BÜRO-AUTOMATION Das Hirn
In einem fensterlosen, künstlich klimatisierten Raum arbeitet seit einigen Wochen eines der größten Elektronengehirne der Welt: Die »automatische Auftragsbearbeitungs- und Lagerbuchhaltungsanlage des Großversandhauses Quelle« zu Nürnberg. Die 3-Millionen-Mark-Anlage - von den Versandhaus-Angestellten kurz das »Hirn« genannt - besteht aus elf graulackierten Stahlschränken, einem klaviergroßen Kontrollpult und rund fünfzig in benachbarten Sälen aufgestellten Arbeitstischen, die sich äußerlich kaum von Büroschreibtischen unterscheiden.
Das komplizierte Schaltsystem aus mehr als 200 000 Einzelteilen in den Stahlschränken und Arbeitspulten vollbringt in Bruchteilen einer Sekunde eine Leistung, für die einige hundert menschliche Arbeitskräfte Stunden brauchen würden: Das »Hirn« bearbeitet Bestellungen, druckt Warenscheine, schreibt Rechnungen, führt Buch, beantwortet Anfragen und trifft selbständig Dispositionen. Es gilt als Musterbeispiel dafür, wieweit bei dem gegenwärtigen Entwicklungsstand der Elektronen-Technik große Verwaltungsapparate durch Automaten ersetzbar sind. Eine elektronische Großanlage dieser Art könnte ebensogut die Buchhaltung eines 5000-Mann-Betriebes oder die Kontenführung einer Großbank bewältigen und jeweils mehrere hundert Büroangestellte ersetzen.
Auch im Versandhaus »Quelle« waren, ehe das »Hirn« in Betrieb genommen wurde, bis zu 1200 Angestellte mit den Routineaufgaben beschäftigt, die heute von der Elektronik-Anlage erledigt werden.
Bei der Firma, die mit einem Jahresumsatz von 330 Millionen Mark (1957) zu den führenden Unternehmen ihrer Art gehört, treffen täglich durchschnittlich 20000 Kundenbestellungen ein. Da jeder Auftrag gewöhnlich aus acht bis zehn Einzelposten
besteht, muß die Verwaltung Tag für Tag über den Verkauf von etwa 200 000 Gegenständen Buch führen.
Es war aber nicht der Umfang der Buchungs- und Bearbeitungsarbeiten allein, der den Quelle-Chef Dr. Gustav Schickedanz bestimmte, die Versandhaus-Verwaltung zu automatisieren. Entscheidend für seinen Entschluß waren vielmehr die Saisonschwankungen. Alljährlich in der Vorweihnachtszeit schwillt der Strom der Bestellungen derart an, daß die Firma zur Schichtarbeit übergehen und außerdem Hunderte von Hilfskräften engagieren muß. Im vergangenen Jahr zum Beispiel trafen an einem Rekordtag mehr als 63 000 Bestellungen ein, rund dreimal soviel wie an Durchschnittstagen.
Nun hat aber der Quelle-Chef in den letzten Jahren feststellen müssen, daß in der Zeit der Versandhaus-Hochkonjunktur wie überall so auch in Nürnberg und Umgebung ein besonderer Arbeitskräftemangel herrscht. »Wir haben in den letzten Jahren vor Weihnachten täglich ein paar tausend Mark allein für den Antransport zusätzlicher Arbeitskräfte ausgeben müssen«, beschreibt Dr. Schickedanz die Situation.
Bereits vor drei Jahren begann deshalb der Quelle-Chef zu sondieren, ob es möglich sei, mit Hilfe moderner Büro-Roboter den Verwaltungsapparat des Versandkaufhauses zu automatisieren. Von einer automatischen Anlage, die ihn von der Lage am Arbeitsmarkt unabhängig machen sollte, verlangte Dr. Schickedanz aber nicht nur die Ausführung der Routinearbeiten, die zur Bearbeitung der eingehenden Bestellungen nötig sind, Der Quelle-Chef forderte außerdem: »Damit die bestellten Artikel (in den Lagern des Versandhauses) rechtzeitig und in genügender Stückzahl zur Verfügung stehen ..., muß jeder Artikel in seiner Absatzentwicklung verfolgt werden können.«
Renommierte Büro-Automaten-Hersteller, denen der Quelle-Chef sein Automations-Programm vortrug, gaben unumwunden zu, daß eine Anlage der gewünschten Art und Größe nicht existiere. Sogenannte »Elektronen-Hirne« werden nämlich in der Regel nur für den Zweck hergestellt, komplizierte mathematische Aufgaben zu lösen.
Erläuterte die »Frankfurter Allgemeine Zeitung": »Bei den Elektronengeräten, die heute am Markt angeboten werden, steht die rechnerische Leistung im Vordergrund. Sie werden auch für kommerzielle Zwecke bereitgestellt und von einer Reihe von Behörden und Unternehmen bereits verwendet. Aber selbst die Hersteller dieser 'Universalgeräte' sehen die Zukunft dieser Typen mehr auf dem technisch-wissenschaftlichen Gebiet als auf dem rein kommerziellen der Büro-Automation ...«
Erst in dem »Informatikwerk Stuttgart«, einem eigens für die Entwicklung elektronischer Anlagen gegründeten Zweigunternehmen der »Standard Elektrik Gruppe"*, fand Schickedanz einen ehrgeizigen Betrieb, der bereit war, ein elektronisches Bürosystem zu entwickeln, »zugeschnitten auf die speziellen Bedürfnisse des Versandhauses Quelle«.
Die Firma konnte bei ihren Entwicklungsplänen nicht auf die amerikanischen Universal-Rechengeräte zurückgreifen. »Das hieße, einen Einstein als Buchhalter für das Versandhaus Quelle engagieren«, erklärte der Entwicklungschef des »Informatikwerkes«, Dr. Steinbuch.
Das »Hirn«, das die Stuttgarter Techniker auf Grund solcher Überlegungen in zweijähriger Arbeit entwickelt haben, kann denn auch keine mathematischen Probleme lösen. Wohl aber erledigt es mühelos und fehlerfrei den größten Teil der Routine-Büroarbeiten, die in einem Versandhaus vorkommen.
Die »Quelle«-Anlage unterscheidet sich auch in Konstruktion und Technik von den herkömmlichen Universal-Elektronenrechnern. »Wir haben uns überlegt«, berichtete Dr. Steinbuch, »daß die Anlage etwa 25 000 Radioröhren enthalten müßte, wenn sie nach konventionellen Prinzipien gebaut wäre. Wegen der begrenzten Lebensdauer der Röhren müßte durchschnittlich jede halbe Stunde eine Röhre ersetzt werden.« Aus diesem Grund verwendeten die Standard-Elektrik-Techniker an Stelle der hergebrachten Elektronenröhren sogenannte »Transistoren« - winzig kleine Schaltelemente, die Röhrenfunktionen erfüllen, dabei aber, wie die Techniker versichern, »niedrigeren Energiebedarf und längere Lebensdauer gewährleisten«.
Mit Hilfe der »volltransistorisierten Schaltung« gelang es den Ingenieuren, den Stromverbrauch der Anlage auf ungefähr 2,5 Kilowatt herabzudrücken. Das »Hirn« verbraucht nur soviel Strom wie eine Kochplatte. Amerikanische Universal-Elektronenrechner, die mit Röhren bestückt sind, fressen dagegen etwa fünfzigmal soviel Energie.
Die automatischen Vorgänge, die sich jeden Tag einige hunderttausend Male unsichtbar im Innern des Quelle-Hirns abspielen, sind nur den Technikern in allen Einzelheiten verständlich. Daß die Anlage rechnet, bucht und disponiert, ist lediglich an den ratternden Druckvorrichtungen zu erkennen, die dem Bedienungspersonal die Ergebnisse der elektronischen Arbeitsprozesse schriftlich mitteilen.
Fünfzig »Auftragsbearbeiterinnen« - für das Einfüttern der Artikelnummern und Stückzahlen in das »Hirn« geschulte Quelle-Angestellte - brauchen der Elektronik-Zentrale lediglich über ein schreibmaschinenähnliches Drucktastensystem zu melden, wieviel Stück eines bestimmten Artikels ein Warenhauskunde bestellt hat. Alles weitere erledigt die elektronische Anlage. Das »Hirn«
- meldet zurück, ob der gewünschte Artikel verfügbar ist;
- erfragt bei einer »elektronischen Preisliste« den Stückpreis;
- multipliziert den ermittelten Preis mit
der gewünschten Stückzahl und nennt das Ergebnis;
- addiert die Einzelposten einer Bestellung und druckt einen Rechnungsstreifen;
- entscheidet, Welcher Portospesensatz
dem Gesamtrechnungsbetrag zuzuordnen ist, und weist den endgültigen Rechnungsbetrag (einschließlich des Betrages für Porto) aus;
- kennzeichnet Artikel, die nicht am Lager sind, als »nicht verfügbar« und läßt sie bei der Addition des Gesamtbetrages aus;
- druckt für jede Position der Bestellung
einen Warenschein, der zur Warenentnahme in die Lager weitergereicht wird.
Außerdem führt das »Hirn« zur gleichen Zeit völlig selbständig die Lagerbuchhaltung, die bei dem Versandhaus »Quelle« rund 15 000 verschiedene Artikel umfaßt:
- Es bucht den bestellten Artikel auf dem
entsprechenden Bestandskonto ab und bringt die in einem »magnetischen Gedächtnis« gespeicherten Lagerbestandswerte automatisch auf den neuen Stand. Die Bestandskonten sind auf drei schnell rotierenden »Magnet-Speicherwerken« eingetragen, von denen jedes mehr als 300 000 Einzelinformationen notieren, merken und bei Bedarf bekanntgeben kann. Diese magnetischen Trommelgedächtnisse ermöglichen die für den Versandkaufmann wichtige kontinuierliche »Lagerbestandsfortschreibung« - sie erfüllen zugleich den Wunschtraum des Kaufmanns von der »permanenten Inventur«.
Die Quelle-Leute haben dadurch die Möglichkeit, ständig die Absatzentwicklung zu beobachten. Sie können von einem besonderen Arbeitsplatz - dem sogenannten »Listendruckerplatz« - aus jederzeit bei dem »Hirn« anfragen, wie groß der Lagerbestand jedes einzelnen Artikels ist.
Mit Hilfe vorbereiteter Frageprogramme, die der Elektronik-Anlage über Lochstreifen eingefüttert werden, ist sogar eine elektronische Totalinventur in kaum mehr als zwei Stunden möglich - eine Arbeit, für die in einem nichtautomatisierten Betrieb ähnlichen Ausmaßes zumeist Wochen gebraucht werden. Das »Hirn« liefert, sobald es mit einem Frageprogramm traktiert wird, gebrauchsfertige Listen, die den Bestand (Artikelnummer und Stückzahl) in schwarzer Schrift, die Zahl der Artikel, die hätten verkauft werden können, wenn sie verfügbar gewesen wären, dagegen in roter Schrift enthalten
Dabei kann die Elektronen-Anlage ihre Inventurarbeit verrichten, ohne deswegen die Bearbeitung der Bestellungen zu unterbrechen, die ihr von 50 Plätzen aus abverlangt wird. Mehr noch: Gleichzeitig können der elektronischen Lagerbuchhaltung von einem weiteren Sonderplatz aus jederzeit die neuen Wareneingänge gemeldet werden.
Die Zentrale der Elektronik-Anlage braucht, um sämtliche Bestellbearbeitungsplätze der Reihe nach einmal zu bedienen, insgesamt nur eineinhalb Sekunden; eine einzelne Buchung oder eine Multiplikation - Stückpreis mal Anzahl der bestellten Artikel - bewältigt der Automat in einer dreißigstel Sekunde.
»Die Zahl der eingesparten Arbeitskräfte läßt sich allerdings nicht genau bestimmen«, meint Quelle-Finanzchef Dr. Großbach. »Der Vorzug der Elektronik ist, daß wir bei bedeutend höherem Bestelleingang nur unbedeutend mehr Arbeitskräfte zur Bedienung der elektronischen Anlage einzusetzen brauchen.« Im Dezember 1957, als das »Hirn« der ersten größeren Belastungsprobe unterworfen wurde, konnte die Firma immerhin mit etwa 400 statt früher 1200 Kräften in der Abteilung »Auftragsbearbeitung« auskommen.
Beim Versandhaus »Quelle« und bei der »Standard Elektrik AG« reisen unterdessen beinahe jede Woche Automations-Experten an, um sich über die Wirkungsweise des »maßgeschneiderten Elektronengehirns« zu orientieren. Das »Informatikwerk« baut gegenwärtig bereits mehrere elektronische Großanlagen ähnlicher Art, darunter eine Buchungs-Automatik für die skandinavische Fluggesellschaft »SAS«. Die Anlage ist so eingerichtet, daß von 500 über Skandinavien und Norddeutschland verstreuten Buchungsstellen und Reisebüros aus durch einen Tastendruck festgestellt werden kann, ob Plätze in einer Linien-Maschine der Gesellschaft noch frei sind.
* Weitere Betriebe der »Standard Elektrik Gruppe": Mix & Genest und C. Lorenz AG.
Automatisierte Versandhausabteilung: Ein Elektronen-Roboter ...
... schreibt die Rechnungen: Auftragsbearbeitung vor der Automation
Quelle-Chef Schickedanz: Inventur in zwei Stunden