ERDSATELLIT Der Begleiter
Wenn in einer fernen Milchstraße ein explodierender Stern hell wie hundert Millionen Sonnen aufleuchtet oder im Sonnen-System ein neuer Komet als lichtschwacher Nebelfleck erscheint, meldet der Astronom, der das Phänomen im All sichtet, die Entdeckung an das Astronomische Zentralbüro in Kopenhagen. Die Kopenhagener Gelehrten geben die Meldung eilends an alle größeren Sternwarten weiter, damit Astronomen in allen Kontinenten ihre Teleskope und Himmelskameras auf das neue Objekt im Weltraum richten können.
Am Montag der vergangenen Woche forderte das Astronomische Zentralbüro die Forscher an allen großen Observatorien der Welt auf, nach einem neuartigen Himmelsobjekt auszuschauen, das von einem Beobachter in Alaska - nach seiner Helligkeit - als »Stern zweiter Größe« gesichtet worden war, sich aber dennoch von den Trillionen Sternen des Universums unterschied. Der neue »Stern zweiter Größe«, der am 4. Oktober des Jahres 1957 nach Christi Geburt in den Himmel über der Sowjet-Union aufstieg, war eine 83,6 Kilogramm schwere Kugel aus legiertem Aluminium: der sowjetische Erdsatellit »Sputnik« (Begleiter).
Die Nachricht, daß der Planet Erde von den Sowjets mit einem neuen Trabanten ausgestattet worden war, scheuchte gleichzeitig das Heer von Satelliten-Spähern, das die Amerikaner für ihr eigenes Satelliten-Programm rekrutiert hatten, in fiebrige Aktivität. Hastig gaben die Leiter des amerikanischen Satelliten-Projekts das Stichwort für den Beginn des »Project Moonwatch«.
Das »Unternehmen Mondwacht« war vor Monaten sorgsam vorbereitet worden, um den ersten amerikanischen Satelliten auf seiner Bahn zu verfolgen. Überall dort, wo der amerikanische Mond über dem Horizont auftauchen konnte, sollten Gruppen von Berufs- und Amateur-Astronomen den künstlichen Himmelskörper in der Morgen- und Abenddämmerung mit Feldstechern und Kometensuchern orten.
Mit großem Aufwand hatten amerikanische Radiotechniker annähernd längs des 75. Meridians von dem amerikanischen Bundesstaat Maryland bis zur südamerikanischen Republik Chile eine Kette von UKW-Empfangsstationen aufgebaut, die Funksignale des amerikanischen Satelliten auf der 3-Meter-Welle peilen sollten, wenn er bei seinem Erdumlauf alle anderthalb Stunden diesen »elektronischen Zaun« durchbrach. In Washington wurde ein riesiges Elektronengehirn installiert, das mit einer Geschwindigkeit von 41 800 Rechen-Operationen je Sekunde die genaue Flugbahn des Satelliten ermitteln sollte, sobald die ersten Berichte von den Mondwächtern und Funkpeilern eintrafen.
Diese weltweite Beobachter-Organisation, die monatelang auf die charakteristischen Eigenschaften des amerikanischen Satellitenfluges eingedrillt worden war, mußte buchstäblich über Nacht reorganisiert werden. In nahezu hysterischer Eile tauschten die Techniker der UKW-Kette Teile ihrer Antennen und Empfangsgeräte aus, um die Lebenszeichen des Sowjet-Trabanten empfangen und peilen zu können. Denn »Sputnik« gab sein zirpendes Piep-Piep nicht auf der 3-Meter-Welle, sondern auf dem 7,5 und 15-Meter-Band. Die grobe Bestimmung der Flugbahn an Hand von Funkpeilungen galt als das vordringlichste Problem, das die Wissenschaftler nach dem erfolgreichen Start des Satelliten zu bewältigen hatten. Nur auf Grund einer Flugbahnberechnung konnten die Forscher die Positionen des Satelliten im Raum angeben und den Mondwächtern Anhaltspunkte für das Auffinden des winzigen Trabanten in der Morgen- und Abenddämmerung verschaffen. Wenn erst einmal drei exakte Positionsangaben vorlagen, konnte das Elektronengehirn mühelos den genauen Himmelsfahrplan des Satelliten errechnen.
Das Ergebnis der verwickelten Rechen-Operationen, die jeder Astronomie-Student in den ersten Semestern erlernen muß, hatte nicht nur akademische Bedeutung. Der Himmelsfahrplan des Satelliten mußte ein Geheimnis entschleiern, das zwar zum hehren Forschungsobjekt des »Geophysikalischen Jahres« erklärt worden war, aber im Zeitalter der interkontinentalen Fernraketen auch einen Schlüssel zum zielgenauen Fernbeschuß birgt. Das Geheimnis: die genaue Gestalt der Erde und die Beschaffenheit der höchsten Luftschichten.
Seit die Erdvermessung, die Geodäsie, eine wissenschaftliche Disziplin ist, vermuten die Forscher, daß die Erde nicht das an den Polen abgeplattete Rotations-Ellipsoid ist, als das sie Generationen von Grund- und Oberschülern präsentiert wurde. Nach den Erkenntnissen der Gelehrten muß der Erdkörper vielmehr - von Bergen und Tälern abgesehen - etwa die unregelmäßige Form eines Apfels haben, die von den Erdvermessern als Geoid bezeichnet wird.
Weil die üblichen Methoden der Erdvermessung auf der Meeresoberfläche nicht anwendbar sind, können die Wissenschaftler beispielsweise noch immer nicht exakt die Entfernung zwischen zwei Punkten der Erdoberfläche angeben, die durch Ozeane getrennt werden. Solche Daten, wie zum Beispiel die präzise Entfernung zwischen einer sowjetischen Raketenbasis und der amerikanischen Bundeshauptstadt Washington, gehören ebenso wie Angaben über die Beschaffenheit der höchsten Luftschichten zu den wichtigsten Meßunterlagen, die ein Mathematiker oder ein Elektronengehirn zur Berechnung einer Fernraketenflugbahn benötigt.
Drei Kraft-Akte
In der Nacht zum 5. Oktober, in der »Sputnik« zum erstenmal nordamerikanisches Gebiet überflog, versuchten die Wissenschaftler im Forschungszentrum der US-Marine verzweifelt, erste Anhaltspunkte für den Himmelsfahrplan des Sowjet-Satelliten zu ermitteln, der das Geheimnis der Erdgestalt preisgeben würde. Aber vergebens fütterten die Forscher die ersten ungenauen Funkortungen in ihr Elektronengehirn. Alle Bemühungen, aus den von vielen hundert Beobachtern eintreffenden Meldungen die sich ständig verlagernde Fährte des Satelliten aufzuspüren, (siehe Zeichnung), scheiterten. In jener Nacht wurde den amerikanischen Wissenschaftlern eindringlich demonstriert, wie hilflos sie einem Feuerschlag interkontinentaler Fernraketen ausgesetzt wären, die ungleich zu orten sind, als ein ständig Funkzeichen ausstrahlender Satellit.
Erst als Radio Moskau am Samstagmorgen Umlaufzeit und Höhe des Satelliten sowie die Neigung seiner Bahn gegen den Erdäquator bekanntgab, gelang es Amerikas Satelliten-Experten, ein grobes Bild der Spur des roten Mondes auf ihre Weltkarten einzuzeichnen. Die Beobachtungen, die daraufhin von den Mondwächtern gemacht wurden, bestätigten vollauf die Angaben der russischen Forscher.
Was die amerikanischen Wissenschaftler am stärksten frappierte, waren Bahn und Gewicht des neuen Himmelskörpers. Die Techniker des amerikanischen Satelliten-Projektes »Vanguard« (Vorhut) hatten geplant, ihre Träger-Rakete nahe dem Äquator in östlicher Richtung abzuschießen. Denn jeder Punkt in Äquatornähe dreht sich infolge der Erdrotation mit Überschallgeschwindigkeit um den Erdmittelpunkt nach Osten: Ein Projektil, das von einem äquatornahen Punkt in Richtung Osten startet, würde also eine überschallschnelle Anfangsgeschwindigkeit als Gratiszugabe mit auf den Weg bekommen. Auch eine verhältnismäßig schwache Rakete könnte auf diese Weise die Geschwindigkeit erreichen, die erforderlich ist, um den Satelliten in eine Kreisbahn zu tragen.
Ein Satellit in solch einer äquatornahen Kreisbahn hätte sich allerdings weniger zu einer politischen und technologischen Machtdemonstration geeignet. Er wäre nicht - wie jetzt der sowjetische »Sputnik« mindestens zweimal täglich - von jedem Punkt der Erdoberfläche zu sehen gewesen. Er hätte beispielsweise auch nur einen kleinen Zipfel sowjetischen Gebiets überquert, und es wäre den russischen Wissenschaftlern weitgehend erspart geblieben, nach einem amerikanischen Stern am Sowjet-Himmel Ausschau halten zu müssen.
Aber selbst die verhältnismäßig kleine amerikanische Rakete für den von der Erdrotation begünstigten Start in Äquatornähe konnte nicht rechtzeitig fertiggestellt werden. Die Ingenieure des »Projektes Vorhut« wollten ihren 10 Kilo schweren Satelliten mit einer dreiteiligen ("dreistufigen") Rakete auf 500 Kilometer Höhe tragen. Der unterste Teil - die »1. Stufe« - des 22 Meter hohen Projektils sollte eine verbesserte Version der Forschungsrakete »Viking« sein.
Nachdem die Verzögerungen den ursprünglichen Terminplan durchkreuzt hatten, entschlossen sich die Leiter des »Vorhut«-Projektes zu einem radikalen Schritt, der ihnen einen Vorsprung im Satelliten-Wettlauf mit den Russen sichern sollte: Statt einer 10 Kilo schweren Kugel von der Größe eines Schulzimmerglobus sollte nunmehr ein winziges Kügelchen von 15 Zentimetern Durchmesser und 2 Kilo Gewicht als Künder der technologischen Allmacht Amerikas in den Himmel steigen (SPIEGEL 34/1957). Doch selbst diese drastische und blamable Einschränkung vermochte das Programm nicht erkennbar zu beschleunigen.
Immer deutlicher erwies sich der Entschluß der Washingtoner Behörden, das Satellitenprojekt einer Gruppe ziviler Wissenschaftler und dem Marineforschungsamt zu übertragen, als Fehlentscheidung. Der Raketenkonstrukteur und V-2-Schöpfer Professor Wernher von Braun hatte bereits vor Jahren vorgeschlagen, statt einer schwächlichen, zivilen »Viking« die von ihm entwickelte starke »Redstone«-Rakete der US-Army als »1. Stufe« eines Satellitenprojektils einzusetzen. Wernher von Braun, der sich darauf berufen konnte, daß seine »Redstone« mit brillanten Ergebnissen erprobt worden war, versicherte den Washingtoner Behörden: »Wir könnten mit der 'Redstone' schon im Herbst 1955 einen 10 Kilo schweren Satelliten ins All schicken.« Aber sein Vorschlag wurde verworfen, der für die Armee tätige Wernher von Braun vom Satellitenprojekt ausgeschlossen.
Das amerikanische Verteidigungsministerium diktierte dem grollenden von Braun Redeverbot, als in der vergangenen Woche das Auftauchen des roten »Begleiters« seine Argumente in frappierender Weise bestätigte: Die Sowjets hatten offensichtlich keine schwächliche Forschungsrakete, sondern eine riesige ballistische Rakete aus ihrem Waffen-Arsenal verwandt. Drei Fakten waren es, die Amerikas Satelliten-Experten zu dieser Schlußfolgerung führten:
▷ Der Sowjet-Satellit ist fast vierzigmal schwerer als der noch nicht abgeschossene amerikanische Kleinst-Satellit.
▷ Die Sowjet-Rakete ist weit oberhalb des Äquators wahrscheinlich in nordöstlicher Richtung abgefeuert worden. Die russischen Raketenkonstrukteure haben also den Abschuß weitgehend ohne die Starthilfe durch die Erdrotation bewältigt, auf die Amerikas Satelliten-Planer nicht verzichten zu können glauben.
▷ Die Sowjets haben ihren 83,6 Kilo schweren Satelliten 900 Kilometer hoch in den Weltenraum gejagt. Die noch nicht vollendete amerikanische Satellitenrakete soll dagegen frühestens im Dezember den fast vierzigmal leichteren Baby-Mond auf eine Kreisbahn in nur 500 Kilometer Höhe tragen.
Fast noch imposanter als diese raketentechnischen Kraft-Akte wirkte auf die amerikanischen Forscher die Erkenntnis, daß die sowjetischen Ingenieure das vertrackte Feinmechaniker-Problem des Satelliten-Starts bewältigt hatten: das Einsteuern der Träger-Rakete auf die Satellitenbahn. Sobald der zweite Treibsatz ("2. Stufe") der-Träger-Rakete ausgebrannt ist und das gesamte Projektil in einer gekrümmten Flugbahn weiter gen Himmel steigt, muß der letzte Treibsatz ("3. Stufe") genau dann gezündet werden, wenn die Rakete den höchsten Punkt ihrer Flugbahn erreicht hat, die dort parallel zur Erdoberfläche verläuft (siehe Zeichnung). Was noch schwieriger ist: Der Raketenmotor muß dann das Projektil binnen weniger Sekunden in eine exakt vorgeschriebene Richtung in der Himmelssphäre steuern.
Normalerweise können Raketen durch Ruder gesteuert werden, die im Gasstrahl des »Raketenauspuffs« liegen. Aber wie sollte ein ballistisches Projektil in eine bestimmte Richtung ausgerichtet werden, wenn es in der letzten Phase seines Aufstiegs mit erloschenem Raketen-Motor antriebslos durch den Raum fliegt? Schwingungen im Raketenkörper und unvermeidbare Unregelmäßigkeiten beim Erlöschen des Raketen-Motors versetzen die Rakete in torkelnde Drehbewegungen um alle drei Achsen. In Höhen von vielen hundert Kilometern ist die Luft zu dünn, als daß die Rakete noch durch Schwanzflossen stabilisiert werden könnte.
Die amerikanischen Satelliten-Experten hatten erwogen, ihre Träger-Rakete wie eine Artilleriegranate durch schnelles Rotieren um ihre Längsachse (Drall) zu stabilisieren. In Amerikas interkontinentaler ballistischer »Atlas«-Rakete, bei der das Steuerungsproblem für die Zielgenauigkeit entscheidend ist, soll ein eingebautes Elektronengehirn die Rakete durch Astronavigation im Raum orientieren. Photozellen, die künstlichen Augen der Rakete, sollen bestimmte Himmelskörper erkennen und deren Position gegenüber dem Raketenkörper dem eingebauten Elektronengehirn mitteilen. Das Elektronengehirn berechnet dann in Bruchteilen von Sekunden die Drehbewegungen, die eingebaute, von Motoren angetriebene Stabilisatoren ausführen müssen, um die torkelnden Bewegungen der Rakete zu stoppen und das Projektil auszurichten.
Ob sich dieses Verfahren der Astronavigation tatsächlich bewährt, konnte an der »Atlas« noch nicht geprüft werden. Alle »Atlas«-Raketen zerplatzten schon kurz nach dem Start in der Luft. Welches Steuerverfahren die Russen bei ihrer Satelliten-Rakete verwandten, ist nicht bekannt. Das Auftauchen des russischen Satelliten beweist jedoch, daß die Sowjets das Steuerungsproblem gelöst haben.
Aus ihren eigenen Rechnungen konnten Amerikas Raketenforscher schließen, daß die Steuerung der russischen Mondrakete mit unglaublicher Präzision gearbeitet haben muß. Wenn nämlich die »3. Stufe« der russischen Rakete nur um wenige Grad zu weit der Erde zugeneigt gewesen wäre, so wäre der Satellit zu tief in die irdische Lufthülle eingetaucht und hätte nur wenige Umläufe vollführen können. Ende letzter Woche aber hatte »Sputnik« bereits mehr als hundertmal die Erde umkreist. Während Amerikas Satelliten-Techniker ihre Arbeiten am »Projekt Vorhut« mit nunmehr hektischer Aktivität vorantrieben - obwohl der Start des Baby-Mondes die erdweite Demonstration der sowjetischen Raketentechnik keineswegs wettmachen kann -, verkündeten russische Wissenschaftler bereits Pläne für das Entsenden von Sowjetmenschen ins Weltall und für die Eroberung des Mondes »zwischen 1960 und 1965«.
Auf dem 8. Astronautischen Kongreß, der in der vergangenen Woche in Barcelona tagte, eröffnete der amerikanische Rechts-Experte Andrew G. Haley den Delegierten: »Wenn die Sowjets auf dem Mond landen, können sie ihn nach den heute gültigen internationalen Rechtsanschauungen als sowjetisches Gebiet beanspruchen.« Angesichts dieser Gefahr will der amerikanische Rechts-Experte dem Astronautischen Kongreß vorschlagen, den natürlichen Mond zum »freien und unabhängigen Autonomie-Gebiet« zu erklären.