ALPEN Das Wunder von Vrin
An diesem Tag im August kommen 48. Diesmal sind es Südtiroler, zwei Busladungen voll. Gut eine Stunde drängen sie über die schmalen Pfade in Vrin, besichtigen Metzgerei, Mehrzweckhalle, Ställe, Wohnhäuser, Telefonzelle und Totenstube.
Tibeter waren da, Mongolen und andere Entsandte ferner Bergregionen; Landwirtschaftsexperten aus Frankreich oder Deutschland. Das Wunder von Vrin zieht sie hierher: Ein Dorf, das letzte, allerletzte am Ende eines abgeschiedenen Schweizer Tals, eines, wo die Leute Rätoromanisch sprechen und allein deshalb einer Minderheit angehören - dieses Dorf hat überlebt. Dabei war es fast schon ausgestorben, blutleer wie ein Freilichtmuseum.
»Vierzig Jahre ist nichts passiert außer Abwanderung«, sagt Peter Rieder; er schreibt gerade ein Buch über die kleine Gemeinde im Kanton Graubünden. »1990 lebten hier noch 260 Menschen.« Die Jahre zuvor hatten den Alpen insgesamt zwar Touristen, Wohlstand und Bevölkerungswachstum gebracht. Doch wie viele Bauerndörfer blieb Vrin davon unberührt.
Heute leben 280 Menschen im Ort. 20 Einwohner mehr - das klingt wenig beeindruckend und bedeutet doch einen Zuwachs von rund acht Prozent, in einem Tal, das von Abwanderung geprägt ist. In der Schule von Vrin füllen die Kinder zwei Klassen; Metzgerei, Mehrzweckhalle, Ställe, Wohnhäuser, Telefonzelle und Totenstube sind neu gebaut. Von einem Stararchitekten.
Rieder ist einer der Helden dieser wundersamen Dorfgeschichte. Feingliedrig, belesen und weitgereist, sitzt er in bedeutenden Gremien seines Landes; einst hat der nun emeritierte Agrarökonom der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) die Schweizer Regierung auf die Schlussrunde der weltweiten Wirtschaftsverhandlungen Gatt mit vorbereitet.
Aber der Professor ist auch »Bergler«, wie es hier heißt, wenn einer zwischen Kühen und Alphörnern aufwächst; und als Vrin mitsamt seiner 400 Jahre alten Bergbauern-Kultur einzugehen drohte, wurde Rieder der Präsident einer kleinen Stiftung zum Wohle der Gemeinde. Seither ersinnt der welterfahrene Zürcher Wissenschaftler Entwicklungskonzepte für das letzte Dorf am Ende des Tals.
Er dachte nicht daran, es aufzugeben. Die alten Wiesen weiter zu bewirtschaften gehöre zur Pflege der Kulturlandschaft, sagt der Bergler, sonst rutschten die Hänge und neue Wälder würden die fetten Weiden verdrängen. Doch gängige Hilfen wie Milch- oder Getreidesubventionen hielt der Agrarökonom für sinnlos. »Solch kleinen Gemeinden nützen sie wenig«, sagt er. »Sie können nicht genug produzieren, um dauerhaft nur von Landwirtschaft zu leben.«
Touristen? Eine Anlage für Erholungssuchende, schicker als der knorzige, alte Dorfgasthof »Piz Terri«? Rieder schüttelt den Kopf. »Nein«, er lächelt. »Touristen allein können ein Bauerndorf wie Vrin nicht retten.« Viel zu kurz sei die Saison, so früh, wie die Schneeschmelze hier einsetze. Da nütze auch die gute Anbindung an das Städtchen Ilanz nicht, gut eine halbe Stunde dauert die Fahrt mit dem Auto. »Nein, nein, ein Bauerndorf, das überleben soll, muss Werte schöpfen.«
Allein wie? Jeder Dorfrettung, beschied der Professor, gehe eine »Stärken-Schwächen-Analyse« voraus; möglichst gefolgt von einer verrückten Idee.
Der Professor modellierte; wies seine Diplomanden und Mitarbeiter an zu rechnen: Lohnt sich der Bau einer Schlachterei? Wie groß darf sie sein? Wie viel Fläche braucht ein wirtschaftlicher Hof? Die Agrarwissenschaftler spielten Szenarien durch für den »worst« und den »best case": Wie würde sich Vrin entwickeln, ginge alles schief? Wie, wenn alles bestens liefe? Sie blickten auf das Auf und Ab der Weltwirtschaft, sie lieferten Ergebnisse.
Die Vriner, so rieten sie, sollten ihre Wiesen zusammenlegen, all die 3400 schmalen Überbleibsel einer Zeit, in der Bergbauern ihr Land noch mit der Sense mähten. Sie sollten ihr Vieh selbst verarbeiten. Sie sollten es selbst vermarkten.
Inzwischen bewirtschaften 25 Bauern gewinnbringende 610 Wiesen mit modernsten Maschinen. Ein Schlachter hat sich angesiedelt; Viehbesitzer haben eine Genossenschaft gegründet, Vriner Wurst und Bündner Fleisch bringen im Jahr über 100 000 Franken Umsatz. Schreiner und Schlosser beschäftigen mehr Leute - weil die Dorfgemeinde »dem Caminada« zuhört.
Gion Caminada, geboren in Vrin, 48 Jahre alt und robust, ist der andere Held am Ort. Früher war er Schreiner, heute ist er berühmt.Er hat die in Graubünden typische »Strickbauweise« weiterentwickelt und für die neuen Ställe, Häuser und Hallen mehrere Preise gewonnen; zuletzt hat ihn die internationale Arbeitsgemeinschaft Alpenländer ausgezeichnet.
»Bauhaus für die Alpen«, loben Architekturkritiker seinen sachlich funktionalen Stil; gerade ist im Luzerner Quart Verlag ein Katalog mit seinen Arbeiten erschienen*.
Caminada schichtet rechteckig geschnittene, glatt gehobelte massive Holzbalken nach dem Baukastenprinzip zu tragenden Wänden - so, dass sie sich über Eck ineinander verschränken. Selbst die öffentliche Telefonzelle hat er so konstruiert.
Die Stämme sind zuweilen lang wie ein Haus, und immer fordern sie vom Architekten besondere Rechenkunst: Vertikal eingesetzte Hölzer oder Türen und Fenster verändern ihre Größe und Spannung kaum noch, die horizontal eingesetzten Balken dagegen sehr. Die Verwandlung im Voraus einzuplanen macht die Fertigkeit der Strickbauer aus. Seit sechs Jahren lehrt der Architekt seine Kunst an der ETH in Zürich.
»Wir bauen mit Holz, weil die Berge hier davon genug haben«, sagt er, und die Südtiroler, die er nun durch Vrin führt, drängen sich um ihn und staunen.
Wie hingemalt liegt das Dorf vor ihnen inmitten der vom Regen vollgesogenen tief-
grünen Hänge. Unauffällig schön stehen
Caminadas Bauten da, als gehörten sie schon immer in die Nachbarschaft der jahrhundertealten Holzhäuser und der weit in den Himmel ragenden Barockkirche. »Beeindruckend«, ein Besucher aus Meran ist begeistert.
Der Wind zerzaust des Baumeisters Haar, das schwarz ist wie sein Bart. Er winkt ab, »es haben ja alle mitgezogen«.
Das war auch nötig. Immerhin stimmen die direktdemokratischen Schweizer auch über kleinste Einzelheiten in ihren Heimatgemeinden ab. »Es gab Zeiten, da haben sich dann alle mit der Frage beschäftigt, wie so ein Stall auszusehen habe«, erzählt Rieder. »Zum Glück ist der Gion einer von ihnen.«
Gleich einem Missionar für guten Geschmack hat Caminada den Vrinern die Schönheit verkündet - und schließlich erließen die Demokraten im Dorf eine rigide Bauordnung nach seinem Willen: kein Alpenkitsch, keine zu Ferienwohnungen umgebauten Ställe, kein Neubau ohne Bauberater - bislang hieß der immer Caminada. Kein Mindestabstand. Keine Hecken. Nichts, was die Komposition Vrin stören könnte. Wer ein Gebäude zur Hälfte umbauen möchte, muss es gleich ganz abreißen und neu errichten.
Weil seine Architektur das Leben erträglicher mache, akzeptierten die Vriner sie, sagt Caminada. »Wenn ein Stall funktioniert, dann darf er auch schön sein.« Und irgendwann blicken auch die Zweifler im Dorf stolz auf die Berg-Moderne.
»Die Wirklichkeit bauen«, nennt der Architekt, was er und Rieder in Vrin versucht haben. Längst arbeiten sie ihre Erfahrungen wissenschaftlich auf, entwickeln für die ETH gemeinsam »Modelle zur Erneuerung von gefährdeten Tallandschaften«.
Ob sich ihr architektonisches Agrar-Experiment wirklich auf andere strukturschwache Orte übertragen lässt? Ein Caminada-Stall kostet immerhin 600 000 Schweizer Franken; so viel hat die Gemeinde auch für ihr Totenhaus ausgegeben, wo die Dorfbewohner ihre Verstorbenen drei Tage lang aufbahren und betrauern. »'Ne Menge Asche«, raunt ein Besucher.
Die Vriner haben Glück. Sie leben in der Schweiz.
Fast 80 Prozent der Kosten übernehmen Bund und Kantone, wenn ein Bauer im Dienste der Kulturlandschaft einen Stall baut. Auch die Dorfkasse war nie leer. Vrins Gemeindevertreter erhalten jährlich 510 000 Franken Entschädigung für ein entgangenes Staudamm-Projekt.
»Es kommt vor allem auf die Haltung an«, wehrt Rieder die Einwände ab, und die sei auch in ärmere Gegenden exportierbar. »Ein anderer Ort hat andere Ressourcen. Sie zu unterstützen und so zu kombinieren, dass Menschen daran freiwillig teilnehmen und sich engagieren, ist das Geheimnis.«
Ob das Experiment am Ende glückt, bleibt dennoch ungewiss. Denn eigentlich, so hat der Wissenschaftler errechnet, sind 500 Einwohner langfristig die kritische Untergrenze. »Sonst entstehen keine urbanen Strukturen im Dorf«, sagt er, doch die brauche der Mensch, weil jeder, egal wo er lebe, heute die gleichen modernen Bedürfnisse habe: »Kultur. Finanzieller Profit. Ein Sozialleben.« Ein Dorf habe gewonnen, wenn dort Menschen siedelten, die es nicht müssten: Planer, Übersetzer, Architekten, Werber. »Fehlt dieser Dritte Sektor, hat ein Dorf keine Chance.«
Das letzte Kapitel in seinem Buch widmet Rieder der Zukunft von Vrin. Ob es die Gemeinde je auf 500 Einwohner bringt? »Ich zweifle«, gesteht der Gelehrte.
Etwas Verrücktes müsse geschehen, schon bald, schließlich sei im engen Tal nicht unbegrenzt Platz für immer neue Häuser und Ställe.
Abends, bei Spaghetti und Rotwein, wagen Architekt und Wissenschaftler zuweilen einen verwegenen Gedanken. Vielleicht doch Tourismus? Etwas für sinnsuchende Städter? Meditation für Intellektuelle? Ein Kloster ohne Mönche, errichtet in Caminadischer Strickbau-Weise?
»Caminada«, sagt Rieder, und der Architekt skizziert bereits den Klosterhügel auf ein Schmierpapier, »findet Vrin den schönsten Ort auf der Welt. Er wird alles tun, damit es so bleibt.« KATJA THIMM
* Bettina Schlorhaufer (Hg.): »Cul zuffel e l'aura dado - GionA. Caminada«. Quart Verlag, Luzern; 200 Seiten; 49 Euro. (Der Titelist rätoromanisch und bedeutet so viel wie »Zwischen Föhn undkalten Brisen«; der Text ist deutsch und italienisch.)