VERHALTENSFORSCHUNG Deutsch für Hunde
In seiner Show im Januar 1999 kündigt »Wetten, dass ...?«-Moderator Thomas Gottschalk einen ungewöhnlichen Kandidaten an: Ihr Hund Rico, behauptet Susanne Baus aus Münster, kenne die Namen von 75 verschiedenen Spielzeugen - und trage auf Befehl jedes verlangte Stück zwischen den Zähnen herbei.
Für die Wette hat Baus die komplette Plüschtier-Kollektion des Vierbeiners in die Augsburger Schwabenhalle gekarrt, außerdem Bälle, Gummiknochen und allerlei buntes Stoffspielzeug. In einer Art Manege ist die Sammlung rund um Hund und Halterin aufgebaut. Showmaster Gottschalk zieht nacheinander fünf Karten, Frauchen Baus gibt das Kommando: »Rico, wo ist der Igel? Such den Igel!«
Meist umkreist der zottelige Vierbeiner ein paar Mal die Stofftierriege - aber schließlich schleppt er schwanzwedelnd den Igel an, das Herz, den kleinen Fußball in den Farben von Borussia Dortmund, den Löwen und die Orange. Nie schnappt er daneben.
Noch dauerhafter als Ricos TV-Ruhm ist jetzt womöglich seine Karriere als wissenschaftlich anerkanntes Lerngenie. Der Nachweis seines bemerkenswerten Talentes zum Vokabelpauken, den das renommierte amerikanische Fachblatt »Science« in seiner aktuellen Ausgabe dokumentiert, soll helfen, ein Dauerrätsel der Evolutionsbiologie zu lösen: Wann und wie kam der Mensch zur Sprache?
»Bei seinem Fernsehauftritt habe ich gleich gesehen, dass sich an diesem Hund Fragen klären lassen, die mich schon lange interessieren«, erinnert sich Julia Fischer vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. Die Biologin hatte für ihre Habilitation das Gekreisch von Berberaffen und Pavianen analysiert, um zu ergründen, welche Laute die Affen auseinander halten können. »Wenn Rico all diese Begriffe wirklich versteht, dachte ich mir, ist er ein mindestens ebenso gutes Forschungsobjekt für die Sprachevolution wie ein Affe.«
Schnell war sich die Forscherin mit der stolzen Hundebesitzerin einig. Drei Jahre lang schauten Fischer und ihre Leipziger Kollegen Juliane Kaminski und Josep Call dem schwarz-weißen Rüden fortan dabei zu, wie er Stofftiere durch sein Heim im Westfälischen trug. Ergebnis: Rico, 9, kann weit mehr, als er im Fernsehen zeigte. So außerordentlich scheinen die Erkenntnisse auch den »Science«-Redakteuren, dass sie Fischers Forschung am vergangenen Donnerstag in einer großen Pressekonferenz im Berliner Wissenschaftsforum präsentierten.
Mittlerweile ist Ricos Vokabular auf rund 250 Begriffe angeschwollen, ein Ende des Hunde-Deutschkurses ist nicht abzusehen. »Langsam fallen uns für neue Sachen keine Bezeichnungen mehr ein«, stöhnt Susanne Baus. Und Biologin Kaminski hat beobachtet, dass der Hund im Laufe des Forschungsprojekts immer schneller lernte: »Er hat einfach das Prinzip verstanden, dass Dinge Namen haben.«
Noch erstaunlicher als sein wachsender Wortschatz aber ist die Strategie, mit der der Hund diesen erweitert: Rico lernt neue Begriffe auf eine Weise, die bislang nur bei Menschen bekannt waren.
»Fast mapping«, schnelles Zuordnen, nennen Entwicklungspsychologen die Fähigkeit von Kleinkindern, unbekannten Gegenständen in einer Art Ausschlussverfahren eine Bezeichnung zuzuweisen.
Die US-Psychologin Susan Carey erforschte das Prinzip im Kindergarten. Sie zeigte ihren kleinen Probanden zwei Tabletts, ein blaues und ein olivgrünes. Dann bat sie die Dreijährigen: »Bring mir das ,Chromium'-Tablett, nicht das blaue.« »Blau« kannten die Kinder, »Chromium«
hatten sie nie gehört. Also wählten sie das olivgrüne Tablett - und notierten in ihrem mentalen Lexikon, dass »Chromium« offenbar eine Farbe bezeichnete.
Forscherin Fischer ersann ein ähnliches Experiment für den begabten Hund: Sie platzierte acht Spielzeuge im Versuchsraum. Sieben davon stammten aus Ricos Sammlung, das achte war eine Neuanschaffung. Zum Auftakt des Versuchs musste Rico einen bereits bekannten Gegenstand finden. Dann nannte Besitzerin Baus die Bezeichnung für das neue Spielzeug. In immerhin sieben von zehn Experimenten trug Rico sofort das neue Stofftier herbei.
»Offenbar kann er das unbekannte Wort mit dem neuen Gegenstand verbinden«, erklärt Fischer. Und er kann sein Wissen speichern: Nach vier Wochen hatte Rico den Begriff in der Hälfte der Versuche immer noch im Kopf - obwohl er das Spielzeug zwischendurch nicht zu Gesicht bekommen hatte.
Eine so komplexe Leistung hätten die meisten Forscher wohl allenfalls Primaten zugetraut. Wegen ihrer nahen Verwandtschaft zum Homo sapiens gelten die Menschenaffen als ideale tierische Probanden für das Verständnis der Entstehungsgeschichte der Sprache. Denn die kann nur auf indirektem Wege enträtselt werden. Weil die ersten Grunzlaute unserer Vorfahren für immer verklungen sind, versuchen Forscher auf der ganzen Welt, die Evolution der Sprache auch am Tiermodell nachzuvollziehen.
Je genauer die Kommunikationsfähigkeit von Tieren untersucht wird, so die Hoffnung, desto deutlicher wird sich herauskristallisieren, welche Umstrukturierungen in Hirn und Sprechapparat letztlich dazu führen, dass einzig der Mensch eine abstrakte Sprache entwickelte.
Der Star unter den mitteilsamen Affen ist Bonobo Kanzi. Der Zwergschimpanse lebt im Language Research Center im US-Bundesstaat Georgia. Kanzi beherrscht 250 Wörter, die er mit Hilfe einer speziellen Symboltastatur auswählen kann. »Kanzi kann so darüber reden, was er morgen erleben möchte«, beteuert seine Trainerin Sue Savage-Rumbaugh, »er kann auch ausdrücken, was gestern passiert ist.«
Doch für diesen Erfolg musste Savage-Rumbaugh mehr als 20 Jahre auf den Bonobo-Mann einreden. Eine Begabung für »fast mapping« hingegen, wie sie nun beim Border Collie in Erscheinung trat, konnte bei Affen bisher so nicht nachgewiesen werden. »Ricos Fähigkeit zum Lernen von Wörtern übertrifft die von Primaten«, kommentiert der Sprachforscher Paul Bloom von der Yale University - und sagt voraus: »Für Psychologen könnten Hunde die neuen Schimpansen sein.«
Das glaubt auch Terrence Deacon von der University of California in Berkeley, der seit Jahren der Frage nachgeht, wie die Evolution von Gehirn und Sprache zusammenhängt. »Wir können von Hunden ebenso viel über Sprache lernen wie von Menschenaffen - und möglicherweise von vielen anderen Spezies.«
Was genau den Ausschlag für das beispiellose Kommunikationssystem des Menschen gab, sei nach wie vor ein Rätsel. »Gemeinsames Jagen, wie es wilde Hunde tun,
könnte ebenso ein Anstoß gewesen sein wie das höher entwickelte Gehirn der großen Affen«, spekuliert Deacon. Nicht nur die biologische, auch die soziale Evolution habe vermutlich eine wichtige Rolle gespielt.
So verdankt Hund Rico seine besonderen Fähigkeiten möglicherweise einem jahrtausendelangen Auswahlprozess bei seinen Vorfahren: Seit rund 15 000 Jahren hält sich der Mensch die bellenden Vierbeiner als Haustiere. »Einer der Gründe für die hohe Sensibilität für menschliche Sprache könnte die Domestikation sein«, vermutet daher Biologin Kaminski.
Bereits in früheren Studien hat sie herausgefunden, dass Hunde auch menschliches Verhalten besser deuten können als Affen. »Ein Hund begreift sofort, wenn man mit dem Finger auf einen Behälter deutet, in dem sich Futter befindet«, berichtet Kaminski. »Affen kapieren das nie.«
Ricos Begabung zeigt: Jene Mechanismen, die uns das Verständnis von Sprache ermöglichen, müssen sich in der Evolution weit früher herausgebildet haben als angenommen - vor allem auch früher als die Fähigkeit, tatsächlich loszuplappern.
»Man muss nicht unbedingt sprechen können, um sehr viel zu verstehen«, schließt die Leipziger Forscherin Fischer. Auch die Berberaffen, die sie in freier Wildbahn beobachtet hat, könnten ein erstaunliches Lautrepertoire auseinander halten: »Es bleibt die Frage, warum nur der Mensch eine wirkliche Sprache entwickelt hat.«
Eine Erklärung liefern Organisation und Anatomie der tierischen Kommunikationswerkzeuge. So fehlen etwa bei Primaten die direkten neuronalen Verbindungen zwischen den Hirnbereichen, die willkürliche Bewegungen kontrollieren, und jenen, die die Kehlkopfmuskulatur steuern. Der Kehlkopf bei Hund und Affe sitzt außerdem zu weit oben. Anders als Menschen nach dem Säuglingsalter können die Tiere daher gleichzeitig atmen und schlucken - doch die hohe Lage hindert sie auch an der Produktion von sprachähnlichen Lauten.
Schon deswegen musste »der sprechende Hund« im gleichnamigen Loriot-Trickfilm kläglich scheitern: Auf Anweisung seines Besitzers soll der weiße Wuschel zwar Sätze wie »Herr Otto Mohl fühlt sich unwohl am Pol ohne Atomstrom« sprechen - zu verstehen ist indes stets nur ein heiseres »Ho-ho-ho-ho«.
Schon deutlich besser klang der - höchst reale - Seehund Hoover, der in den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts im Bostoner Aquarium lebte. Anthropologe Deacon, damals noch an der Harvard University, staunte nicht schlecht, als er auf einem Abendspaziergang plötzlich menschliche Laute aus dem Wasser hörte - obwohl kein Mensch in der Nähe war. »Ach, das ist Hoover«, beschieden Aquariumsmitarbeiter dem Forscher tags darauf.
Hoovers Äußerungen beschränkten sich auf Mitteilungen wie »hello there« oder »Hoova Hoova hey«, zudem lallte der inzwischen verstorbene Seehund wie ein betrunkener Matrose. »Bis wir ein anderes Säugetier finden, das auf ähnliche Weise sprechen kann, bleibt Hoover aber ein erstaunliches Phänomen«, findet Deacon.
Der Evolutionsbiologe Tecumseh Fitch möchte den Fall der radebrechenden Robbe jetzt reproduzieren. Fitch will Studenten seiner Universität im schottischen St. Andrews anheuern, die mit jungen Seehunden plaudern sollen. Auch Hoover hatte angeblich nur deshalb zu sprechen begonnen, weil er als verwaistes Seehundbaby in der Badewanne eines Fischers aufgezogen wurde.
»Seehunde können menschliche Sprache imitieren, und sie benutzen dazu ähnliche Gehirnstrukturen wie wir«, erläutert Fitch. Einem Seehund das Sprechen beizubringen sei daher aussichtsreicher, als dasselbe bei Schimpansen zu versuchen, deren Begabung zum Nachäffen menschlicher Laute aus anatomischen Gründen eher begrenzt ist.
Die besten Imitatoren menschlicher Laute finden sich unter den Vögeln - und auch die können schon mal mehr als einfach nur Nachquatschen. Alex, Graupapagei der US-Forscherin Irene Pepperberg, kennt etwa hundert Wörter; und wenn die Wissenschaftlerin ihm zwei Schlüssel unterschiedlicher Farbe und Größe zeigt, entscheidet er, welche Farbe der größere hat. »Ich könnte mir gut vorstellen, dass auch Alex das Prinzip des schnellen Zuordnens beherrscht«, vermutet Max-Planck-Forscherin Fischer.
Sie will als Nächstes testen, ob Border Collie Rico eine Ausnahmebegabung ist oder ob jeder Hund zu linguistischen Höhenflügen erzogen werden kann. »Ein Blindenhund zum Beispiel versteht bis zu 40 Kommandos«, weiß Biologin Kaminski, »im Prinzip ist das vergleichbar mit Ricos Fähigkeiten.«
Rico soll außerdem zeigen, ob sein Sprachvermögen über das Konzept hinausreicht, dass Spielzeuge Namen haben, und ob er die Wörter auch in anderem Zusammenhang als dem Suchspiel versteht. Erste Hinweise auf seine Fähigkeit, einfache Kategorien zu bilden, haben die Forscher bereits gesammelt. So kann der Hund rund 20 Bälle unterscheiden, sie heißen etwa »BVB« oder »Schalke 04«. Doch wenn Susanne Baus nach einem »Ball« verlangt, greift er sich den nächstbesten aus seiner Sammlung.
Kaminskis eigener Hund dagegen scheint die These vom allgemeinen Sprachgenie der Vierbeiner bislang nicht zu bestätigen: »Ich übe seit Wochen mit ihm«, erzählt die Biologin, »aber er kann noch nicht einmal zwei Spielzeuge auseinander halten.« JULIA KOCH