Christian Stöcker

Enttarnte Militärbasen Fitness-Leaks

Eine Fitness-App hat diese Woche wohl für Panik und Wutausbrüche im Pentagon, bei der CIA und anderswo gesorgt. Strava hat versehentlich geheime Standorte verraten - aber noch weit mehr enthüllt.

"Datenschutz ist kein Endverbraucherprodukt, bei dem man einfach 'akzeptieren' klickt, und dann ist alles gut. Datenschutz ist eher wie Luftqualität oder sicheres Trinkwasser, ein öffentliches Gut, das man nicht effektiv regulieren kann, indem man auf die Weisheit von Millionen individuellen Entscheidungen vertraut."

Zeynep Tufekci in der "New York Times" 

Vergangenen Sommer war ich im Urlaub auf einer schwedischen Schäreninsel. Einem auf angenehme Weise scheinbar zivilisationsfernen Ort, an dem es keine Autos gibt und man zum Einkaufen mit der Fähre auf die Nachbarinsel fahren muss, mit verschlungenen kleinen Trampelpfaden durch Nadelwälder.

Der nette Mann, der uns sein Haus dort vermietete, gab uns den Tipp, einem seiner Freunde, der auf der Insel lebt, in der Fitness-Tracking-App Strava zu folgen, um Zugriff auf dessen Laufstrecken zu bekommen. Das erwies sich als sehr nützlich. Der Mann hatte das Trampelpfadnetz der Insel, das nicht einmal Google Earth richtig abbildet, bei seinen sportlichen Aktivitäten praktisch vollständig kartiert.

Europa ist ein See aus Lava

Nach dem Urlaub habe ich Strava wieder von meinem Smartphone gelöscht, aber ich bekomme noch immer per Mail Benachrichtigungen, dass irgendjemand mir jetzt auf Strava "folgt". Ich bin kein großer Fan davon, meinen Aufenthaltsort und meine Bewegungsmuster öffentlich zu machen, aber viele Menschen sind da weniger zimperlich.

US-Soldaten zum Beispiel und vermutlich auch CIA-Agenten. Diese Woche wurde nämlich bekannt, dass das Unternehmen Strava, indem es sogenannte Heat Maps auf Basis des eigenen Datenschatzes veröffentlichte , nicht nur eindrucksvolle Bilder der Fitnessaktivitäten von Menschen rund um den Globus geliefert, sondern versehentlich auch zum Teil geheime Militär- und Geheimdiensteinrichtungen sichtbar gemacht hatte.

Die Strava-Karten  sind Bilder von eigentümlicher Schönheit: Pfade aus Licht auf dunklen Landkarten, die an den Film "Tron" denken lassen, oder an die fotografische Technik der Lichtmalerei. Sie basieren dem Unternehmen zufolge auf "einer Milliarde Aktivitäten" und bestehen aus drei Billionen individuellen GPS-Messpunkten.

Besonders hell strahlt die Strava-Weltkarte in den Zivilisationszentren des Planeten. Europa sieht aus wie ein See aus Lava, die US-amerikanischen Küsten tragen breite Spitzensäume aus Licht. Japan und Südkorea strahlen mancherorts fast weiß, während Nordkorea fast völlig schwarz erscheint - bis auf ein paar Straßen in Pjöngjang, wo offenbar Angehörige der privilegierten Herrscherkaste mit Spielzeugen aus dem Westen an ihrer Kondition arbeiten.

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Andere solche Anomalien finden sich etwa am Rande von Mogadischu, wo eine geheime CIA-Einrichtung vermutet wird, oder in Afghanistan. Warum nicht die neuen, verhaltenspsychologisch ausgeklügelten Motivationshelfer nutzen, um die Jason-Bourne-Konstitution zu erreichen?

Das US-Militär hat zu diesem potenziell lebensgefährlichen Datenleck selbst beigetragen, indem es Tausende Fitnesstracker an Soldaten verteilte - offenbar ohne ausreichend nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass die in vielen Apps standardmäßig aktivierten Funktionen zum Teilen der eigenen Daten dringend abgeschaltet werden sollten. Nun können interessierte Taliban online nachsehen, wo die US-Marines am liebsten joggen gehen.

Die Kollateralschäden, die wir Digitalzivilisierten verursachen

Die Strava-Weltkarte macht zwei unterschiedliche, aber verwandte Facetten der digitalen Gegenwart sichtbar. Die eine ist: Die Entscheidung darüber, ob bestimmte Daten weitergereicht oder gar öffentlich gemacht werden dürfen, kann man nicht einfach dem Einzelnen überlassen, der im Zweifel aus reiner Trägheit auf "akzeptieren" klickt. 'Mehr' ist im Zusammenhang mit Daten über Abermillionen von Menschen nicht einfach mehr, sondern etwas anderes. Das Aggregat ist mehr als die Summe des Aggregierten.

Die Analogie zu anderen großen Kollateralschäden der menschlichen Zivilisation ist augenfällig: Die Abgase eines einzelnen Autos für den Klimawandel verantwortlich zu machen, wäre widersinnig. Alle gemeinsam aber tragen wir mit unserer Mobilität und unserem Energieverbrauch die Schuld an der Tatsache, dass Gletscher und Polareis schmelzen, der Meeresspiegel ansteigt, Landschaften versteppen und so weiter.

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Gerade in Verbindung mit maschinellem Lernen sind die gigantischen Datenmengen, die wir Digitalzivilisierten ständig produzieren, auf andere, aber ähnlich schwer vorhersagbare Weise wirkmächtig. Die Soziologin Zeynep Tufekci formuliert es im eingangs zitierten "New York Times" -Artikel so: "Selbst dann, wenn alle Technologiefirmen wohlmeinend und in gutem Glauben handeln würden, wären sie nicht in der Lage, Sie darüber zu informieren, in was genau Sie da einwilligen."

Leuchtende Inseln aus Zukunft, umgeben von Mittelalter

In diesem Zusammenhang sollte man sich eins klar machen: Die Strava-Schätze sind, so eindrucksvoll und potenziell gefährlich sie sein mögen, ein Witz im Vergleich zu dem, was andere Unternehmen seit Jahren an Ortsdaten sammeln. Google zum Beispiel, Apple und Microsoft mit ihren GPS-gekoppelten Karten- und Navigationsdiensten, und natürlich Mobilfunkanbieter. Dass diese ungleich größeren Datenschätze eben nicht öffentlich zugänglich sind, macht sie sogar noch wertvoller, aber nicht weniger anfällig für Missbrauch.

Es geht aber nicht nur um Ortsdaten: biometrische Merkmale von Gesichtszügen bis zum individuellen Laufstil , Kommunikationsinhalte, dazugehörige Metadaten und in sozialen Netzwerken enthüllte persönliche Vorlieben, Suchmaschinenanfragen und Browserverläufe - die Datenberge, aus denen eines Tages womöglich nicht einkalkulierte Erkenntnisse, Einsichten und Risiken entstehen, wachsen sekündlich weiter. Die Europäische Datenschutzverordnung, die demnächst in Kraft tritt, ist ein erster, wichtiger Schritt auf dem Weg in eine Welt, in der wir dieser Tatsache ins Auge sehen. Aber sie wird auf Dauer nicht reichen.

Das zweite Faktum der digitalen Gegenwart, das die Strava-Daten sichtbar machen, ist die Spaltung der Welt: Die mutmaßliche CIA-Einrichtung in Somalia, die Militärlager in Afghanistan und anderswo, die Joggingreviere der Autokraten Nordkoreas - alles leuchtende Inseln aus Zukunft in einem Meer aus vordigitaler, teils mittelalterlicher Gegenwart. Hier die Nutznießer und Rohstofflieferanten des Digitalkapitalismus, dort alle anderen, in deren Welt Privatsphäre noch existiert.

William Gibsons berühmter Satz muss erweitert werden: Die Zukunft ist schon da, sie ist nur nicht gleichmäßig verteilt - und sie birgt ungeahnte Gefahren.

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