ATOMSTRAHLEN Die Herbst-Wolke
Eine Disziplinwidrigkeit des wissenschaftlichen Assistenten Dr. Walter Herbst vom Radiologischen Institut der Universität Freiburg im Breisgau war der Anlaß, dessentwegen die Fachkommission »Strahlenschutz« der »Deutschen Atomkommission« vor kurzem einen Sonderausschuß bildete; diesen Zusammenhang sieht jedenfalls der Direktor des Freiburger Radiologischen Instituts, Professor Dr. Harms Langendorff. Der neue Sonderausschuß soll überprüfen, »ob eine gesundheitsschädliche radioaktive Verunreinigung der Atmosphäre, der Niederschläge und der Erdoberfläche besteht«. Der Freiburger Instituts-Direktor Langendorff ist nun Sachverständiger des Sonderausschusses geworden. Er meint, ohne die Eskapade seines Assistenten Dr. Walter Herbst wäre das Gremium wohl nicht so schnell eingesetzt worden.
Dr. Walter Herbst ist noch nicht allzu lange Assistent am Radiologischen Institut der Freiburger Universität. Vorher war er am Landwirtschaftlichen Institut tätig, und in dieser Position stellte er am 16. Oktober 1951 fest, daß - von Kompetenteren unbemerkt - eine radioaktive Wolke am Himmel vorüberzog. Es war die erste, die über der Bundesrepublik ausgemacht wurde.
Der landwirtschaftliche Assistent Herbst veröffentlichte in wissenschaftlichen Fachblättern eine kleine Notiz über seine Beobachtung. Aber er begegnete weithin Unglauben. Kernphysiker sagten: »So was gibt es doch gar nicht.«
An dieser radioaktiven Wolke wurde der Zwist offenbar, der heute zwischen Kernphysikern und Atomtechnikern, auf der einen, Medizinern und Chemikern auf der anderen Seite herrscht. Radiologe Langendorff bekennt: Ich habe festgestellt, daß die Kluft so tief ist, daß wir beinahe schon nicht mehr miteinander reden können.« Langendorff sagt, dieser weltweite Zwiespalt habe sich natürlich auch In Westdeutschland
bemerkbar gemacht: »Der ehemalige Atom -Minister Strauß hat sich offenbar zuerst von den Leuten beeinflussen lassen, die Reaktoren bauen wollten, egal wie. Als man die Atomkommission gründete, dachte kein Mensch an eine Kommission für Strahlenschutz.«
In das Lager der Mediziner und Chemiker, denen mehr an Strahlenschutz als an Kernenergie gelegen ist, gehörte nun auch der Dr. Walter Herbst, dem seine radioaktive Wolke von den Kernphysikern nicht so recht geglaubt wurde. Professor Langendorff meint: »Das Ist sein erstes Trauma.« Mit wissenschaftlicher Besessenheit ging Walter Herbst deshalb daran, radioaktive Niederschläge auf den Wiesen und Weiden seiner engeren Heimat und In landwirtschaftlichen Produkten nachzuweisen. Der Assistent betrieb seine Untersuchungen solange weiter, bis die Stuttgarter Regierung das Landwirtschaftliche Institut schloß und Herbst - er hat Frau und vier Kinder - dadurch arbeitslos wurde. Bald holte ihn jedoch Professor Langendorff vom Radiologischen Institut und gab ihm die Möglichkeit, seine Untersuchungen fortzusetzen.
Während Institutsdirektor Langendorff in diesem Sommer mehrere Wochen lang in Ascona Urlaub machte, hielt Assistent Herbst den Zeitpunkt für gekommen, einen Beweis dafür zu bieten, daß es über Deutschland doch radioaktive Wolken gebe. Er faßte das Ergebnis seiner vielfältigen Stichproben in einem Bericht zusammen und schickte ihn mit dem Kopf »Radiologisches Institut der Universität Freiburg« und der Unterschrift »Im Auftrag: Herbst« unter anderem an den Ordinarius für Theoretische Physik der Universität Mainz, Professor Karl Bechert, der in der letzten Zeit wiederholt öffentlich mit Warnungen vor den Gefahren der Radioaktivität hervorgetreten ist.
Bechert setzte sich hin und rechnete aus den Stichproben des Walter Herbst heraus, wie gefährlich die Atomstrahlenverseuchung für die Menschen schon ist. Er kam zu einem Ergebnis, das er mit zwei Worten kommentierte: »Einfach fürchterlich.« Ordinarius Bechert gab das Ergebnis seiner Berechnungen an die Presse, und so machten Mitteilungen über die Radioaktivität der Milch von Schwarzwaldkühen in der letzten Zeit ihre Runde durch die Zeitungen.
Professor Langendorff war kaum aus Ascona zurück, da wurde er schon von dem damaligen Atom-Minister Franz-Josef Strauß angerufen. Der Minister erkundigte sich bei dem Institutsdirektor, was das denn für eine Untersuchung sei, von der die Presse plötzlich vollstehe und von der er, der Atom-Minister, nichts wisse. Institutsdirektor Langendorff kam schnell dahinter, daß es Assistent Herbst war, der seine Stichprobenergebnisse verschickt hatte, und schrieb an Franz-Josef Strauß einen beruhigenden Brief:
»(Die) Meßwerte reichen nicht aus, um eine wissenschaftlich fundierte Stellungnahme zu der Frage nach der Gesundheitsschädlichkeit radioaktiver Verunreinigungen von Nahrungsmitteln abzugeben, da es sich nur um Stichproben handelt ... Die aus diesem Meßprotokoll von einem theoretischen Physiker (gemeint ist Professor Bechert) gezogenen Schlußfolgerungen sind vom radiologischen und vom strahlengenetischen Standpunkt aus in dieser Form nicht haltbar beziehungsweise auf keinen Fall zur Zeit nachweisbar, da die Meßwerte nur auf Stichproben beruhen...«
Privat erläutert Langendorff näher: »Wir Wissenschaftler müssen zuerst immer einmal herumspielen, bis wir den richtigen Weg gefunden haben, und so war es auch in diesem Fall.« Bei Milch beispielsweise seien weder vorher noch nachher je wieder solche Werte gemessen worden, wie Herbst sie in seinem Protokoll nannte. Nach Langendorff besteht sogar die Möglichkeit, daß die Herbstsche Milch Im Institut mit radioaktiven Substanzen in Berührung gekommen ist.
Wenn sich Professor Langendorff auch von seinem Assistenten Herbst distanzierte - »Ich habe ihm intern den Kopf gewaschen« -, der Gelehrte ist doch froh darüber, daß Franz-Josef Strauß »endlich einmal denen nachgegeben hat, die nicht von der Kernphysik kommen«, und wenige Tage nach dem Herbstschen Wirbel einen Sonderausschuß zur Erforschung der radioaktiven Verunreinigung zu Lande, im Wasser und in der Luft einsetzte.
Professor Langendorff will seinen eifrigen Assistenten denn auch trotz dieser Affäre weiter in seinem Radiologischen Universitäts-Institut behalten.
Am Freitag letzter Woche trat der Sonderausschuß zu seiner ersten Arbeitssitzung zusammen.
Radiologe Langendorff: Zwist in der Wissenschaft
Assistent Herbst
Wissenschaftler messen herumspielen