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PSYCHOLOGIE Das gleiche Geschlecht

Dirigiert die Steinzeitbiologie heute noch den Mann auf den Mars und die Frau auf die Venus? Neuroforscher suchen nach dem großen Unterschied - und können ihn nicht finden. Auf einzigartige Weise hat die Evolution das Gehirn des Menschen geöffnet für kulturelle Prägung.
aus DER SPIEGEL 6/2007

Zweifellos existieren einige hervorragende Frauen, dem durchschnittlichen Mann sehr überlegen«, gab Gustave Le Bon zu. »Aber sie sind so außergewöhnlich wie die Geburt irgendeiner Monstrosität, wie zum Beispiel eines Gorillas mit zwei Köpfen.«

Vor 128 Jahren verfasste Le Bon, einer der Väter der Sozialpsychologie, jenes Traktat über das Weib als solches. Die »offensichtliche Unterlegenheit« der Frauen, die »niemand auch nur für einen Moment bestreiten könne«, schob er der Tatsache zu, dass »deren Gehirne vom Volumen eher denen von Gorillas ähneln als dem am weitesten entwickelten Männergehirn«.

Das ist gar nicht so irrwitzig und verstaubt, wie es sich anhört. Zwar behauptet heute kaum ein Forscher mehr, dass sich die geringere Größe des Frauenhirns auf die Intelligenz des Weibes auswirke. Doch dass dessen Denkorgan sich maßgeblich von dem der Männer unterscheidet, davon sind die meisten überzeugt. Und schließlich: Frauen ticken doch wirklich anders als Männer. Oder etwa nicht?

Derart bewegt das Thema die Gemüter, dass Werke wie »Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken« von Millionen Käufern vom Büchertisch gerissen werden. Diese Art Literatur geht gern Fragen nach wie: »Sind große Brüste wirklich so wichtig?«, oder behauptet, dass »die Psyche einer Aldi-Plastiktüte im Vergleich zu einer Männerseele ausgesprochen kompliziert« sei. Nach der Lektüre kann man den Kolleginnen in der Kantine oder den Kumpels im Café schön erklären, warum Männer saufen, lügen und zappen, während Frauen Schuhe kaufen, immerzu reden wollen und zu zweit Pipi machen gehen.

Alles bloßer Unfug, schlichtes Klischee? Keineswegs. Seriöse Wissenschaft scheint die Alltagserfahrung zu unterstützen. »Endlich erforscht!« prangte es ganz vorn auf der »Bild«. 20 000 Wörter täglich quassele demnach die Frau, der Mann begnüge sich mit ganzen 7000. Dafür dächten Frauen nur einmal pro Woche an Sex, »Männer aber alle 58 Sekunden« - macht mindestens 850-mal am Tag.

Zitiert hatten die Boulevardblattmacher aus einem Wissenschaftsbuch, das in den USA in den vergangenen Monaten eine erregte Debatte angestoßen hat und das nächste Woche auf Deutsch erscheint: »Das weibliche Gehirn - Warum Frauen anders sind als Männer«, geschrieben von Louann Brizendine, einer Neuropsychiaterin aus San Francisco*.

Brizendine, Gründerin der dortigen Women's Mood and Hormone Clinic, beschreibt Mann und Frau als derart gegensätzlich, dass sie wie zwei verschiedene Spezies erscheinen: Homo testosteroniensis und Homo östrogeniensis. Denn: Das weibliche Gehirn, durch Menses, Mutterschaft und Menopause zyklisch in Hormonen mariniert, nehme die Welt grundsätzlich anders wahr. Brizendine: »Das Unisex-Gehirn gibt es nicht.«

In der Tat haben Forscher eine ganze Reihe neurologischer Unterschiede zwischen Männlein und Weiblein zusammengetragen. Der Balken zum Beispiel, die Brücke zwischen den beiden Hirnhälften, soll bei Frauen dicker sein. Das erkläre, warum diese, im regen Geschwätz beider Hirnhälften, eher ganzheitlich denken. Männer hingegen beschränken sich offenbar auf die Analyse durch nur eine der beiden Hemisphären. Sollen sie sich im Raum orientieren, denkt es im Hirn nur rechts; sprechen sie, blitzt es links.

Auch mit Hilfe von Tests und Fragebögen spüren die Forscher dem großen Unterschied zwischen den Geschlechtern nach: Männer werfen treffsicherer und können bestimmte Aufgaben zum räumlichen Denken schneller lösen, Frauen zeigen sich überlegen in Vokabular und Feinmotorik.

Aber: »Die Effekte, die wir messen, sind ziemlich klein«, sagt Markus Hausmann, Biopsychologe an der Universität Bochum.

Trotzdem deuten viele Wissenschaftler sie als Signale unausweichlicher Biologie. Männer werfen die Darts ins Schwarze, weil sie das in Jahrtausenden ihres Jobs als fleischbeschaffende Mammutjäger trainiert haben, bis es festsaß in ihren Genen. Daher auch die Wortkargheit - schwätzenden Speerträgern entwischt die Beute.

Der paläolithische Weiberclub dagegen sammelte Wurzeln und fragile Beeren - die Damen erwarben das Fingerspitzengefühl, das sie heute noch zum Häkeln und Zwiebelwürfeln befähigt. Außerdem ernteten die Steinzeitladys nah der heimischen Höhle - wer hätte sonst auf die Babys aufgepasst? Daher können sie heute weder einparken noch Karten lesen, geschweige denn als Pilotin ein Flugzeug sicher landen.

Spätestens bei dieser Art evolutionärer Deutung zeigt sich, dass es hier um weit mehr geht als nur um eine akademische Debatte.

Die Suche nach dem großen Unterschied führt unmittelbar zu der Frage nach der Stellung von Mann und Frau in der Welt: Wer soll die Kinder großziehen? Wieso sacken die Jungs in der Schule im Vergleich zu ihren Schwestern so deutlich ab? Warum verdienen Frauen für gleiche Arbeit deutlich weniger Geld, führt in Deutschland keine einzige Chefin eines der 30 Dax-Unternehmen? Taugt das Weib überhaupt als Jetpilotin und Spitzenphysikerin? Und schließlich: Soll es so sein, dass Wirtschaft und Wissenschaft auf die weibliche Hälfte der Allerbesten verzichten und stattdessen vorliebnehmen mit den zweitbesten Männern?

Die Natur hat die Talente der Geschlechter vorgegeben; davon zeigen sich Brizendine und einige ihrer Kollegen überzeugt. Schon im Mutterleib finde die Prägung statt. Denn eine hochwirksame Substanz tränkt bereits in der achten Schwangerschaftswoche das Gehirn der kleinen Jungs in purer Männlichkeit: Testosteron. Laut Brizendine »tötet das Hormon manche Zellen in den Kommunikationszentren und lässt in den Regionen, die für Sexualität und Aggression zuständig sind, mehr Zellen heranwachsen«.

»Sie phantasiert«, sagt, knapp und vernichtend, Melissa Hines, Psychologin und Neurowissenschaftlerin an der University of Cambridge in England, die seit 30 Jahren Geschlechterunterschiede erforscht.

Hines steht mit ihrer Meinung nicht allein. Auch andere empfinden Brizendines Darstellung der Frau als willenlose Hormonmaschine als Skandal. So geißelte das Fachblatt »Nature« Brizendines und die Sicht ihrer Bundesgenossen auf die frühe Prägung zu Weib und Mann als »pseudowissenschaftliche« Einteilung der Geschlechter in »Denker und Fühlende«. Solche Deutungen, schreiben die Rezensenten, seien »fundamental unbiologisch« und »erklären nichts«.

Was nach Klärung verlangt, ist nichts anderes als die alte, große Frage Simone de Beauvoirs: »Was ist eine Frau?« Ist sie ein biologisch geformtes, von tiefverwurzelten Verhaltensprogrammen getriebenes Geschöpf? Oder ist das Geschlecht überhaupt ein Konstrukt, das Ergebnis gesellschaftlicher Zuschreibungen? Was genau unterscheidet die Frau im Kern vom Manne?

»Lange nicht so viel, wie alle immer denken«, sagt Lutz Jäncke - und das klingt ziemlich lapidar angesichts der Tragweite dieses kleinen Halbsatzes.

Denn der Neuropsychologe von der Universität Zürich hat, gemeinsam mit vielen Fachkollegen, eine - von Brizendine wie dem Laienpublikum weitgehend unbemerkte - Revolution losgetreten. Die Forscher legen unter der dicken Makulatur der Stereotype ein neues Bild frei von Mann und Frau.

Ihre Erkenntnis, inzwischen wissenschaftlich wohl belegt: Mann und Frau unterscheiden sich kaum. Dort, wo sich Andersartigkeit messen lässt, spielt sie entweder keine Rolle für den Lebensalltag oder ist unbedeutend klein. Vor allem aber gibt es gute Gründe, sie nicht als Ergebnis biologischer Bestimmung zu sehen.

Zwar wird der Mensch als Adam oder Eva geboren; im Mutterleib dirigiert durchaus noch die alte Biologie. Von diesem Moment an aber gewinnt eine andere, zutiefst menschliche Entwicklung rapide an Bedeutung: die Kultur. Nun entscheidet vor allem, was die Mädels und Jungs erleben, darüber, wie sie in Zukunft schwatzen, raufen, rechnen oder einparken werden.

»Wir kommen mit einer zartrosa und hellblauen Tönung auf die Welt«, sagt Kirsten Jordan, Hirnforscherin an der Universität Göttingen. »Erst unsere Erfahrungen, die Kultur, in der wir leben, vertiefen sie dann zu satten Farben.«

Nicht politische Korrektheit oder feministischer Eifer treibt die neuen Gleichmacher unter den Forschern - das macht sie glaubwürdig. Denn all jene Biologen, Neuropsychologen, Anatomen, die jetzt die Gleichheit der Geschlechter ausrufen, begannen einst als hauptamtliche Fahnder nach der biologischen Differenz von Mann und Frau. Aber sie konnten den großen Unterschied nicht finden. Beim besten Willen nicht. »Ich bin als Löwe gestartet und als Bettvorleger geendet«, konstatiert Jäncke. Und so sahen er und die anderen sich gezwungen, die jahrhundertealte Grundannahme über Bord zu schmeißen.

Schon in der Gehirnanatomie lassen sich nur wenige Geschlechtsunterschiede zweifelsfrei nachweisen. Viele Befunde, längst für sicher gehalten, mussten revidiert werden (siehe Grafik Seite 145). Die Zweigleisigkeit weiblichen Denkens zum Beispiel findet nicht statt; der Balken im Hirn ist auch nicht dicker. Selbst wenn eine Region kleiner oder größer ist bei den Geschlechtern: »Was bedeutet es wirklich für das Verhalten?«, fragt Katrin Amunts, Neuroanatomin an der Universität Aachen.

Und was die unterschiedlichen Talente von Männern und Frauen betrifft, hat Janet Hyde, Psychologieprofessorin an der University of Wisconsin, sich die Mühe gemacht, alle wichtigen Übersichtsuntersuchungen zusammenzutragen, in denen die Differenz zwischen den Geschlechtern kalkuliert worden war.

In der Liste der 124 untersuchten Unterschiede geht es um alle denkbaren Talente, Schwächen und Gelüste, die angeblich Männer auf den Mars und Frauen auf die Venus verbannen: vom abstrakten Denken bis zum Ins-Wort-Fallen, von der Masturbation zur Meinung über One-Night-Stands; Glücklichsein wurde ebenso abgefragt wie Führungsqualitäten und Lust auf Macht.

Hyde war selbst überrascht vom Ergebnis: In knapp 80 Prozent der untersuchten Eigenschaften gleichen sich die Geschlechter sehr, unter anderem in den weitaus meisten Gebieten, die mit Sprache zu tun haben - unversehens verschwindet das Klischee vom Plapperweib und dem wortkargen Eigenbrötler.

Unter dem verbliebenen Fünftel an Unterschieden fanden sich nicht zuletzt physische Talente wie das Weitwerfen - sie lassen sich direkt in Beziehung setzen zur unbestritten größeren Muskelmasse der Männer. Außerdem befriedigen sich die Kerle öfter und haben weniger Probleme mit One-Night-Stands - nicht wirklich überraschend angesichts der Sexualmoral in den USA, dem Ort der meisten Studien zum Thema.

»Es gibt kein Phänomen ,Geschlechterunterschied', das zu erklären wäre«, resümiert Hyde trocken.

Fest steht: Ein fein orchestriertes Konzert aus Genen und Hormonen gestaltet die Geschlechtsorgane; später tragen sowohl die Androgene, zu denen das Testosteron gehört, als auch die Östrogene dazu bei, das Gehirn zu verschalten. So helfen die Geschlechtshormone, das Denken und Verhalten zu modulieren - in diesem Sinne bestimmt zweifellos die Biologie über den Menschen.

Die eigentlichen Fragen lauten also: Was genau sind die Unterschiede in der Hirn-Hormon-Maschinerie? Und gebären sie wirklich unterschiedliches Verhalten?

Genau das behaupten Brizendine und ihre Mitstreiter. Gern berufen sie sich dabei auf Tierexperimente. Die meisten Erkenntnisse über den Einfluss der Hormone aufs Gehirn und aufs Verhalten von Männchen und Weibchen stammen nämlich von Versuchen mit Ratten oder Mäusen. Und die Nager erweisen sich tatsächlich als Marionetten ihrer Körperchemie.

Das Problem ist nur: Die Erkenntnisse der Rattenbiologie lassen sich auf den Homo sapiens kaum übertragen. Denn er denkt vor allem mit seiner unvergleichlich hochentwickelten Hirnrinde. Und die unterliegt weit weniger als Stamm- und Zwischenhirn der Kontrolle der Hormone.

Selbst in seiner Sexualität, wo der Mensch zwecks Überleben urtümlichsten Instinkten gehorchen müsste, hat er teilweise die Strippen der alten Steuerung gekappt. Ein Rattenweibchen hat zum Beispiel nur Lust auf Sex, wenn es die Hormone gebieten. Das menschliche Pendant hingegen treibt es jederzeit gern - vor, während und nach dem Eisprung.

Als eindrucksvoller Beleg für die verblüffende Freiheit des Menschen von der Macht der Hormone gilt Melissa Hines eine Erkrankung namens AGS (Adrenogenitales Syndrom). Mädchen, die davon betroffen sind, waren im Mutterleib dem Männermacher Testosteron ausgesetzt. Es kann sich bei ihnen ein Penis entwickeln. Früher ließ man solche AGS-Babys manchmal als Jungs aufwachsen. Heute verwandeln Ärzte sie meist in ihr genetisches, weibliches Geschlecht zurück, zur Not auch chirurgisch.

Das Interessante dabei: Unter dem Einfluss ihrer Hormone rangeln und toben AGS-Mädels zwar wie ihre männlichen Schulkameraden; Barbie ist eher nicht ihr Ding. Doch in Studien zeigte sich: Ob ihre Eltern sie als Jungs aufwachsen oder zum Mädchen zurückverwandeln ließen: Fast alle waren mit dem Geschlecht, in dem sie aufwuchsen, zufrieden.

Umgekehrt gibt es Knaben, deren Gehirn und Geschlechtsorgane zu wenig Testosteron und damit oft uneindeutige Genitalien, etwa einen Mikropenis, abbekommen haben. Auch hier entscheiden oftmals Eltern und Ärzte über das äußere Geschlecht. Und auch hier zeigen sich die meisten verwandelten Jungs zufrieden mit der ihnen zugedachten Rolle als Mädchen. Dies legt zwar keinen kompletten, aber doch zumindest einen sehr starken Einfluss von Umwelt und Erziehung auf die Geschlechtsidentität nahe.

»Der Mensch hat sich weitgehend von der Lenkung durch seine Hormone befreit«, sagt auch Lutz Jäncke. Genau das unterscheide ihn fundamental vom Tier. »Solange die Fortpflanzung gewährleistet bleibt, tun wir, was wir gelernt haben, was wir sehen, was uns begegnet im Leben.«

Ohnehin wackelt inzwischen das gesamte Theoriegebäude, das die These vom großen Unterschied auf die Steinzeitfamilie stützen soll. Denn die Haushaltsführung in paläolithischen Höhlen ist vor allem - Spekulation.

Viele Funde sprechen sogar eher für eine Beteiligung der Frauen an der Jagd. Und ebenso gut könnten Oma und Opa die Steinzeit-Rangen gehütet haben - die Urfrau muss nicht retrospektiv ans Herdfeuer verbannt werden, nur weil man erklären will, warum ihre Nachfahrinnen heute noch so oft dort anzutreffen sind. Wenn aber der Höhlenmann und sein Gespons ähnliche Aufgaben zu bewältigen hatten, warum sollten deren Gehirne sich unterscheiden?

Außerdem: »Selbst wenn sich Unterschiede im Gehirn entdecken lassen, heißt dies nicht, dass sie angeboren sind«, sagt Melissa Hines. Mindestens ebenso plausibel erscheint es, dass erst das Leben nach dem Eva-Prinzip das Mädelgehirn formt, allein die Existenz als Kerl den männlichen Denkapparat.

Allzu leicht vergessen die Verfechter naturgegebener Geschlechterrollen nämlich, wie mächtig der Alltag Form und Funktion des Gehirns beeinflusst. Verblüffend leicht vermag sich das menschliche Denkorgan umzumodeln. »Denken Sie an Knetmasse«, sagt Lutz Jäncke. So lässt sich an der Größe einer bestimmten Hirnregion von Taxifahrern ablesen, wie viel Lebenszeit sie damit verbracht haben, durch die Stadt zu kutschieren.

Umgekehrt verkümmern nie genutzte Schaltkreise. Wozu noch investieren in Zellen und Synapsen, die Sudoku-Kästchen blitzgeschwind ausfüllen helfen, wenn der Besitzer des Gehirns sein Denkorgan jeden Abend in Bier und die Bedeutungslosigkeit von Comedy-Shows tunkt?

Jäncke ist sogar überzeugt davon, dass in genau dieser Veränderlichkeit des Hirns die spezifische evolutionäre Strategie des Homo sapiens bestehe. Anders als andere Tiere gestalte er durch Kulturtechniken selbst seine Lebenswelt. Ebendeshalb habe sich im Laufe der Evolution ein Denkorgan herausgebildet, das sich einstellen kann auf die jeweils aktuelle Situation - ein Gehirn, bereit für lebenslanges Lernen.

Daher überrascht es Jäncke nicht, dass die kognitive Grundausstattung von Mann und Frau so ähnlich ist. In einem einzigen Fall nur lassen sich durchgängig Unterschiede nachweisen: »Der Test, bei dem Frauen konsequent schlechter abschneiden, ist die mentale Rotation«, sagt Markus Hausmann. So nennt sich eine von vielen Aufgaben, die Aufschluss über das räumliche Denken liefern soll. Die Probanden müssen dazu unter Zeitdruck dreidimensionale Würfelfiguren im Geiste drehen und miteinander vergleichen.

Aber: »Genau dieser Test spricht sehr stark auf Training an«, berichtet Jäncke. Architektinnen oder Ingenieurinnen seien den Männern von vornherein ebenbürtig. Und das weibliche Geschlecht als Ganzes verbessert sich stetig beim Lösen dieser Aufgabe - wenn das Korsett aus starren Rollenbildern sich lockert, beginnen Bruder und Schwester einander zu ähneln. Mehr direkten Bezug zum Alltag als das mentale Rotieren hat die Orientierungsfähigkeit. Die gilt bei Frauen als legendär schlecht; Männer schneiden besser ab.

Doch inzwischen steht fest: Der Erfolg ist eine Folge der Strategie. Gute Wegefinder, ob Männlein oder Weiblein, schauen im Geiste von oben drauf aufs fremde Gebiet, denken in Himmelsrichtungen, merken sich ihren Ausgangspunkt. Während alle blinden Hühner, gleich welchen Geschlechts, einfach loszockeln und hoffen, irgendwie ans Ziel zu kommen; vielleicht merken sie sich noch hier und da eine Landmarke: erst rechts beim Bäcker, dann links an der Tanke. Das heißt, nicht das Geschlecht, sondern die Art der Problemlösung ist entscheidend.

Warum aber wählen mehr Frauen die falsche Strategie? Die Weichen werden im Kindergartenalter gestellt. Je häufiger und länger Kinder im Freien spielen, je mehr sie zu Fuß oder auf dem Fahrrad unterwegs sind, desto besser können sie sich orientieren. Vor allem aus Angst vor Übergriffen aber lassen Mama und Papa ihre Tochter weniger freizügig herumstromern, kutschieren sie öfter als Söhne im Auto ans Ziel.

Später, wenn sich die Jungs dank jahrelangen Trainings eben besser auskennen, verstärkt sich der Effekt: »Da meistens er Auto fährt«, meint die Freiburger Geschlechterforscherin Sigrid Schmitz, »und es sowieso viel besser zu können glaubt, überlässt sie ihm auch meistens das Steuer.«

Doch wenn auf diese Weise der einzige kognitive Unterschied zwischen den Geschlechtern dahinschwindet, wie sieht es dann mit jener Domäne aus, die die Natur ganz exklusiv dem Weibe reserviert zu haben scheint? Wie sieht es aus mit der Betreuung der Babys?

Sogar hier säen die Forscher Zweifel. Schon ein Blick auf andere - durchaus hormongesteuerte - Säugetiere zeigt, dass allein die Anwesenheit von Gebärmutter und Zitzen das Weibchen nicht unbedingt festlegt auf die hauptberufliche Pflege der Brut. So betüteln bei den brasilianischen Weißbüschelaffen die Väter ihre Kleinen; nur Milch tanken diese bei Mama. Auch bei vielen anderen Säugern, Wölfen zum Beispiel, erweisen sich die Männchen als exzellente Kinderkümmerer.

Und der Mensch? Bisher schlugen alle Versuche fehl, einen Zusammenhang zwischen der Innigkeit der Mutterliebe und dem Östrogen- oder Progesteronpegel vor und bei der Geburt nachzuweisen. »Es ist unwahrscheinlich, dass die Schwangerschaft ausschlaggebend für die Bindung an menschliche Säuglinge ist«, sagt Hines. »Sonst würden Adoptivmütter weniger sichere Bindungen knüpfen als biologische Mütter.« Dafür aber gibt es keine Belege.

Der »Mutterinstinkt«, zu diesem Schluss kommt auch die amerikanische Anthropologin Sarah Blaffer Hrdy in ihrem Monumentalwerk »Mutter Natur«, sei weder instinktiv noch allen Müttern eigen.

Wäre die Fürsorge schon früh angelegt, etwa durch Hormone, müssten Mädchen mehr auf Säuglinge stehen als Knaben. Als Forscher jedoch beide Geschlechter mit einem schreienden Säugling konfrontierten, erwies sich die weibliche Hilfsbereitschaft als genauso groß wie die der Jungs.

Und später, wenn es wirklich darauf ankommt, reagieren Eltern, egal ob Vater oder Mutter, zugewandter auf fremde Kinder, wenn sie gerade selbst welche großpäppeln. Will heißen: Das Gehirn bekommt den Mutterkick durchs Muttersein, den Vaterkick durchs Vatersein.

Der Befund, dass Frauen offenbar keine geborenen Mütter sind, ist umso erstaunlicher, als alle Studien zeigen: dass Mädchen gern mit Puppen, Jungs dagegen mit Baggern spielen, stimmt. Und angeboren ist dieser Unterschied obendrein; das zeigen die Mädels mit AGS, die lieber herumtollen, als Püppi zu frisieren. Ausgerechnet Melissa Hines war es, die herausfand, dass sogar junge Meerkatzenweibchen lieber mit Puppen und Töpfchen hantieren; Affenmännchen dagegen stürzen sich auf Autos und Bälle - kultureller Einfluss ausgeschlossen.

Wie aber verträgt sich dies mit Hines' und Jänckes These von der Gleichheit der Geschlechter? Lenkt die Natur das Interesse der Mädchen nicht eben deshalb auf die Puppen, um sie so auf ihre spätere Rolle als Mutter vorzubereiten?

In Hines' Augen keineswegs. Sie sieht in der Hinwendung der Kleinkinder zum Puppenhaus versus Feuerwehrauto vielmehr ein Relikt aus evolutionärer Vergangenheit. Anschließend jedoch beginnt die kulturelle Prägung zu wirken: »Die Geschlechterunterschiede sind in der Kindheit am größten.«

Die Sozialisation kann diese Unterschiede dann mindern oder verstärken. Bei all den Konversationen mit Barbie mag Lina irgendwann tatsächlich besser plaudern können, in ewigen Rollenspielen ihr Einfühlungsvermögen schulen. Wenn Jan draußen mit seinen Kumpels durch die Straßen stromert, mag er sich irgendwann wirklich besser orientieren können. Werden Lina und Jan jedoch auf ähnliche Weise stimuliert, so nähern sich auch ihre Interessen und Fähigkeiten an.

Deshalb spielen die Erwartungen, die Erzieher und Eltern an ein Kind stellen, eine ausschlaggebende Rolle. Das hat die Wissenschaftlerin Barbara Barres am eigenen Leib erlebt, als sie am Massachusetts Institute of Technology studierte. »Ich war die einzige Person in einer großen Klasse von fast nur Männern, die ein schwieriges mathematisches Problem lösen konnte - nur um mir dann vom Professor sagen zu lassen, dass mein Freund es für mich gelöst haben müsse.«

Barres heißt heute Ben mit Vornamen, ist ein Mann und Neurobiologe an der kalifornischen Stanford University.

Der transsexuelle Forscher weiß, wovon er redet, wenn es um Rollenklischees geht: Kurz nach seiner Geschlechtsumwandlung hörte er ein Fakultätsmitglied sagen, Ben Barres mache seinen Job wirklich »besser als seine Schwester«.

Wie leicht es ist, das Selbstbewusstsein und damit auch die Leistung zu mindern, das zeigte kürzlich ein einfaches Experiment: Probandinnen sollten Mathematikaufgaben lösen. Ein Teil von ihnen bekam zuvor einen Text vorgelegt, in dem behauptet wurde, Frauen litten unter einer angeborenen Mathe-Schwäche. Prompt rechneten sie deutlich schlechter als die Geschlechtsgenossinnen, die nichts dergleichen gelesen hatten.

Deswegen mögen die Entdecker der großen Ähnlichkeit Bücher wie das von Brizendine auch nicht abtun als amüsante Kurzweil. »Das ist nicht harmlos«, sagt Hines. »Gelinde gesagt: Blödsinn«, ätzt Jäncke. Kirsten Jordan findet, ziemlich genervt: »Es wird Zeit, voranzukommen.«

Denn wenn es stimmt, dass der Mensch im Laufe der Evolution die Fesseln seiner Hormone weitgehend abgeschüttelt hat, wenn letztlich das Steinzeiterbe entlarvt ist als schlichter Abdruck von Stereotypen im Gehirn, könnte der Mensch sich endlich emanzipieren vom Glauben an die Biologie als letztgültiger Chefin seines Schicksals. So wie die Aufklärung ihn vom Wohlwollen eines mächtigen Gottes unabhängig machte.

»Die Gesellschaft kann sich jetzt entscheiden«, sagt Hines. »Wollen wir den Mädchen wirklich sagen, dass sie die mentale Rotation leider nicht beherrschen und deswegen keine Physikerinnen werden können? Oder wollen wir sie ermutigen?«

Es würde schon helfen, meinen die Wissenschaftler, sich der Macht der Geschlechterstereotypen auf die eigenen Entscheidungen bewusst zu werden. Denn wie stark sich die Klischees aus den Tiefen der Hirnwindungen ins Denken hineinflüstern, offenbart eine Studie aus Schweden: Wissenschaftlerinnen mussten zweieinhalbmal so gut sein wie ihre männlichen Kollegen, um Fördergelder zu erhalten. Die Professoren in der Vergabekommission waren sich dessen überhaupt nicht bewusst.

Gemächlich keimen Versuche, solche Mechanismen zu ändern. Nachdem in Amerika ein Preis für Pionierleistungen in der Biomedizin nur an Männer vergeben worden war, änderten die Spender die Bedingungen für die Auslobung. Bewusst ermutigten sie Frauen; vor allem wurde die Jury paritätisch besetzt. Ergebnis: Der Anteil der Preisträgerinnen stieg abrupt von null auf 43 Prozent.

Werden sich, befördert durch solche Maßnahmen, die Geschlechter immer weiter annähern? Den Beweis wird nur die Zeit erbringen können.

Aber wie stark bis heute die Geschlechterstereotypen wirken, das hat jedenfalls Ben Barres am eigenen Leib erfahren. Trotz Testosteron-Behandlung, erzählt er, verfahre er sich immer noch dauernd. Dafür habe sich etwas anderes seit seiner Geschlechtsumwandlung deutlich verändert: der Respekt, mit dem Leute ihm begegnen. »Ich kann sogar einen ganzen Satz beenden, ohne dass mich ein Mann unterbricht.«

* Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg; 360 Seiten; 19,95 Euro (erscheint am 12. Februar). * In dem Experiment entschied sich das männliche Jungtier für das Auto, das weibliche für die Puppe.

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