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NATUR Der Bärenflüsterer

Ein neuer Dokumentarfilm von Regisseur Werner Herzog erzählt das Leben von Timothy Treadwell. 13 Sommer lang lebte der Bärenfreund bei Alaskas Grizzlys. Dann fraßen sie ihn.
aus DER SPIEGEL 33/2005

Timothy Treadwell, 46, wurde verspeist von einem Bären - eine Todesart, die ihm nicht gänzlich zuwider war. Er hatte Hunderte lebensgefährlicher Begegnungen mit wilden Braunbären überstanden. »Ich liebe sie von ganzem Herzen«, sagte er. »Ich werde sie beschützen, auch wenn ich dafür sterben muss.« 13 Sommer lang hatte er in Alaska mit Zelt und Kamera oft ganz allein unter bis zu 700 Kilogramm schweren Küstengrizzlys ausgeharrt. Nie hatten ihm die Tiere ein Leid zugefügt.

Treadwell, ein blonder Surfertyp aus dem kalifornischen Malibu, schwamm mit den Bären. Er schaute freudig zu, wenn sie kopulierten. Er streichelte ihre Jungtiere. Er kroch auf allen vieren zwischen ihnen herum. Er gab ihnen Namen: »Booble«, »Mr. Chocolate«, »Demon«, »Hulk« oder »Daisy«. Er sang Lieder für sie und faselte jeden Tag Sätze wie: »Booble, mach dir keine Sorgen, ich bin doch jetzt hier, um auf dich aufzupassen.«

Treadwell war der Bärenflüsterer - und Alaskas Katmai-Nationalpark war für ihn nicht Wildnis, sondern sein ganz persönliches Teddybärchen-Disneyland. Aber am 5. Oktober 2003 - einen Tag bevor ihn ein Buschflieger abholen sollte - wurde einer der Teddys zur Bestie.

Es regnete. Seine Freundin Amie Huguenard, 37, lag im Zelt, während er, wie so oft, versuchte, einen marodierenden Bären zu verscheuchen. Sie schaltete die Videokamera ein, vergaß aber, die Kappe vom Objektiv zu nehmen. Von dem, was dann geschah, zeugt darum nur eine Tonspur, die außer dem zuständigen Gerichtsmediziner nur sehr wenige Menschen gehört haben.

Um 13.56 Uhr brüllt Treadwell zu Huguenard: »Komm raus, ich werde hier umgebracht.« Sie ruft: »Spiel toter Mann.« Er schreit. Ein Bär zerreißt ihn offenbar bei lebendigem Leibe; wahrscheinlich trennt er ihm Gliedmaßen ab. Sie versucht, das rasende Tier mit einer Bratpfanne zu schlagen. Treadwell kreischt, sie solle gehen und sich in Sicherheit bringen. Aber sie bleibt. Sein Martyrium dauert ganze vier Minuten, dann verstummt er. Nur die hohen Schreie von Huguenard sind noch zu hören, ehe das Band endet.

Zwei Tage später trifft eine Bergungsmannschaft ein. In der Nähe von Treadwells Zelt erschießen sie zwei aggressive Bären. Einen schneidet ein Biologe auf und räumt vier Müllsäcke Mensch aus seinem Magen. Von Treadwell finden sie andernorts nur den Kopf (ohne Skalp), etwas Schulter und seine Unterarme samt Armbanduhr, die tadellos funktioniert. Von Huguenard ist weniger übrig.

Das war das Ende von Timothy Treadwell, und manche in Alaska sagen, er habe nur das bekommen, was er verdiente. »Er hat sich verhalten, als hätte er es mit Menschen in Bärenkostümen zu tun«, sagt einer. Andere trauern um einen furchtlosen Naturschützer, der die Bären vor Wilderern bewahrt und die Öffentlichkeit über sie aufgeklärt habe. Wieder andere fanden ihn schlicht unterhaltsam.

Fast zwei Jahre nach seinem Tod erreichen Treadwells Ruhm und die Diskussion um sein Treiben neue Höhepunkte. Zwei neue Bücher sind erschienen* - und letzte Woche ist in den USA Werner Herzogs grandioser Dokumentarfilm »Grizzly Man« angelaufen.

Auf dem Sundance-Filmfestival wurde der Film bereits ausgezeichnet. Der »Hollywood Reporter« urteilt: »Einer der besten Naturfilme, die je gemacht wurden.« Dabei handelt er nicht so sehr von Bären, sondern davon, wie ein Mann mit hochturbulentem Innenleben versucht, die Grenzen der Natur und des Menschseins zu überwinden und aufzugehen in der Bärenwelt. Wann der Film nach Deutschland kommt, steht noch nicht fest.

Herzog ("Aguirre, der Zorn Gottes«, »Fitzcarraldo") ist Experte für charismatische Spinner. Legendär ist seine Hassliebe zum Egomanen Klaus Kinski und dessen Schimpfkanonaden, die Herzog im Dokumentarfilm »Mein liebster Feind« (1999) zelebriert hat. Dem lebenden Treadwell ist er nie begegnet - einem Wirrkopf, der sogar Herzog einige Umdrehungen zu irre zu sein scheint.

Herzog, 62, hat über 100 Stunden Videomaterial ausgewertet, das Treadwell selbst von seinem Bärenleben gedreht hat. Der Kalifornier hat in der Wildnis vor der Kamera oft glühende Monologe gehalten, voll von heiligem Zorn und zarter Poesie. Außerdem hat Herzog Freunde und Kritiker, Gerichtsmediziner, Buschpiloten und Forscher befragt. »Grizzly Man« ist ein faszinierendes, manchmal tragisches und oft umwerfend komisches Porträt eines wahnhaften Naturromantikers aus der Stadt.

»Dies«, sagt Herzog, »ist entschieden ein Anti-Walt-Disney-Film. Ich glaube, wir brauchen das.« Vorstellungen von vermenschlichten Tieren, New-Age-Phantasien von Harmonie im Universum und Urfriede mit der Natur, wie sie zuletzt in Disneys »Bärenbrüder« gefeiert wurden, sind ihm zuwider. Wenn Treadwell das Gesicht eines Bären filmte, dann entdeckte er darin offenbar Seelenverwandtschaft, Empathie und Verständnis. Im gleichen Gesicht sieht Herzog nichts als »ein halbgelangweiltes Interesse für Nahrung«.

Während die Grizzlys ihn meist gutmütig ignorierten, versicherte Treadwell jedem einzelnen gut gelaunt: »I love you.« Herzog findet das nicht so lustig. »Es ist falsch, Bären zu lieben«, sagt er. »Man soll sie respektieren und in Ruhe lassen.«

Partout nahm Treadwell für sich in Anspruch, die Bären zu schützen. Dafür hat er eine Organisation namens »Grizzly People« gegründet, dafür trat er im Winter und Frühjahr in Schulen auf, dafür zog er jeden Sommer hinaus als Anti-Wilderer-Wacht, und zwar immer ohne Gewehr, meist ohne Pfefferspray, meist auch ohne Satellitentelefon oder Funkgerät.

Ob die Bären aber jemals Treadwells Schutzes bedurften, ist zweifelhaft. Im Nationalpark herrschen strenge Regeln. Bewaffnete Ranger stellen sicher, dass sie eingehalten werden. Wilderer gibt es so gut wie nicht. In Katmai leben über 2000 Küstengrizzlys, mehr als an jedem anderen Fleck auf Erden. Die Bären hier brauchten nie einen Retter - Treadwell schon.

In Malibu hatte er früher als Barmann gejobbt, wenn er nicht gerade betrunken war oder voll von anderen Drogen. Einmal starb er fast als Folge einer Überdosis Heroin. Das war sein Erweckungserlebnis. Danach suchte Treadwell nach dem Sinn seiner Existenz und fand ihn ausgerechnet hoch oben im Norden. »Ich habe kein Leben gehabt«, sagt er den Tränen nahe in »Grizzly Man«. »Jetzt habe ich eins.«

Er hörte auf mit den Drogen und begann ein Dasein, um das ihn wenige beneiden würden. In Alaskas Sommer stürzen sich Myriaden von Mücken und den berüchtigten Black Flies auf jedes Fitzelchen entblößter Haut. Es regnet oft tagelang. Treadwell war regelmäßig vollkommen durchweicht und konnte kaum trocknen, denn Feuer durfte er nicht machen. Er aß vor allem Erdnussbutter. An manchen Zeltplätzen bekam er nachts bis zu viermal Besuch von Bären, die mit Schnauze oder Tatzen sein Zelt erkundeten.

Für Treadwell aber war all dies offenbar reine Therapie. In einem eigenen Buch schrieb er: »Mr. Chocolate, du und all die anderen Bären, ihr wart so eine wunderbare Inspiration für mich. Ihr habt mir so viel Frieden und Hoffnung gegeben. Ihr habt mir beigebracht, Verantwortung zu übernehmen und verlässlich zu sein. Ich versuche so sehr, anständig und gut zu sein, aber ich habe noch so viel zu lernen.«

In der angeblichen Mission, Bären zu schützen, konnte Treadwell sogar Schauspieler wie Leonardo DiCaprio und Pierce Brosnan oder auch das Supermodel Gisele Bündchen überzeugen, ihn jedes Jahr mit einigen tausend Dollar zu unterstützen. Als gewitzter Abenteurer trat er auf in Talkshows. Auf die Frage von David Letterman, ob man je in der Zeitung lesen werde, dass er zerfetzt worden sei, antwortete er entschieden: »Nein.«

Dennoch hat er die Möglichkeit stets einkalkuliert - und vielleicht war er sogar befallen von einer gewissen Todessehnsucht. Er verabschiedete sich von Freunden oft mit den Worten: »Und wenn ich nicht wiederkomme, dann soll es das eben gewesen sein.« Inständig bat er sie, keine Rettungsmannschaften loszuschicken, weil sie ja die womöglich beteiligten Bären töten würden.

So aber gab es zwei tote Menschen und zwei tote Bären - und viele finden, dass all dies allein Treadwells Fehler war.

Unklar ist, ob Treadwell den Bären kannte, der ihn fraß. Vielleicht hatte er ihn kurz vor seinem Tod sogar selbst gefilmt. Vielleicht hatte er ihm bereits einen Namen gegeben. Die Ranger zumindest kannten das Tier. Für sie war es »Bär 141« - männlich, sehr massig, 28 Jahre alt, immer unauffällig.

Aber warum wurde »Bär 141« zum Menschenfresser? Vielleicht hatte Treadwell das Pech, einem Bären unter besonderem Stress zu begegnen. Am Ende der Saison müssen sie bereit sein für ihre bis zu sechs Monate dauernde Winterruhe. Sie schlingen darum ohne Unterlass, um die lebenswichtigen Fettpolster anzulegen.

Das Gefühl der Sättigung kennen sie dann nicht mehr - und vielleicht erweitern manche von ihnen in der Not ihren Speiseplan um alles, was ihnen Kalorien verspricht. MARCO EVERS

* Nick Jans: »The Grizzly Maze - Timothy Treadwell's Fatal Obsession with Alaskan Bears«. Dutton Adult, New York; 288 Seiten; 24,95 Dollar. Mike Lapinski: »Death in the Grizzly Maze - The Timothy Treadwell Story«. Falcon, Guilford; 192 Seiten; 14,95 Dollar. * Beim Besuch des American Museum of Natural History in New York.

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