PSYCHIATRIE Ein Schubs in der Not
Da tut sich nix, dachte Udo Schulz mit leisem Bedauern, ich habe wohl nur das Placebo bekommen. Er lag auf einer Matratze in einem lichtdurchfluteten Raum und wartete auf den ersten richtigen Drogenrausch seines Lebens.
Schulz, 44, deutscher Staatsbürger und krebskrank, ist der erste Mensch seit über drei Jahrzehnten, der im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie ganz legal LSD schlucken durfte. Geklärt werden soll die Frage, ob Lysergsäurediethylamid, die berüchtigte Droge der Hippiezeit, für die Behandlung bestimmter psychischer Störungen von Nutzen sein könnte.
Es war der 13. Mai 2008, und wie meistens war es still in Solothurn, einer winzigen, wunderhübschen Barockstadt am Fuße des Jura-Gebirges. Die Aare, ein Nebenfluss des Rheins, fließt hier gemächlicher als in Bern, vorbei an Mauern aus der Römerzeit, am »Krummen Turm« und an der trutzigen St. Ursenkathedrale. Für eine Studie mit gesellschaftlicher Sprengkraft könnte es kaum einen besseren Standort geben als dieses unscheinbare Städtchen in der Schweiz.
Ein roter Teppich hing an der Wand des Behandlungsraums, außerdem ein Gong, eine Trommel und das Porträt eines grinsenden Buddhas. Neben dem Patienten kauerten auf dünnen Schaumstoffmatten der Psychiater Peter Gasser und seine Co-Therapeutin Barbara Speich.
Gut eine halbe Stunde lang saßen sie so und warteten. »Dann endlich spürte ich, dass sich in meiner Psyche etwas veränderte«, sagt Schulz. »Wow, das war grandios!«
Als »psychische Atombombe« wurde die Substanz bezeichnet, deren Wirkung der Schweizer Chemiker Albert Hofmann am 19. April 1943 in einem Labor des Pharmakonzerns Sandoz in Basel entdeckte. Eigentlich hatte Hofmann bloß versucht, einen kreislaufstimulierenden Wirkstoff auf der Basis des Mutterkorns zu entwickeln. Stattdessen synthetisierte er ein hochpotentes Halluzinogen: Ein einziges Gramm LSD reicht aus, um 20 000 Menschen stundenlang zu berauschen.
Das konnte der junge Forscher an jenem Tag natürlich nicht ahnen, und so begann der erste LSD-Trip der Geschichte mit einer drastischen Überdosierung: 0,25 Milligramm schluckte Hofmann. Was dann geschah, beschrieb er später so: »Eine furchtbare Angst, wahnsinnig geworden zu sein, packte mich. Ich war in eine andere Welt geraten, in andere Räume mit anderer Zeit.« Stunden vergingen, bis er sich langsam beruhigte: »Jetzt begann ich allmählich, das unerhörte Farben- und Formenspiel zu genießen.« Am nächsten Tag durchströmte ihn »ein Gefühl von Wohlbehagen und neuem Leben«.
Dass LSD schon bald zum Treibstoff einer Massenbewegung werden würde, gepriesen von Künstlern wie den Beatles, den Doors, Pink Floyd, dem Schauspieler Cary Grant und dem Schriftsteller Aldous Huxley; dass die CIA es heimlich bei Verhören einsetzen würde; dass das Halluzinogen Millionen Menschen spirituelle und kreative Abenteuer bescheren, einige aber auch in Wahn und Selbstmord treiben würde - das hätte sich der junge Forscher nicht träumen lassen. Aber er war von Anfang an überzeugt, dass sich LSD »zur seelischen Auflockerung« eignen müsste.
Viele Psychiater teilten Hofmanns Hoffnung, ein chemisches Hilfsmittel gefunden zu haben, das Einblicke in verschüttete Erinnerungen und Traumata ermöglicht. Bis in die siebziger Jahre wurde LSD vielfach zur Behandlung von Depressionen, Ängsten und Süchten eingesetzt, manchmal auch bei Migräne, Arthritis, Lähmungen und Hauterkrankungen. Tausende wissenschaftliche Studien wurden in jener Zeit publiziert, die meisten von zweifelhafter Qualität. Berühmt wurde der Fall des Auschwitz-Überlebenden Yehiel De-Nur, der 1976 in sechs LSD-Sitzungen seine Erinnerungen an das Todeslager heraufbeschwor und später einen poetischen, zutiefst verstörenden Bericht darüber veröffentlichte.
Zwei Wochen bevor Udo Schulz, LSD-Versuchsteilnehmer Nummer 1, mit dem Zug aus dem bayerischen Murnau nach Solothurn reiste, um sich im Rausch seinen Ängsten zu stellen, die ihn seit der Krebsdiagnose quälten, starb LSD-Entdecker Hofmann, inzwischen 102 Jahre alt. Stets hatte er vor den Gefahren seines »Sorgenkindes« gewarnt. Trotzdem hatte er bis zuletzt an die Heilkraft der Droge geglaubt. Dass die Forschung nun, nach einer 35-jährigen Zwangspause, fortgesetzt wird, war für den alten Mann die Erfüllung seines »größten Lebenswunsches«.
Auf Studienleiter Gasser lastet eine schwere Verantwortung. Es geht nicht nur um das Vermächtnis Albert Hofmanns. Auf den Solothurner Psychiater hoffen jetzt auch zahlreiche Wissenschaftler aus den USA und Europa, die seit vielen Jahren dafür kämpfen, die Forschung mit LSD und anderen psychedelischen Wirkstoffen fortsetzen zu dürfen.
»Ich würde es begrüßen, wenn es einfacher wäre, psychoaktive Substanzen in der Therapie einzusetzen«, sagt etwa Rolf Verres, Ärztlicher Direktor der Abteilung für Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum Heidelberg. »Da gibt es in Deutschland einfach ein Defizit.«
Anderswo scheint ein Comeback der Halluzinogene in der Psychotherapie möglich: In den USA, Großbritannien, Israel und der Schweiz sind in jüngerer Zeit mehrere Studien mit Ecstasy und Psilocybin, einem Wirkstoff aus halluzinogenen Pilzen, bewilligt worden. Erforscht werden soll, ob sie die Behandlung von traumatisierten Kriegsveteranen und Angstpatienten erleichtern. Die ersten Ergebnisse, behaupten beteiligte Forscher, seien durchweg ermutigend.
An LSD jedoch, die mächtigste und berüchtigtste dieser Drogen, hat sich vor Peter Gasser keiner mehr gewagt. Vom Ergebnis seiner Studie hängt es maßgeblich ab, wie Behörden künftig mit ähnlichen Anträgen umgehen werden.
Fast anderthalb Jahre lang hat Gasser, 49, Medienanfragen aus aller Welt abgeblockt, um sein heikles Experiment nicht zu gefährden. Jetzt bittet er erstmals in seine Praxis - und möchte zuerst vor allem eines klarstellen: »Ich bin kein Messias und kein gesellschaftspolitischer Veränderer.« Ihm gehe es nicht um eine schleichende Legalisierung der Droge, sondern einzig um die Forschung; er wolle zeigen, dass man mit LSD in der Psychotherapie etwas Positives bewirken könne.
Gasser ist Präsident der kleinen Schweizerischen Ärztegesellschaft für Psycholytische Therapie, die sich für die therapeutische Verwendung von Halluzinogenen einsetzt. Die Organisation zählt rund 50 Mitglieder, etwa ein Drittel davon aus Deutschland. Anfang der neunziger Jahre, als das in der Schweiz mit einer Spezialbewilligung noch möglich war, absolvierte Gasser eine therapeutische Zusatzausbildung mit Psychedelika. Auch LSD hat er dabei probiert.
Wie die Droge wirke, habe viel mit der Umgebung zu tun, sagt Gasser. »Wir schaffen hier eine entspannte Atmosphäre, deshalb bleiben die Patienten ruhig.« Während der Sitzung läuft manchmal Musik im Hintergrund, hin und wieder benutzt Gasser auch die Trommel, die an der Wand hängt. Von den bisherigen Probanden sei keiner auf einen Horrortrip gekommen, sagt er. Das Beruhigungsmittel, bereitgestellt für den Notfall, sei unbenutzt geblieben. »Wenn man LSD vorsichtig handhabt«, behauptet der Psychiater, »ist es nicht gefährlicher als andere Therapien.«
Chemisch ist die Droge verwandt mit dem körpereigenen Botenstoff Serotonin. Sie entfaltet ihre Wirkung in denselben Hirnregionen, vor allem im limbischen System, wo Sinneseindrücke gefiltert, verarbeitet und emotional bewertet werden. LSD setzt die Filterfunktion weitgehend außer Kraft, so dass das Gehirn mit Informationen überschwemmt wird. Zudem erhöht es die Freisetzung des Neurotransmitters Dopamin im sogenannten Streifenkörper, was die Reizüberflutung noch verstärkt.
So beeinflusst der Wirkstoff die Sinneswahrnehmung, das Denken und die Stim-
mung. Das Gefühl für Raum und Zeit verändert sich, die Grenze zwischen Ich und Umgebung verschwimmt. Das kann als beglückendes Verschmelzen mit der Umwelt empfunden werden - aber auch als beängstigender Verlust von Kontrolle über Körper und Denken. Körperlich oder psychisch abhängig, da sind sich Experten einig, macht LSD nicht.
Aber kann der Rausch wirklich helfen, Ängste zu überwinden? Borwin Bandelow, Psychiatrieprofessor an der Universität Göttingen und Deutschlands bekanntester Angstexperte, ist skeptisch: »Für jede Therapie der Welt werden Sie jemanden finden, der Ihnen so etwas erzählt«, sagt er. Trotzdem würde er es begrüßen, wenn die Wirkung psychoaktiver Substanzen zur Angstbehandlung in gut kontrollierten Studien untersucht würde: »Es ist ein extrem interessantes Thema.«
Die veränderte Sinneswahrnehmung, Gegenstände, die plötzlich lebendig wirkten, das Gefühl zu schweben, all das sei natürlich spektakulär, sagt Psychiater Gasser - aber all das seien bloß Begleiterscheinungen. Für entscheidend hält er die tiefe Selbsterfahrung und die Vertrauensbeziehung, die der Patient binnen kurzer Zeit mit dem Therapeuten aufbauen könne. »In dieser Intensität funktioniert das nur mit LSD.«
Zwölf Patienten, die aufgrund einer schweren körperlichen Erkrankung unter Angststörungen leiden, darf der Psychiater mit LSD behandeln. Acht von ihnen erhalten in zwei ganztägigen Sitzungen im Abstand von mehreren Wochen jeweils eine Kapsel mit 200 Mikrogramm LSD. Die übrigen vier bilden die Kontrollgruppe: Sie bekommen die kaum wirksame Dosis von 20 Mikrogramm. »Bei einer Substanz wie LSD ist ein Placebo-kontrolliertes Verfahren natürlich fragwürdig«, räumt Gasser ein. Der Patient merke ja bald, was er geschluckt habe. Aber so sei es eben üblich in der Medikamentenforschung.
Die drei Patienten, die bisher die wirksame Dosis bekommen haben, hätten allesamt von der Behandlung profitiert, sagt Gasser. Aber noch sei die Studie nicht abgeschlossen. Und für fundierte statistische Aussagen sei die Zahl von nur zwölf Patienten ohnehin viel zu gering: »Was wir am Schluss hoffentlich belegen können, ist vor allem, dass es zu keinen schweren Zwischenfällen kommt und dass die Ergebnisse darauf hindeuten, dass es sich um eine wirksame Behandlungsmethode handelt.«
Udo Schulz tut sich schwer, seine Drogenerfahrung in Worte zu fassen. Nur zögerlich beginnt er zu berichten: »Die Topfpflanze, der Teppich, der ganze Raum schien plötzlich zum Leben erwacht«, sagt er, verschränkt die Finger und blickt sinnend aus dem Fenster. Und, nach einer Pause: »Man könnte sagen, es war ein Gefühl der mystischen Einheit.«
Schulz' Probleme hatten im Frühjahr 2006 begonnen. Er hatte gerade eine neue Stelle als Pfleger in einem Altersheim angetreten. Der Job war stressig, anfangs dachte er, das schlage ihm auf den Appetit. Nach den Mahlzeiten plagte ihn ein Druckgefühl im Bauch. Er aß weniger, verlor Gewicht. Schließlich schickte ihn ein Arzt ins nächstgelegene Krankenhaus. Dort lag er einige Tage, dann drückte man ihm seine Krankenakte in die Hand und schickte ihn zu einer letzten Untersuchung. »Auf dem Weg dorthin hab ich halt in der Akte gelesen, dass da die Diagnose Magenkarzinom drinstand.«
Wie reagiert man auf so etwas? »Also, ich dachte zuerst, das gehört nicht zu mir. Das kann gar nicht sein, ich habe doch immer gesund gelebt«, sagt Schulz und verzieht den Mund zu einem dünnen Lächeln.
Aber operiert werden musste er, das sah er ein. Ein Drittel seiner Speiseröhre und ein Großteil seines Magens wurden entfernt. Die Ärzte fanden keine Metastasen, deshalb verzichtete Schulz auf eine Chemotherapie.
Seither aber begann die Angst sein Leben zu beherrschen. Er quälte sich mit dem Gedanken, nie wieder leistungsfähig zu sein, nie mehr zu Kräften zu kommen, seine Stelle zu verlieren, aufgeben zu müssen. Bis zur völligen Erschöpfung rieb er sich auf, um wieder arbeiten zu können. Und nachts lag er wach. Eine Gesprächstherapie bei einem Psychologen half nicht viel.
Als Schulz im Internet zufällig auf die LSD-Studie in der Schweiz stieß, fühlte er sich sofort angesprochen. »Bei den Tests im Vorfeld zeigte sich, dass ich wohl jemand bin, der an dieser Angstsymptomatik leidet«, sagt er.
Inzwischen, ein Jahr nach der LSD-Therapie, ist Schulz wieder voll berufstätig. Er arbeitet seit einigen Monaten in der ambulanten Altenpflege, wo er seine Zeit flexibler einteilen und Pausen einplanen kann. Auf diese Weise, so hofft er, könne er das Vollzeitpensum bewältigen. Um sich körperlich fit zu halten, fährt er Rad und spielt mehrmals pro Woche Tischtennis.
Schulz ist überzeugt, dass ihm das LSD geholfen hat. Die Droge habe ihm einen Schubs gegeben, einen Energieschub in einer Zeit, als er sich elend und lustlos fühlte. Im Rausch habe er erstmals seine ganze Trauer und Wut auf den Krebs gespürt. »Da konnte ich auf einmal richtig flennen, wie so'n Baby«, sagt er und lächelt erneut.
Nur eines, sagt er, bedauere er: Die zwei Sitzungen seien viel zu kurz gewesen. »Ich würde die LSD-Therapie ja gern fortsetzen«, sagt Schulz. Er starrt nun wieder aus dem Fenster. »Aber nicht, wenn es illegal ist.« SAMIHA SHAFY
* Aus dem Jahr 2003.