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MEDIZIN Digitales Wiedersehen

Ärzten der Universitätsklinik Tübingen ist eine medizinische Sensation gelungen: Sie haben erblindeten Patienten wieder eine einfache Form des Sehens ermöglicht. Der Durchbruch gelang durch das Einpflanzen eines Mikrochips unter die Netzhaut.
aus DER SPIEGEL 52/2009

Um das Wunder zu begreifen, das Miika widerfahren ist, muss man zunächst einmal wissen, in welchem Schattenreich er lebt.

»Mein Leben gleicht einer Fahrt durch dichten Nebel«, sagt der 45-jährige Finne.

Seine Augen nehmen die Welt nur als helle und dunkle Schwaden wahr, ohne Konturen und Farben. »Vor meinen Augen wabern Schatten, die keinen klaren Umriss besitzen.«

Seit seinem 22. Lebensjahr ist das schon so. Denn Miika, der nur bei seinem Vornamen genannt werden möchte, leidet an der Erbkrankheit Retinitis pigmentosa, bei der das Augenlicht langsam verschwindet.

Doch vor kurzem hat sich der Schleier vorübergehend gelichtet. Ein Video existiert von einem Glücksmoment, den er dabei erlebte. Miika sitzt vor einer Banane und einem Apfel und sagt: »Der eine Gegenstand ist rund, der andere länglich.«

Wie gebannt beobachten die Ärzte ihn bei dem Experiment. »Irgendwie ist der Gegenstand gekrümmt«, fährt Miika fort. Er zögert ein wenig. Dann ist er sich sicher: »eine Banane«.

Nach einem kurzen Moment der Überraschung brandet Beifall auf in dem kleinen Versuchszimmer im zweiten Stock der Universitäts-Augenklinik in Tübingen. Auf einmal sieht der Internetunternehmer die Welt mit einem Kunstauge, mit einer Netzhaut aus Silizium - ein digitales Wiedersehen.

In einer vierstündigen Operation hatten ihm die Mediziner einen Chip unter die Netzhaut geschoben, mit einem Kabel daran, das hinter seinem Ohr aus dem Körper trat. Über diese Leitung konnte der Augenarzt Eberhart Zrenner den Computerchip in Miikas Auge ansteuern. Durch Knopfdruck brachte der Wissenschaftler den ewigen Nebel zum Verschwinden.

Das gelungene Experiment ist eine medizinische Sensation. Schon seit zwei Jahrzehnten experimentieren mehr als ein Dutzend Forschergruppen mit Sehprothesen, die erblindeten Menschen wieder eine optische Orientierung bieten sollen.

Lange Zeit gab es auf dem Gebiet nur bescheidene Fortschritte. Doch nun kommt Bewegung in das Forschungsfeld. Erfolge feierten jüngst beispielsweise US-Forscher des Unternehmens Second Sight. Ihre Patienten müssen allerdings eine Spezialbrille mit eingebauter Kamera tragen, deren Bilder kabellos an ein Netzhautimplantat übertragen werden. Bei der Tübinger Technik ist keine Brille notwendig. Ein Chip unter der Netzhaut übernimmt die Signalverarbeitung.

Die deutschen Forscher warten mit einem wirklichen Durchbruch auf: »Wir konnten bei Miika zeigen, dass er mit Hilfe der Sehprothese die Grenze überschritten hatte, jenseits deren er rechtlich nicht mehr als blind gilt«, verkündete Zrenner jüngst stolz auf einem Fachkongress in Miami.

Vor 15 Jahren hatte das Team aus Physiologen, Ingenieuren, Chirurgen und Materialwissenschaftlern damit begonnen, nach technischen Behandlungsmöglichkeiten für Menschen zu suchen, deren Netzhautzellen nach und nach untergehen. Tausende Deutsche erblinden jedes Jahr wegen einer Netzhautdegeneration, sei es aus Altersgründen oder als Folge einer erblichen Krankheit. Zrenner: »Der Leidensdruck für diese Menschen ist riesengroß.«

Doch nun gibt es Hoffnung, und sie hängt an rund 1500 Photozellen. Diese sind auf einem winzigen Mikrochip untergebracht, der nur drei mal drei Millimeter misst. »Unsere Erfindung ähnelt jenen Chips, die auch in Handykameras untergebracht sind«, erklärt Walter Wrobel, Vorstandschef der Reutlinger Firma Retina Implant, die das Implantat auf den Markt bringen soll.

Finanziell unterstützt wird die Arbeit vom Bundesforschungsministerium sowie deutschen Unternehmern, die mit etlichen Millionen Euro in das Projekt eingestiegen sind. Das Geld fließt vor allem in die Entwicklung des Chips und die klinischen Studien. »Wir müssen das Material robust genug für den Einsatz im Körper machen«, sagt Wrobel. Ein Überzug aus Plastik soll die Photozellen schützen gegen die salzhaltigen Körperflüssigkeiten. Der Sensor muss aber gleichzeitig klein genug sein, um die abgestorbenen lichtempfindlichen Zellen der Netzhaut zu ersetzen. Wrobel: »Uns helfen dabei Erfahrungen aus der Entwicklung von Herzschrittmachern und Innenohrimplantaten.«

Gleichwohl sind die Eingriffe im Auge kühne Pioniertaten. Bislang bei elf Patienten haben die Tübinger die Spezialchips eingesetzt. Der älteste war 57, der jüngste 26 Jahre alt. Lange hatten die Operateure an Schweinen geübt, erst danach trauten sie sich an den Menschen.

Zunächst saugten die Chirurgen die Flüssigkeit des Augeninnern aus. Von der Seite eröffneten sie die Aderhaut des Auges, nachdem sie das stark durchblutete Gewebe mit Hitze verödet hatten. Schließlich schoben sie den Chip samt Kabel zwischen Aderhaut und Netzhaut hindurch bis zu jenem Punkt vor, wo der Mensch am schärfsten sehen kann (siehe Grafik).

»Das Implantat wird vom Körper gut vertragen«, berichtet Zrenner, »bei keinem der Patienten haben wir ernsthafte Probleme wie Entzündungen beobachtet.«

Die eigentliche Herausforderung beginnt erst drei, vier Tage nach der OP. Denn das Auge und das Gehirn müssen das Sehen erst wieder erlernen. Patient Miika kann sich noch gut an den Moment erinnern, als Zrenner den Sehchip angeknipst hat. »Plötzlich sah ich wieder scharfe Objekte vor mir«, berichtet der Finne. Doch sie ergaben keinen Sinn. »Sie hüpften vor meinem Auge auf und ab.«

Zrenner war darüber nicht überrascht: »Das Auge muss erst einmal wieder im Einklang mit dem Gehirn schaffen, den Blick auf bestimmte Dinge zu richten.«

Im Laufe mehrerer Stunden aber nahmen die Objekte, etwa Messer und Gabel, vertraute Formen an. Miika konnte sogar Schreibfehler in seinem Namen erkennen: in Buchstaben von etwa fünf bis acht Zentimeter Größe.

Schließlich führte Zrenner seinen Patienten in den großen Hörsaal des Uni-Klinikums, wo mehrere Medizinerkollegen bereits warteten. »Ich sah ihre Silhouette ganz deutlich«, erinnert sich Miika. »Ich konnte sagen, wer von ihnen größer und wer kleiner war.« Vorsichtig lief Miika auf die Personen zu - ohne den weißen Stock, den er gewöhnlich tragen muss.

Für Sehende hat Wrobel eigens eine Spezialbrille gebastelt, die anschaulich machen soll, was ehemals Blinde mit Hilfe des Sehchips wahrnehmen können. Das Bild ist winzig, grob und grau - doch für einen Blinden ist das eine neue, aufregende Welt.

»Wir haben uns bewusst dazu entschieden, den Chip unter die Netzhaut zu implantieren«, sagt Zrenner. Durch diesen Eingriff lässt sich ein großer Teil der Bildverarbeitung in den Nervenzellen der inneren Netzhaut nutzen, die auch bei Blinden meistens noch intakt sind.

Andere Forschergruppen hingegen müssen eine äußere Kamera einsetzen, um die Bilder aufzufangen. Weltweit führend bei dieser Technik ist das US-Unternehmen Second Sight mit Sitz im Sylmar im Norden von Los Angeles. Argus II heißt das aktuelle Implantat der Firma, es soll schon im kommenden Jahr als medizinisches Hilfsgerät für rund 100 000 Dollar in den USA und Europa zugelassen werden.

Anders als bei den Tübinger Forschern ist der amerikanische Sehapparat allerdings nur mit bescheidenen 60 Elektroden bestückt, die für eine Bildauflösung von etwa acht mal acht Punkten sorgen. Der Chip des Geräts liegt auch nicht unter, sondern auf der Netzhaut. Die Elektroden des Implantats reizen die dort vorhandenen Nervenzellen.

Seit Ende 2006 führt das Unternehmen eine klinische Studie mit 32 Patienten aus den USA, Mexiko und Europa durch. Der Vorteil des US-Systems: Argus II kann über Jahre in den Augen der Patienten bleiben. Die Blinden können das Implantat daher nicht nur in der Klinik ausprobieren, sondern in ihrem Alltag testen.

»Viele Patienten berichten uns, dass sie sich besser orientieren können, dass sie Türen und Fenster finden und Bewegungen wahrnehmen«, sagt Brian Mech von Second Sight. Vorläufige Daten zeigten zudem, dass die meisten der Probanden große Buchstaben lesen könnten.

Allerdings warnen die Experten vor überzogenen Erwartungen: »Selbst starke Kontraste können die meisten Patienten erst nach Monaten richtig interpretieren«, betont die Augenärztin Jacque Duncan von der University of California in San Francisco (UCSF), wo Second-Sight-Patienten betreut werden. »Meine Patienten genießen es, bei der Studie mitzumachen; ihren Alltag hat das Implantat jedoch nicht wesentlich verändert.«

»Die Begeisterung der Leute fällt sehr unterschiedlich aus«, gesteht Mech. »Allerdings haben wir keinen Patienten, dem es gar nicht gefallen hat.« Mancher Proband lasse das Gerät gar den ganzen Tag über eingeschaltet.

Dean Lloyd ist einer seiner Vorzeigepatienten. Der 68-jährige Anwalt hat seine Kanzlei im kalifornischen Palo Alto. Seiner Arbeit kann der an Retinitis pigmentosa erkrankte Mann nur nachgehen, weil ihm seine Sekretärin Akten vorliest.

Lloyd trägt Anzug, gemusterte Krawatte und Cowboystiefel. Auf seiner Nase sitzt eine große Sonnenbrille, in deren Steg eine winzige Videokamera eingelassen ist - sie liefert die Bilder, die ihm das rudimentäre Seherlebnis ermöglichen.

In einer über drei Stunden dauernden Operation haben Chirurgen der UCSF die Elektroden auf Lloyds rechter Netzhaut befestigt. Das Implantat empfängt Daten von einem Minicomputer, den der Jurist am Gürtel trägt und der die Videosignale der Brillenkamera in Elektroimpulse umwandelt (siehe Grafik).

Regelmäßig trifft Lloyd sich mit Augenärztin Duncan. Der Patient lernt, auf einem Computerbildschirm auf weiße Punkte zu zeigen. Er lernt, ein Dreieck von einem Quadrat zu unterscheiden und Linien auf dem Monitor zu erkennen.

»Zunächst war das Implantat ziemlich nutzlos«, erinnert sich Lloyd. »Ich habe erwartet, Bilder zu erkennen; aber so ist es nicht.« Stattdessen sieht er Blitze, »wie aufleuchtende Sterne am Nachthimmel«.

Die Augen seiner Mitmenschen nimmt Lloyd wahr, weil die Tränenflüssigkeit reflektiert, »wie bei einer Katze, die man im Dunkeln anleuchtet«. Formen, Ränder und Begrenzungen erkennt er als aufblitzende Linien. Will er die Umgebung scannen, muss er ständig den Kopf hin- und herdrehen: Die Videokamera filmt nur starr nach vorn. »Ich bewege meinen Kopf wie ein Huhn«, sagt er lachend.

Lloyd redet gern über die Erfolge der Wissenschaft, über die Sehrinde und die erstaunliche Anpassungsfähigkeit des Gehirns. Dabei kritzelt er ständig kleine Kreise auf ein Papier. »Ich erinnere mich an die Bilder der Vergangenheit«, erläutert er. »Sie helfen mir, die Signale der Elektroden richtig zu interpretieren.«

Etwa dann, wenn er einen Bürgersteig entlanggeht: Das Hellgrau des Trottoirs hebt sich ab vom dunkleren Gras und vom schwarzen Asphalt. So findet Lloyd seinen Weg. Strümpfe kann er in weiße, graue und schwarze Paare sortieren. Selbst einige Farben kann er mittlerweile erkennen; das Blau sei ein »durchschimmerndes Himmelblau«, das Grün heller als normal, das Rot strahle in der Farbe von Rubinen. »Das alles geht nur mit einiger Erfahrung«, sagt Lloyd nicht ohne Stolz, »aber inzwischen macht es das Leben deutlich angenehmer.«

Der Tübinger Patient Miika konnte mit seiner digitalen Sehhilfe zwar schärfer sehen als sein Leidensgenosse Lloyd, doch vorerst nicht auf Dauer. Einige Wochen nach der Operation wurde ihm der Chip wieder entfernt. Dies war eine Auflage der Ethikkommission der Uni Tübingen: Am Anfang der Experimente lagen noch zu wenig Informationen über die Langzeitverträglichkeit des Implantats vor.

Für Miika war das ein trauriger Moment. »Ich würde mich so gern wieder einigermaßen orientieren können, einfach nach draußen, ohne Helfer und ohne die Angst, irgendetwas auf dem Weg zu übersehen.«

Schon im kommenden Jahr will Zrenner gleich zwei Dutzend Patienten mit neuen, drahtlosen Sehchips versorgen. Dann sollen sie auf Dauer in den Augen bleiben. Miika: »Ich warte sehnsüchtig darauf.«

PHILIP BETHGE, GERALD TRAUFETTER

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