AUTOMOBILE Dem Leben frönen
Vom Rückstand als strategischer Chance sprach VW-Chef Bernd Pischetsrieder noch Anfang des Jahres: So sei der Großraum-Volkswagen Sharan als letzter seiner Art auf den Markt gekommen und habe dann »das Feld von hinten aufgerollt«. Ähnliches solle nun der um Jahre verspätete Touran leisten - Wolfsburgs Minivan der Golf-Klasse.
Als der nun endlich erschien, feierte die Fachpresse ihn jedoch nicht gerade als Botschafter spät berufener Fortschrittlichkeit. Der Touran, höhnte »Auto Bild«, sehe »so brav und bieder« aus, »als hätte er die Klasse der Kompaktvans schon vor Jahrzehnten gegründet«. Auch in seinem technischen Konzept stecke »wahrlich keine Revolution«.
Trösten können sich die Wolfsburger Konstrukteure allenfalls damit, dass ein Wettbewerber noch später dran ist als sie: Die Kölner Ford-Werke werden ihren ersten Großraum-Focus namens C-Max erst im Herbst auf den Markt bringen.
Beide Hersteller laufen damit einem Trend hinterher, den Renault schon vor sieben Jahren mit dem Mégane-Ableger Scénic begründete. Am 27. Juni kommt bereits der Nachfolger in den Handel. Das Hochdachmobil mit Klapptischen im Fond wurde zum Kultgefährt für junge Familien und verkauft sich inzwischen besser als der Standard-Mégane (siehe Grafik).
Mit relativ einfachen Mitteln hatte Renault eine neue Fahrzeuggattung geschaffen und blieb über Jahre ohne Konkurrenz. Erst 1999 legte Opel den Astra-Van Zafira nach, der in der Raumausnutzung noch einen Schritt weiter ging: Als erster Van der Golf-Klasse hatte er sieben Sitze.
Das trickreiche Konstrukt von Klappstühlen ist bis heute einzigartig. Ohne dass einer der Sitze ausgebaut werden muss, lässt sich der Zafira in einen Kleintransporter mit ebener Ladefläche verwandeln. Kein anderer Hersteller hat das durch zahlreiche Patente geschützte Prinzip bislang kopiert.
Die Marktchancen der Kompaktvans - über eine Million Zafira und über zwei Millionen Scénic wurden bisher verkauft - haben andere Hersteller total unterschätzt. Ford hatte Ende der Neunziger schon den Prototyp eines Focus-Vans fertig und legte das Projekt wieder auf Eis. VW erschöpfte seine Entwicklungskapazität mit anderen Prioritäten - etwa der umstrittenen Luxuslimousine Phaeton.
Die nun nachgelegten Modelle aus Wolfsburg und Köln unterscheiden sich vor allem im Innenraumkonzept: VW folgt eher Opel und bietet den Touran als Fünf- oder Siebensitzer an. Für Variationen des Innenraums müssen die Sitze jedoch umständlich ausgebaut werden.
Der Ford Focus C-Max orientiert sich mehr an Renault: Ihn wird es nur als Fünfsitzer geben. Laut Projektleiter Gunnar Herrmann verlangt nur eine winzige Minderheit der Käufer solcher Autos sieben Plätze. Der C-Max ziele eher auf Freizeitmenschen, die »dem Leben frönen« (Herrmann) und zum Beispiel reichlich Sportgeräte transportieren wollen.
Selten werde Platz für mehr als vier Insassen benötigt. Deshalb sieht das Ford-Konzept eine Platzanordnung vor, bei der der mittlere Sitz im Fond zurückgeklappt und die beiden äußeren auf einer schräg nach innen verlaufenden Schiene zurückgeschoben werden. Es entsteht ein Raumangebot fast wie in Luxusautos.
Eine dritte Sitzreihe hält Ford-Manager Herrmann auch aus Sicherheitsgründen für bedenklich. Die Deformationszone im Heck sei in diesem Fall »schlicht zu klein« - eine Ansicht, die auch die Konstrukteure von Renault teilen. Der neue Scénic wird zunächst nur fünf Sitze haben. Erst im nächsten Frühjahr legt Renault dann einen »Grand-Scénic« mit drei Sitzreihen nach. Der wird 24 Zentimeter länger sein - also über eine entsprechend größere Verformungszone im Heck verfügen.
VW und Opel berufen sich darauf, dass Touran und Zafira die amerikanischen Zulassungsvorschriften erfüllen. Dazu gehört, anders als in Europa, auch ein Heckaufprall-Test: Eine 1,8 Tonnen schwere Wand wird mit 50 Stundenkilometer von achtern gegen das Fahrzeug geschmettert.
Die Crashexperten des ADAC zweifeln jedoch am Sinn dieses Tests. Zum einen verlangen die US-Behörden keine Dummy-Belegung auf der dritten Sitzreihe. Die Prüfer betrachten lediglich das Deformationsbild und schätzen dann das Verletzungsrisiko ab.
Zudem werden Autos gewöhnlich nicht rücklings von einer Wand gerammt, so dass sich die Aufprallenergie gleichmäßig auf das Wagenheck verteilen kann. Beim viel wahrscheinlicheren Eindringen etwa eines Geländewagens ist die Verletzungsgefahr auf den Rücksitzen wesentlich größer. »Der Test«, sagt ADAC-Ingenieur Bernhard Felsch, »sagt über das reale Unfallgeschehen sehr wenig aus.«
Volkswagen plagt indes noch ein anderes Sicherheitsproblem: An den Lüftergebläsen von drei Touran-Modellen haben defekte Kondensatoren Fahrzeugbrände ausgelöst - glücklicherweise noch vor der Auslieferung an die Kunden. Statt hurtig das Feld aufzurollen, wie von Pischetsrieder geplant, muss VW zunächst 24 000 Touran zum Austausch der Kondensatoren in die Werkstätten zurückrufen.
CHRISTIAN WÜST