die drei Schädel wieder an der alten Stelle in einer Holzkiste, mit einer kleinen Ikone aus Kupfer. Und sie schworen einander, ihr Geheimnis erst preiszugeben, wenn aus der Sowjetunion ein anderes Land geworden sei - oder ihr Wissen ihren Erben anzuvertrauen.
Die UdSSR wurde ein anderes Land. 1985 kam Michail Gorbatschow an die KP-Spitze, Perestroika und Glasnost öffneten Archive und nahmen den Menschen die Furcht. Anfang 1989 sah der Regisseur Rjabow die Zeit gekommen, die Informationen über das Zarengrab publik zu machen. Er schrieb an Gorbatschow, erhielt aber keine Antwort. So gab er der Zeitung Moskowskije nowosti ein Interview, in dem er den Fund präzise schilderte.
Nur ein Detail ließ Rjabow weg: Er erwähnte seinen Kompagnon Awdonin mit keinem Wort. Der Jekaterinburger hat seitdem mit dem Moskauer kaum mehr gesprochen, obwohl der sich später entschuldigte und zu erklären versuchte, er habe Awdonins Frau, eine Englischlehrerin, für KGB-gefährdet erachtet und schützen wollen. Wahrscheinlicher ist: Der Regisseur wollte den Ruhm allein.
Am 10. Juli 1991 wurde der erste gewählte Präsident Rußlands, der Jekaterinburger Jelzin, in sein Amt eingeführt. Der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche segnete Jelzin unter dem Zeichen des Kreuzes und sprach: »Nach dem Willen Gottes und der Wahl des russischen Volkes wird Ihnen das höchste Amt Rußlands übertragen« - Zar Boris als Nikolais Nachfolger.
Zwei Tage später und mit der Einwilligung Jelzins brach im Morgengrauen ein schwerbewachter Trupp ins Sumpfgebiet Koptjaki auf: Polizisten mit Schaufeln, Geheimdienstleute mit Videokameras, eine mit Befehl von höchster Stelle geholte und ob ihres Auftrags rätselnde Archäologin, der örtliche Staatsanwalt - und Alexander Awdonin.
Die Exhumierungsgruppe wurde schnell fündig; erst gruben die Männer aus dem lehmigen Boden die Holzkiste aus, mit den von ihren Entdeckern über ein Jahrzehnt zuvor zurückgelegten Schädeln. Dann entdeckten sie 14 Kugeln und weitere, teilweise von Feuer wie von Schwefelsäure angegriffene Schädel, auch zahlreiche Arm- und Fußknochen: die Überreste von neun Menschen - neun der elf, die im Ipatjew-Haus 1918 exekutiert worden waren. Die Opfer waren furchtbar zugerichtet, die Kiefer offenbar von Gewehrkolben zertrümmert.
Moskau schickte seinen besten Gerichtsanthropologen an den Ural, wo jetzt der Wissenschaftskrimi um die Identifizierung der Gebeine begann: kriminalistische Kleinarbeit, fernsehgerecht aufgearbeitet - eine Art »Zar und XY-Zimmermann«.
»Wir entwickelten ein ganz neues System«, sagte stolz Dr. Sergej Abramow dem amerikanischen Historiker und Pulitzerpreisträger Robert Massie. »Mit einer Videokamera nahmen wir die Schädel von vorn und im Profil auf. Dann verglichen wir mit Hilfe eines Computerprogramms die verschiedenen Schädelformationen mit den uns vorliegenden Fotos der Familie, berechneten Ähnlichkeiten und auch Wahrscheinlichkeiten von Ähnlichkeiten.«
Diese Verwendung von »Superimposition« (computergestützter Überlagerung) und kombinatorischer Mathematik führte zu folgender Frage: »Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß neun Skelette dieser Konstellation in einem einzigen Grab noch einmal vorkommen können?« Die Wissenschaftler wählten vier Faktoren: Geschlecht, Alter, Rasse und Größe. Sie errechneten, daß die Chance einer zweiten Skelettgruppe mit derselben Faktorenkombination eins zu 33 Billionen war - die Forscher waren sicher: »Wir hatten Romanow-Gebeine vor uns.«
Alle waren sich einig, daß der Zarewitsch fehlte; Abramows Ansicht nach war »Schädel sechs« der von Anastassija - von Marija, der dritten der vier Zarentöchter, fehlte jede Spur.
Mehr als 70 Jahre nach der Ermordung der kaiserlichen Familie kam es nun zu einem regelrechten Eifersuchtsdrama zwischen Moskau und Jekaterinburg um die sterblichen Überreste. Die Provinzstadt am Ural schaffte es sogar, diesen Konflikt zu internationalisieren: Sie zog die Weltmacht USA mit hinein.
Im Februar 1992 besuchte der amerikanische Außenminister James Baker das lange Zeit geheime Kernforschungszentrum Tscheljabinsk-70 in der Nähe von Jekaterinburg (die Stadt hatte ihren sowjetischen Namen Swerdlowsk in der Zwischenzeit abgelegt und nannte sich wieder nach Katharina, der Gattin und Nachfolgerin von Peter dem Großen).
Gebietsgouverneur Eduard Rossel, ein Deutschstämmiger, führte Baker ins Leichenschauhaus der Stadt, ließ den Entdecker Awdonin referieren, den US-Politiker gar einen Knochen Nikolais II. in Händen halten. Dann rückte Rossel mit seinem Anliegen heraus: »Haben Sie jemanden, der uns bei der endgültigen Identifizierung helfen könnte?«
Im Juli 1992 traf ein Team von der Universität Florida am Ural ein. Rossel hatte freilich »vergessen«, Moskau zu unterrichten - so wurden die Amerikaner ohne ihr Wissen zum »Jekaterinburg-Team« und damit zum Objekt innerrussischer Rivalitäten.
Einen Experten mit eindrucksvolleren Kenntnissen auf dem Gebiet der Knochenidentifizierung als den Amerikaner Dr. William Maples hätte man schwerlich finden können. Maples reklamiert für sich »eine lebenslange Faszination mit dem Tod«. Er finanzierte seine Ausbildung damit, daß er die Ambulanz eines Bestattungsunternehmers fuhr - immer als erster an der Unfallstelle, die Särge gefüllt, das Geschäft gemacht. Der besessene Anthropologe sah »schreckliche Dinge«, doch lernte er auch, noch bevor er 20 wurde, im Autopsieraum ungerührt seinen Chiliburger zu verspeisen.
Als Skelettforscher erwarb er Weltruhm, auch als Gutachter im Gerichtssaal. Maples sagte im Prozeß gegen den Serienmörder Ted Bundy aus, untersuchte die Gebeine des John Merrick, der als »Elefantenmensch« zu Hollywood-Ruhm kam. Er bewies, daß US-Präsident Zachary Taylor 1850 nicht vergiftet wurde, und er zerstörte den Peruanern eine Illusion: Was immer sie da an Überresten in einem prächtigen Marmorsarkophag in der Kathedrale von Lima hatten - die Knochen Francisco Pizarros, des 1541 ermordeten spanischen Konquistadoren, waren es nicht.
Dr. Maples und sein Team arbeiteten rund um die Uhr, mit modernsten Geräten, trugen alle Erkenntnisse bis ins kleinste zusammen, »ohne sich Zwischenergebnisse aufzuschreiben und weiteres Vorgehen abzusprechen, ganz anders als wir Russen«, wundert sich heute noch der örtliche Gerichtsmediziner Nikolai Newolin.
Skelettexperte Maples und sein in Zahntechnik versierter US-Kollege waren sich, unabhängig voneinander, schnell einig: »Objekt sieben«, ein Skelett, durch Bajonettstiche besonders zugerichtet und mit Platinkronen im Unterkiefer, »war« Kaiserin Alexandra. »Objekt vier«, Hüftknochen mit Deformationserscheinungen durch jahrelanges Reiten, flacher Gaumen, fliehende Stirn, fortgeschrittene Parodontose, mußte Nikolai II. sein.
Selbst Maples fand den folgenden Vorfall dann etwas makaber: »Wir gaben den Schädel untereinander herum, als wir plötzlich unter der Schädeldecke etwas rasseln hörten; es war ein verschrumpeltes Etwas, von der Größe eines kleinen Pfirsichs - das vertrocknete Gehirn des Zaren.«
Der Amerikaner kam zu Ergebnissen, die mit der ersten Untersuchung der Russen übereinstimmten. Einzige Ausnahme: Nach Maples Überzeugung stammte keines der weiblichen Skelette von einer so jungen Dame, daß es sich um Anastassija handeln könnte, am Tag ihrer Ermordung gerade 17 Jahre und einen Monat alt. Nicht Marija, wie Abramow meinte, sondern Anastassija fehlte.
Nach seiner Erfahrung mit gewalttätigen Todesfällen hält es der US-Wissenschaftler allerdings für höchst unwahrscheinlich, daß bei einer solchen Schlachthausszene wie im Ipatjew-Haus jemand davongekommen sein könnte, ganz abgesehen von den Augenzeugenberichten und anderen Belegen.
Auch in Moskau hatte man unterdessen Anstrengungen zur Zaren-Identifizierung unternommen. Dr. Pawel Iwanow, Chef des russischen Instituts für Molekularbiologie und DNS-Spezialist, nahm Kontakt mit britischen Kollegen auf, die auf diesem Forschungsgebiet weltweit als führend galten - solch komplizierte genetische Tests konnte in Rußland noch keiner durchführen. Im Westen wurden genetische »Fingerabdrücke« schon von Gerichten als Beweismittel anerkannt.
Im September 1993 flog Iwanow von Moskau nach London, in seinem Handgepäck zellophanverpackte Oberschenkelknochen von neun Leichen. Weil die Briten es pietätlos fanden, die Zaren-Überreste gar zu formlos »im Kofferraum unseres Volvo« in Empfang zu nehmen, stellten sie in Heathrow eine große schwarze Bentley-Limousine zum Abtransport ins Labor bereit.
Chef-Molekularbiologe Peter Gill gewann zunächst ganz vorsichtig aus der obersten Knochenschicht der Gebeine die DNS. Es klappte: Mit ihr ließ sich nachweisen, daß die Gebeine einer Gruppe von vier Männern und fünf Frauen zugehörten; daß darunter eine Familie von Vater, Mutter und ihren drei Töchtern war. Doch um die Identität dieser Familie klarzustellen, bedurfte es mehr - Blut- oder Knochenproben naher Verwandter.
Es begann die Suche nach geeigneten Romanow-Familienangehörigen. Kaiserin Alexandras älteste Schwester, Prinzessin Victoria, hatte eine Tochter Alice, die den Griechenprinzen Andreas geheiratet hatte. Aus dieser Ehe stammten vier Töchter und ein berühmter Sohn: Prinz Philip, Herzog von Edinburgh und Gemahl der Königin von England. Alexandras Großneffe ließ sich - Adel verpflichtet - nicht lange bitten. Er schickte im Handumdrehen ein Glasröhrchen mit seinem Blut in die Laboratorien Dr. Gills nach Aldermaston bei London.
Im November 1993 war die Sache klar: Die Sequenz der DNS-Basenpaare zeigte sich bei der Mutter, den drei Töchtern und Prinz Philip identisch. Gill und Iwanow wußten nun, daß die Knochen von Ex-Zarin Alexandra und drei ihrer Töchter stammten.
Wesentlich schwieriger war der Nachweis für Nikolai II. zu führen. Zwar gelang es, aus dem Oberschenkelknochen des »Objekts vier« genug Vergleichsmaterial zu gewinnen, doch die Suche nach passenden Verwandten schleppte sich hin.
Dr. Iwanow erinnerte sich schließlich daran, daß Nikolai noch als Thronfolger 1892 bei einer Japanreise von einem schwertschwingenden Attentäter angegriffen worden war und das blutgetränkte Taschentuch von damals in einem Museum von Otsu aufbewahrt war - vielleicht konnte man den Zaren durch seine eigene DNS identifizieren.
Da dem Russen die Finanzmittel für einen solchen Trip fehlten und die Japaner zunächst wenig Verständnis für sein Anliegen zeigten, gewann Iwanow den weltberühmten Cellisten Mstislaw Rostropowitsch als Finanzier und Türöffner in Fernost. Der Wissenschaftler bekam von den japanischen Behörden bei seinem Besuch dann einen Streifen von acht Zentimetern, mit Blutspuren. Die Tests brachten keine verwertbaren Erkenntnisse. Zu viele Menschen hatten das Tuch angefaßt, die Zellen waren im wahrsten Sinn des Wortes »abgestreift« oder verunreinigt.
Weiter ging die Suche. Die Wissenschaftler trieben in Kanada einen Sohn der jüngeren Schwester von Nikolai auf, doch der 75jährige weigerte sich »aus politischen Gründen«. Er hielt die ganze Sache für einen Schwindel.
Die DNS-Detektive wurden nun immer mehr zu Stammbaum-Forschern. Schließlich fanden sie in Schottland einen Abkömmling, den 3. Herzog von Fife, und in Athen eine Gräfin, Xenia Sfiris. Die beiden zeigten sich kooperativ, aus Griechenland kam das begehrte Tröpfchen Blut mit Diplomatenpost nach England.
Wie Gill und Iwanow erwartet hatten, paßten die Mitochondrien-DNS der Griechin und des Schotten genau zusammen; doch beim Vergleich mit dem DNS-Muster des Zaren gab es eine winzige Diskrepanz: 781 Paare bildeten jeweils identische Sequenzen, Nummer 782 fiel beim Zaren aus der Reihe.
Die Wissenschaftler nahmen an, daß bei Nikolai eine der seltenen Mutationen (Häufigkeit pro Generation: eins zu 300) stattgefunden hatte. Beweisen ließ sich das nicht. Aber Iwanow und Gill waren insgesamt von ihren Laborergebnissen doch so angetan, daß sie im Juli 1993, nach zehnmonatiger Arbeit, eine Pressekonferenz einberiefen.
»Wir sind ganz dicht am letzten Teil dieses Geheimnisses«, sagte Dr. Iwanow, und Dr. Gill nannte die Wahrscheinlichkeit, daß es sich um Romanow-Gebeine handelte, »nach der niedrigstmöglichen Interpretation 98,5 Prozent«.
Ganz nahe sei nicht nah genug, giftete, um seinen alleinigen Ruhm gebracht, aus Florida Dr. Maples - schließlich könnten bei der von der wissenschaftlichen Konkurrenz genannten Zahl immerhin »3 von den nächsten 200 älteren Männern, die Ihnen begegnen, der Zar sein«. Maples setzte weiter auf seine Jekaterinburger Kontakte: Ohne Moskau Bescheid zu sagen, erlaubten ihm die Verantwortlichen der Stadt am Ural, einige Zähne aus den menschlichen Überresten herauszubrechen und zu analysieren.
Da mochten die Hauptstädter nicht zurückstehen und veranlaßten im Juli 1994 eine Exhumierung, die sie Iwanow und Gill noch wenige Monate vorher versagt hatten: Die Gebeine von Großfürst Georgij, dem jüngeren Bruder des letzten Zaren, wurden aus der St. Petersburger Peter-und-Pauls-Kathedrale herausgeholt - ein schwieriges Unterfangen, weil dazu eine riesige Marmorplatte über dem Sarg abzuheben war.
Von dem guterhaltenen Leichnam entnahmen die Experten ein Stück der Schädeldecke und eines Beinknochens, schafften sie in ein drittes, über alle Zweifel und Konkurrenzgedanken erhabenes Labor: das der US-Armee in Rockville, Maryland.
Drei Monate lang forschten die Amerikaner, an ihrer Seite russische Experten, dann verkündeten sie am 31. August 1995 das letzte Kapitel im Wissenschaftskrimi um die Romanow-Knochen: Es war eine nun hundertprozentige Bestätigung der britischen Erkenntnisse. »Der Streit um die Authentizität der Gebeine ist beendet«, gab das »Armed Forces Institute of Pathology« lapidar bekannt. »Die Ergebnisse bestätigen unzweideutig die wahre Identität der Überreste des letzten russischen Zaren. In der Mitochondrien-DNS des Großfürsten Georgij wurde dieselbe heteroplasmatische Mutation festgestellt wie beim Zaren.«
Einen Moment sah es so aus, als sei mit diesem Ergebnis auch alles klar für eine feierliche Bestattung der Gebeine, für die letzte Ehre, die man den Ermordeten noch erweisen kann. Eine staatliche Kommission unter Vize-Ministerpräsident Jurij Jarow, der neben hochrangigen Moskauer Funktionären auch der Petersburger Oberbürgermeister Anatolij Sobtschak, der Jekaterinburger Gouverneur Eduard Rossel, der Metropolit Juwenalij und der Finder Alexander Awdonin angehören, empfahl mehrheitlich die Beisetzung.
Doch dazu wird es vorläufig nicht kommen. Das letzte Kapitel der wissenschaftlichen Detektivarbeit eröffnet einen Politkrimi: Zar Wars, die Fortsetzung.
Wenn die Familie wirklich den Märtyrertod gestorben ist, muß sie heiliggesprochen werden, wie das 1981 die orthodoxe Kirche im Ausland, verfeindet mit der russischen, schon getan hat. Danach aber müßte der derzeitige Patriarch Alexij II. auch den politischen Mord nebst Auftraggebern ausdrücklich verurteilen - und damit ein Stück kommunistischer Geschichte neu schreiben.
Außerdem: Was soll auf dem Grabstein stehen bei der Zarentochter, von der keiner sicher weiß, wer sie ist: Marija/ Anastassija? Können die Dienstboten und der Hausarzt, die das Martyrium bis zuletzt mitertrugen, von Heiligsprechung und feierlicher Beerdigung an der Seite der Romanows ausgeschlossen werden? Würde sich der Zorn der Gläubigen gegen die kirchlichen Repräsentanten richten, den eben erst wieder etablierten Einfluß der Orthodoxen aufs öffentliche Leben schmälern?
Der Patriarch und sein Metropolit spielen auf Zeit. Juwenalij konstruiert neuen Aufklärungsbedarf: Es bedürfe einer weiteren wissenschaftlichen Knochenexpertise. Zeichen seien an der Wand des Ipatjew-Hauses gefunden worden, Kabbalistisches - war es womöglich ein Ritualmord? Und wenn der Zarewitsch und eine Romanow-Tochter doch davongekommen seien?
Auch Fürst Andrej Golizyn, Mitglied der Regierungskommission und Vorsitzender der Adelsvereinigung, äußert im Namen der »übriggebliebenen« Romanows Vorbehalte gegen ein großes, prunkvolles Begräbnis in der Peter-und-Pauls-Kathedrale von St. Petersburg, der klassischen Zaren-Ruhestätte.
Zwar haben die englische Königin Elizabeth II. und Prinzgemahl Philip, der Blutspender, schon angedeutet, daß sie einer solchen Zeremonie nicht fernbleiben würden, aber das gilt nicht für die untereinander heillos zerstrittenen Fürstinnen und Fürsten im In- und Ausland, die der Moskauer Chef der Noblesse zu koordinieren sucht.
Fürst Golizyn ist hin und her gerissen. Auf der einen Seite träumt der Blaublütige davon, daß die Zarengebeine »durch ganz Rußland getragen werden, von Ort zu Ort« wie eine Art olympischer Flamme, die das Volk erleuchtet. Auf der anderen Seite hat er Zweifel, ob der jetzige Wissensstand und die politische Situation so eine Zeremonie schon möglich machen: Er hofft, die Romanows im Ausland könnten sich noch auf eine gemeinsame Linie, auf eine »Thronfolge« einigen.
Für den Moskauer Adelschef steht fest: Der jetzt 15jährige Georgij, der mit seiner Mutter, Großfürstin Marija Wladimirowna, in der Nähe von Madrid lebt, ist der rechtmäßige Nachfolger des Zaren Nikolai II. Er werde schon »für seine Aufgabe vorbereitet«, sagt Fürst Golizyn und weist auf ein Foto an der Wand seines Büros, das den jungen Mann gemeinsam mit seiner Mutter beim Besuch in Jekaterinburg zeigt. »Sie wurden umjubelt.«
Doch der Riß durch die Romanow-Großfamilie ist nicht zu leugnen, der Streit um die wahren Erben des nichtexistierenden Throns wird voller Erbitterung ausgetragen. Neben dem kleinen Georgij im Rennen: mehrere Romanow-Fürsten aus drei Familienlinien, von denen nur Nikolai, ein im schweizerischen Ruhestand lebender Landwirt, kein Interesse am Amt zeigt.
Ebenfalls mit seiner jetzigen Existenz zufrieden ist der Sohn des Großfürsten Dmitrij, ein Neffe des Zaren: Paul Ilyinski, wie er mit bürgerlichem Namen heißt, hat schon einen Job, nicht hineingeboren, sondern hineingewählt: Er ist Bürgermeister von Palm Beach, Florida, USA.
Ob Rußlands Politiker wagen, sich über Einsprüche der Familie, vor allem aber über Bedenken der Kirche hinwegzusetzen und ein Begräbnis - in St. Petersburg oder Jekaterinburg - zu beschließen, ist fraglich. Die Zeremonie wurde schon etliche Male anberaumt, dann wieder verschoben.
Zuletzt glaubte die Presse, die Wahlen zur Duma, dem russischen Parlament, im Dezember 1995 würden eine Entscheidung herbeiführen, Zeitungen nannten den Urnengang schon die »Knochenwahl«. Die Nationalchauvinisten setzten auf die Stadt am Ural, Premier Tschernomyrdins Block »Unser Haus Rußland« auf eine Feier in St. Petersburg.
Präsident Jelzin, obwohl ein Sohn Jekaterinburgs, schien der zweiten Lösung zuzuneigen, beraumte die Beerdigung für den 25. Februar 1996 an. Anatolij Sobtschak, Petersburgs eigenwilliger Oberbürgermeister und bald zur Wiederwahl anstehend, hatte auf solch ein Spektakel gedrängt - für ihn sei es »nur noch eine Frage der Zeit, wann in Rußland eine konstitutionelle Monarchie unter Großfürst Georgij errichtet würde«, vertraute Sobtschak bei einem USA-Besuch in Chicago seinem Tischnachbarn an.
Doch als die orthodoxe Kirche nach den für die Kommunisten so vorteilhaft ausgegangenen Wahlen ihre Verzögerungstaktik einschlug, steckte auch Jelzin zurück: Das Thema schien ihm wohl zu heiß, da nun im Juni bei der Präsidentenwahl auch über seine politische Zukunft entschieden wird.
In Jekaterinburg, wo 1918 alles passierte, aber träumen die Politiker weiter. Gebietsgouverneur Rossel möchte ein Romanow-Grab als Teil eines ganzen Touristenkomplexes, mit neuem Hotel, mit Museum, mit einem an Ort und Stelle wiederaufgebauten Ipatjew-Haus. Er werde nun die unentschiedene Regierungskommission aus Protest verlassen, sagte Rossel dem SPIEGEL: »Um die Reliquien entfaltet sich ein politischer Schattenkampf. Sie müssen hier unter die Erde.«
Der Regionalpolitiker, der längst auch auf Distanz zu Boris Jelzin gegangen ist, will im Rahmen des »Gedenkparks« auch eine riesige Kirche bauen lassen, »Kathedrale zum verflossenen Blut« soll sie heißen. Gegen Dollar sollen Touristen und Pilger den letzten Weg der Zaren zu den Begräbnisstätten nachfahren dürfen.
Ein Wallfahrtsort ist der Platz der Ermordung auch ohne die grandiosen Politikerpläne schon geworden: Für frischverheiratete Paare gilt heute der Brauch, nach der Eheschließung zu dem großen Steinkreuz zu eilen, das jetzt an dem großen leeren Platz in der Innenstadt anstelle des Ipatjew-Hauses errichtet wurde, und andächtig niederzuknien.
Kranke und Gebrechliche bringen Blumen, oft halten sie eine Kerze oder ein Kreuz in der Hand, Jekaterinburg als heilende »Wunder«-Stätte wie Lourdes. Über 100 000 Menschen haben die Ausstellung im Stadtmuseum besucht, wo alte Romanow-Briefe gezeigt werden - und die Zarenfamilie, naturgetreu, nachgebildet in Wachs. Y
Die »Prozedur« dauerte mit Pulskontrolle über 20 Minuten
Ein Hobby-Detektiv läßt sich von den Bossen nicht entmutigen
Ist »Schädel sechs« von Zarentochter Marija - oder von Anastassija?
»Wir hörten es unter der Schädeldecke rasseln - das Gehirn des Zaren«
In Petersburg wird der Sarg des Zarenbruders geöffnet
Die Romanow-Verwandten streiten um Begräbnis und »Erbfolge«
[Grafiktext]
Stammbaum mit Kennzeichnung Verwandter, deren DNS analysiert wurde
[GrafiktextEnde]
** Mark D. Steinberg and Vladimir M. Khrustalev: »The Fall of theRomanovs«. New Haven und London, Yale University Press, 1995; 444Seiten; 27,50 Dollar. Robert K. Massie: »Die Romanows. Das letzteKapitel«. Berlin Verlag, 1995; 376 Seiten; 42 Mark.* Ipatjew-Haus, 1977 auf Breschnews Befehl von Jelzinniedergerissen.** Von Jurowski, Uhrmacher, Fotograf und bolschewistischerUntergrundkämpfer seit 1904, sind in den jetzt geöffnetenParteiarchiven zwei Aussagen zum Tathergang übermittelt, seineNotizen von 1920 und eine parteiinterne Rede von 1934. Nach der Tatwar er Chef der Geheimpolizei Tscheka in Jekaterinburg geworden.Jurowski starb 1938 im Kreml-Krankenhaus.* Am 25. Mai 1919 bei einer Truppenparade auf dem Roten Platz inMoskau.