TIERVERSUCHE Die Rächer der Ratten
Laurie Pycroft - fettiges Haar, Brille, immer müde vom Computerspielen - war 16 Jahre alt und saß in Oxford im Café. Draußen wälzte sich wieder eine Demo durch die Innenstadt; Tierversuchsgegner skandierten: »Stoppt das Biolabor!«
Seit Monaten schon war die Stadt im Ausnahmezustand. Autos waren demoliert worden, ein Bootshaus hatte gebrannt, denn die Universität Oxford wollte ein Großlabor bauen, in dem Nager, Fische und auch Affen mit Leib und Leben in den Dienst der Forschung treten sollten. Kurz sah Laurie den Demonstranten zu, dann rannte er hinaus und schrie aus voller Kehle:
»Baut das Biolabor! Baut das Biolabor!«
Das war unerhört. Viele Oxford-Professoren dachten so, aber selbst in ihren Reihen wagte kaum noch einer, das zu sagen. Die Tierschützer kreisten Laurie ein, die Polizei holte ihn raus, und seit dieser Sponti-Aktion im Januar 2006 hat Laurie seine Mission gefunden: für die Wissenschaft, wider den Terror der Tierschutzextremisten.
Laurie ist Eigentümer zweier Katzen, Gloria und Charlie, und, wie er sagt, er mag sie sehr. Aber er liebte auch seinen Opa, den er dank der Tatsache kennenlernen durfte, dass dem alten Herrn noch Herzklappen von Schweinen eingesetzt worden waren. »Menschen kommen zuerst«, sagt Laurie.
Ganz allein gründete er die Organisation »Pro-Test«, um sich einzusetzen für Tierversuche, wo sie unumgänglich sind. Rasch schlossen sich ihm Studenten und Professoren an, zusammen organisierten sie öffentliche Debatten und Gegen-demonstrationen, die plötzlich mit mehr als tausend Marschierern besser besucht waren als die der angeblichen Tierfreunde, und seither steht das Haus von Lauries Eltern unter Polizeischutz.
Seitdem wandelt sich auch in ganz Großbritannien die Stimmung. Das Land mit der tiefverwurzelten Liebe zum Flauschigen (dessen erstes Tierschutzgesetz von 1822 datiert) hat nach Jahren der Selbstfindung den Kampf gegen Europas fanatischste Tierversuchsgegner aufgenommen. Es gibt neue Gesetze und knallharte Zugriffe.
Wieder führen die Briten einen Krieg gegen den Terror - dieses Mal daheim und dieses eine Mal, so scheint es, erfolgreich.
Was Tierversuche angeht, so genossen etwa die militanten Aktivisten der »Animal Liberation Front« seit ihrer Gründung 1976 weitreichende Kumpanei und Komplizenschaft und ein öffentlich selten in Frage gestelltes Meinungsmonopol. Wenn sie auch Brände legten oder Briefbomben verschickten: Stets konnten sie sich verlassen auf das diffuse Schuldgefühl der schweigenden Mehrheit ob des Elends der Versuchstiere.
Doch jetzt schwindet dieser Rückhalt rapide - dank Laurie und Pro-Test, aber auch, weil sich die Rächer der Laborratten mit maßlosen Aktionen ins Abseits oder gleich in Haft befördert haben.
Die Baustelle in der South Parks Road wirkt, als entstünde hier eine US-Botschaft. Stacheldraht spannt sich über den mehr als drei Meter hohen Bauzaun, Videokameras hängen allerorten. Der Rohbau des Oxforder Biolabors steht, doch geheim ist, wie weit er fortgeschritten ist und wann die Tiere kommen. Lange kann es nicht mehr dauern. Wer auf der Straße stehen bleibt und fotografiert, hat innerhalb von Minuten mit Sicherheitsleuten zu tun.
Monatelang zeigten sich die Bauarbeiter hier nur mit vermummtem Gesicht. Keine der beteiligten Baufirmen hat je ihren Firmennamen am Gerüst angebracht. Lkw, die hier verkehren, haben weder Aufschriften noch Nummernschilder.
Denn Vorsicht ist geboten. Tierschützer haben jeden zum Ziel ihrer Attacken erklärt, der auch nur mittelbar mit dem Bau in der Universität zu tun hat, ganz gleich ob technischer Mitarbeiter, Germanistikprofessor oder Anstreicher. Stunden- und tagelang demonstrierten sie mit Sirenen vor Bibliotheken und Seminarräumen. Sie haben Büros von Firmen besetzt, Gerät zerstört und Rufmord betrieben, indem sie zum Beispiel einzelne Uni-Mitarbeiter öffentlich und fälschlich der Pädophilie bezichtigten.
Als sie eine der Baufirmen enttarnten, die am Neubau beteiligt war, stellte die Firma verängstigt alle Arbeiten ein. 17 Monate lang lag die Baustelle brach, denn weit und breit fand die Universität kein Unternehmen mehr, das es wagte, sich dem Zorn der Radikalen auszusetzen.
Zuvor hatte schon die Universität Cambridge kapituliert. Eigentlich wollte sie ein Primatenforschungszentrum errichten. In dessen Labor hätten etwa Alzheimer- und Parkinsonforscher an den Gehirnen von Makaken arbeiten können, was für den Fortschritt bei der Behandlung beider Krankheiten als unverzichtbar gilt. Doch nach Jahren der Planung gab die weltberühmte Universität 2004 auf - »wir können kein Fort Knox bauen«, hieß es damals.
Genau das - eine Festung - ist Huntingdon Life Sciences (HLS) geworden, eine der größten Tierversuchsfirmen Europas und der innigste Feind der Tierseelenverteidiger. Auf ihrem strengbewachten Areal nahe Cambridge testet die Firma pharmazeutische Wirkstoffe an Tieren, aber sie fertigt auch toxikologische Gutachten an über Alltagschemikalien, Umweltgifte oder Nahrungszusätze. Zehntausende Mäuse und Ratten verbraucht sie dafür jährlich, in geringerer Zahl auch Vögel, Kaninchen und Hunde sowie einige Affen. Doch die regelmäßigen Attacken der Tierfreunde haben Huntingdon an den Rand des Abgrunds gebracht.
Dauernde Räumungen wegen Bombenalarm sind noch das Mindeste. Angestellte wurden heimlich fotografiert, ihre Fotos im Internet veröffentlicht. Einige fanden Sprengsätze unter ihrem Auto. Firmenchef Brian Cass, jetzt 60, wurde vor seinem Haus überfallen und von drei Angreifern mit Tränengas und Knüppeln bearbeitet.
Ähnliches drohen die Sympathisanten von »Shac« ("Stop Huntingdon Animal Cruelty") jedem an, der mit HLS kooperiert, ganz gleich ob als Putzdienst, Kurier oder Bank. Und mit dieser Erpressung haben sie grandiosen Erfolg.
HLS hat jetzt in der Geschäftswelt den Rang eines Parias, es ist, »als ob wir radioaktiv wären«, klagt Cass. Keine Firma wagt es mehr, in sichtbaren Kontakt zu treten. Huntingdon hat kein Bankkonto, keine Versicherung, keinen Wirtschaftsprüfer, keinen bekennenden Investor. Der britische Staat ist eingesprungen, um das Unternehmen (Jahresumsatz: 93 Millionen Euro) mit den nötigsten Diensten zu versorgen. HLS musste auch seine eigene Wäscherei aufbauen, seine eigene Kantine, seinen eigenen Sicherheitsdienst.
»Dein Leben ist jedes Mal in Gefahr, wenn du nach deiner Arbeit im Folterhaus zu deinem Auto gehst.« Das stand in einer der E-Mails, die Aktivistin Julia Didrikson, 43, massenweise an HLS-Angestellte verschickte. Ein andermal drohte sie: »Glaube bloß nicht, dass deine Kinder sicher sind, falls du welche hast. Wir finden schnell heraus, auf welche Schule sie gehen und wo sie leben.« Ende September bekam sie für diese Drohungen eine Haftstrafe von fünf Monaten. Bei ihrer Festnahme versicherte sie: »Ich bin doch nur eine harmlose Tierliebhaberin.«
Zwölf Jahre Haft bekam Donald Currie, ein 41-jähriger arbeitsloser Psychiatriepfleger, der sich als Bombenbauer hervortat. Nur durch Zufall hat er niemanden getötet. Seit März sitzt Mark Taylor, 39, eine vierjährige Haftstrafe, ab. Er organisierte für Shac Bürobesetzungen bei Firmen, die mit HLS in Kontakt standen. Typischerweise platzten er und seine Kumpane im Dutzend unter Totenkopfmasken in die Büros und bebrüllten die Angestellten als »Mörder«. Nicht wenige der Heimgesuchten brachen daraufhin verängstigt ihre Beziehungen zu Huntingdon ab.
Auch Tausende Kleinaktionäre des Pharmariesen GlaxoSmithKline wurden
von der Tier-Guerilla bedacht. Wenn sie nicht sofort ihre Anteile verkauften, so hieß es in Rundschreiben, fänden sie sich mitsamt Namen und Adressen im Internet am Pranger wieder.
In vielen Städten Großbritanniens gehen Polizisten jetzt gegen illegale Straßenstände der Tierschützer in den Fußgängerzonen vor. Mit schrecklichen Bildern, meistens sehr alt, sammeln dort unlizenzierte Aktivisten Geld und Unterschriften für Petitionen im Kampf gegen Tierexperimente.
Die Stände sind offenbar einträglich. Einige haben nach Polizeiangaben jährlich mehr als umgerechnet 115 000 Euro eingespielt. Doch nach Erkenntnissen der Ermittler wanderten die Petitionen ungenutzt in den Müll, während das Geld in kriminellen Aktionen versickerte, etwa in Sabotageakten von Shac.
Im Mai stürmten 700 Polizisten bei »Operation Achilles« Dutzende Adressen in Großbritannien, dazu in Belgien und den Niederlanden. 32 Menschen im Alter zwischen 19 und 68 Jahren wurden festgenommen. Gegen 9 von ihnen wegen Erpressung und anderer Vergehen Anklage erhoben. Unter ihnen ist ein Großteil der Tierschützer-Chefetage, auch Greg Avery, Mitbegründer von Shac. Im kommenden Sommer beginnt der Prozess gegen ihn. Eine langjährige Haftstrafe dürfte ihm sicher sein.
Wegen des erhöhten Drucks ist die Zahl der tätlichen Angriffe in diesem Jahr drastisch gesunken - aber tot ist die Bewegung nicht. Die Namen seiner Kunden hält Huntingdon zwar streng geheim. Dennoch sickerte durch, dass angeblich der Schweizer Pharmariese Novartis die Dienste der Firma in Anspruch nimmt.
Ende August kam die Antwort: Angehörige der »Animal Rights Militia« behaupteten, Hunderte Tuben der antiseptischen Novartis-Salbe »Savlon« vergiftet zu haben. Viele Eltern nutzen diese Salbe für die wunden Knie ihrer Kinder. Tausende Tuben wurden aus den Regalen geräumt. Gift fand sich nicht, aber auch viele Tierfreunde zeigten sich wenig begeistert angesichts der Drohung, Kindern wehzutun.
Doch in sich selbst entlarvenden Public Relations haben die Tierrechtler einige Übung. So brachen sie etwa das Grab von Gladys Hammond, 82, auf und entführten den Rest ihres seit acht Jahren toten Körpers. Mit dieser Tat wollten sie ihren Schwiegersohn erpressen, seine Meerschweinchenzucht für die Labors von Huntingdon aufzugeben. Zermürbt fügte er sich.
Anderthalb Jahre nach dem Leichenraub beerdigte er seine Schwiegermutter Mitte 2006 ein zweites Mal. Vier Täter wurden gefasst, drei davon waren einschlägig vorbestraft. Sie wurden verurteilt zu Gefängnisstrafen zwischen vier und zwölf Jahren.
Tipu Aziz ist Neurochirurg und Parkinsonforscher in Oxford. Er ist einer von kaum einer Handvoll britischer Wissenschaftler, die seit Jahren trotz »eines Klimas der Angst«, wie er sagt, öffentlich über die Notwendigkeit von Tierversuchen sprechen.
Dafür steht sein Name im Internet auf Todeslisten, und er muss sehr genau hinsehen, wenn er ein Päckchen mit unbekanntem Absender bekommt. Aber er werde sich nicht mundtot machen lassen, sagt er, denn er habe sich nichts vorzuwerfen, und außerdem sei die Demokratie selbst in Gefahr, wenn Leute nicht mehr wagten, über ihre Überzeugungen zu reden.
Bald wird Aziz in Oxfords neuem Großlabor in der South Parks Road ein Kämmerlein beziehen. Dort wird er jährlich »zwei bis vier« Makaken mit Hilfe bestimmter Substanzen künstlich an starkem Parkinson erkranken lassen. Dann wird er versuchen, die Symptome mit Hilfe von Elektroden zu lindern, die er in ihr Hirn gesetzt hat. Das alles werden die Affen überstehen, am Ende der Experimente werden sie aufgrund gesetzlicher Vorgaben dennoch getötet, und Aziz sieht darin kein Problem.
Mit solchen Versuchen an bisher rund 30 Tieren hat Aziz die Entwicklung des Hirnschrittmachers für Parkinsonkranke entscheidend mitgeprägt. Von den dabei gewonnenen Erkenntnissen profitieren jetzt mehr als 40 000 Menschen auf der Welt - und das oft auf dramatische Weise: Vor der Operation zittern viele von ihnen am ganzen Leib, sie können kaum stehen und nicht gehen. Mit den implantierten Elektroden im Gehirn kommen sie zur Ruhe und leben fast normal.
»Sobald die Leute genügend wissen über Sinn und Zweck von Tierversuchen«, sagt Aziz, »sind sie auch bereit, sie zu unterstützen.« Zumindest hofft er das. Kürzlich aber trat eine 88-jährige ehemalige Krankenschwester in Sträflingskleidung vor seinem Labor in den Hungerstreik. Sie forderte Freiheit für seine Affen und das Ende aller Tierversuche überall.
Das machte Aziz fassungslos. »Eine Krankenschwester in ihrem Alter«, sagt Aziz, »hat noch Kinder massenhaft an Infektionskrankheiten sterben sehen.« Ohne Tierversuche als Kern medizinischer Forschung wäre das noch immer so.
»Die Briten haben ein groteskes Verhältnis zu Tieren«, sagt der aus dem heutigen Bangladesch stammende Mediziner. »Sie sehen in ihnen menschenartige Wesen, die fühlen und denken wie sie selbst.«
Seltsam nur, dass sie dabei nie ein Volk von Vegetariern geworden sind.
MARCO EVERS