Zur Ausgabe
Artikel 76 / 113

TIERE »Eindringlinge werden gefressen«

In den USA leben mehr Tiger bei exzentrischen Privatleuten als weltweit in freier Wildbahn. Ein gefährliches Hobby: Immer wieder fallen die Großkatzen über Menschen her.
aus DER SPIEGEL 49/2006

Vincent Lowe hatte keine Zeit mehr, seine Waffe vom Kaliber .357 abzufeuern. Mit einem gewaltigen Satz durchbrach der 500 Pfund schwere Tiger das morsche Drahtgitter des Käfigs und riss den 49-Jährigen zu Boden. Einen Wimpernschlag später lag Lowe tot im Sand. Der Biss des Raubtiers hatte sein Genick zersplittert, als wäre es Salzgebäck.

»Er hätte so nah an dem Tigerkäfig gar nicht arbeiten dürfen - er hat alle Regeln missachtet und die Katze provoziert!« Der Mann, der das sagt, sitzt in seinem mit schweren Vorhängen verdunkelten Wohnzimmer, trägt khakifarbenen Safari-Look und sieht so aus wie die greise Reinkarnation des Daktari-Helden Marsh Tracy.

»Ich nahm eines meiner Gewehre und rannte hinüber«, erinnert sich Robert Baudy. »Ich musste meinen eigenen Tiger erschießen!« Dann huscht ein Lächeln über das Gesicht des 83-Jährigen: »Mit einer exzellenten Waffe übrigens, 22er Magnum, deutsches Fabrikat - es hat mich nur zwei Schuss gekostet.«

Baudy gefällt sich in der Pose des Großwildjägers. Seit über 30 Jahren züchtet der gebürtige Franzose in Center Hill in Florida Tiger, Löwen, Pumas und Leoparden. Tausende von Großkatzen sind unter den uralten Eichen von Baudys Farm »Savage Kingdom« geboren worden. Der Tod seines Angestellten Vincent Lowe ist für ihn nur eine Art Betriebsunfall. Für andere beweist der Fall einmal mehr den Wahnsinn der Tigerindustrie.

»Für die Tierschützer bin ich der Feind Nummer eins im Katzengeschäft«, sagt Baudy. Versonnen blickt er auf ein monumentales Gemälde mit zwei Tigern im Schnee an seiner Wohnzimmerwand. »Wissen Sie«, sagt der Züchter dann, »diese Aktivisten sind doch ein Haufen Verrückter: Was kann ich dafür, wenn die Leute nicht mit den Tieren umgehen können?«

Willkommen im Raubtierland Amerika. Nirgendwo sonst auf der Welt leben so viele Tiger wie in den USA. Schätzungen reichen von 10 000 bis 15 000 Exemplaren - in freier Wildbahn gibt es weltweit, nach Meinung der Experten, maximal noch 7000 Tiere.

Tausende Amerikaner sind der Faszination der größten und stärksten aller Raubkatzen erlegen. Züchter wie Baudy versorgen

die Szene mit puscheligen Tigerbabys. Nach kurzer Zeit zu bulligen Großkatzen herangewachsen, überfordern die Tiere viele ihrer Halter maßlos. Am Ende der animalischen Verwertungskette, so kritisieren Tierschützer, stehen verkrüppelte und verstörte Tiere, die ihre Gnadenzeit in tristen »Roadside Zoos« fristen.

Florida gilt als eine der Hochburgen dieser merkwürdigen Welt aus Adrenalin, getrockneter Katzenpisse und dem leicht säuerlichen Geruch frischen Fleischs, das die Tiger täglich kiloweise verschlingen. Wer etwa durch die glänzende Kunstwelt von West Palm Beach an der Atlantikküste fährt, kann die Exzentrik erahnen, die zum Kauf eines Tigers führt.

»Eindringlinge werden gefressen«, heißt es zum Beispiel am stabilen Metalltor von Steve Sipeks Anwesen. Der ehemalige Tarzan-Darsteller hält sich die Tiger nicht einfach nur als Haustiere - er lebt, schläft und kuschelt mit ihnen. Der 64-Jährige hat sein ganzes Haus in einen Raubtierkäfig verwandelt. Wer den ehemaligen Dschungelkönig besucht, tritt durch eine wackelige Tür in einen schmalen Gang. Links hinter grobmaschigem Draht warten in Gesellschaft des Hausherrn »Bo« und »Little-Bo«. Nur ein dünner Metallriegel hindert die beiden Tiger daran herauszustürmen.

Sipek ist ein Berg von einem Mann. In den sechziger und siebziger Jahren spielte er unter dem Namen Steve Hawkes in Filmen wie »Tarzan, König des Dschungels« und »Tarzan und der braune Prinz«. Auch einen bluttrinkenden Monstertruthahn hat er schon in einem obskuren B-Movie namens »Blood Freak« dargestellt. Die Rolle seines Lebens aber ist die des Raubtierbändigers. Ein Löwe, an Sipeks Arm gekettet, zog ihn einst aus einem brennenden Filmset - eine Art Erweckungserlebnis: Seither glaubt Sipek, er sei zur Raubkatzenpflege ausersehen.

»Einen Tiger zu berühren ist wie das Gesicht Gottes zu berühren«, sagt der Mime. Über hundert Großkatzen hat er über die Jahre in seinem Haus beherbergt. »Ich habe meine Katzen vor einem Leben im Käfig bewahrt«, behauptet er, »bei mir können sie sogar den Pool benutzen.«

Dann ist Fütterungszeit. Freundin Kathi schleppt zwei Eimer mit Truthahnschenkeln herbei. Sipek ist in seinem Element. Auf Kopfhöhe hält er das Geflügel. Die 300-Pfund-Katzen kommen herangesprungen und fressen aus der Hand. Schließlich gibt es Milch mit Ei aus der Babyflasche.

Fremde werden von den Raubkatzen kaum beachtet. Dreht man ihnen jedoch den Rücken zu, werden sie schlagartig nervös und ducken sich instinktiv zum Sprung. Die Anspannung überträgt sich beinahe körperlich. Der Mensch fühlt sich als Beute.

Genauso muss sich auch Officer Jesse Lee vorgekommen sein, als im Juli vor zwei Jahren Sipeks Tiger »Bobo« auf ihn zustürmte. »Der Tiger zeigte die Zähne, seine Ohren waren nach hinten angelegt«, heißt es im Bericht der Florida Wildlife Commission (FWC) über den Vorfall. »Lee trat zurück, während er fünf Schüsse aus seiner halbautomatischen AR-15 abfeuerte.« Um zwanzig nach fünf am Nachmittag lag der Tiger tot im Gebüsch.

Am Tag zuvor war »Bobo« aus Sipeks Privatzoo ausgebüxt. Polizisten, die Wild

hüter des FWC und der Tarzan-Mime selbst suchten nach der Raubkatze. Mehrfach wurde der Tiger gesichtet. Betäubungspfeile verfehlten ihr Ziel. Dann schoss Jesse Lee.

In Sipeks Vorgarten ruht nun die Katze. Das Grab des Tigers ist mit Blumen geschmückt und von Tierskulpturen umstellt. »Ich wollte den Bastard von Wildhüter umbringen«, sagt Sipek, »nur meine Freunde haben mich davon abgehalten.«

»Der Officer hat richtig gehandelt«, entgegnet Lieutenant Charles Dennis vom FWC. »Ein 700-Pfund-Tiger wird Menschen verletzten oder töten, da gibt es kein Vielleicht, kein Wenn und kein Aber.« Der korpulente Beamte erscheint mit Cowboyhut, Weste und Sonnenbrille in der Dienststelle des FWC. Aus seiner Sicht ist es viel zu einfach, an die Großkatzen zu kommen.

»Ich glaube, dass wir viel restriktiver mit Raubkatzenbesitzern umgehen müssen«, sagt Dennis, »ich zeige Ihnen, warum.« Der Lieutenant klappt seinen Laptop auf. In rascher Folge huschen die Fotos blutverschmierter, verstümmelter Menschen über den Bildschirm. Schließlich zeigt er auf eine Frauenleiche mit aufgeschlitzter Kehle. »Joy Holiday war eine Tiertrainerin; derselbe Tiger hatte schon zwei Monate zuvor jemanden umgebracht.« Wieso wurde das Tier nicht getötet? »Wissen Sie, die meisten Amerikaner sehen das so: Wenn Sie einen Tiger besitzen, ist es Ihr Problem, wenn Sie von ihm aufgefressen werden.«

Etwa 70 Menschen sind in den USA seit 1990 von Raubkatzen getötet worden. Tausende wurden zum Teil schwer verletzt. Gerade vermeintliche Katzenkenner werden häufig zu Opfern - berühmtes Beispiel: der Showstar Roy Horn. Der Partner von Siegfried Fischbacher, zusammen als Siegfried & Roy weltbekannt, wurde vor drei Jahren beim Auftritt im Hotel Mirage in Las Vegas von einem Tiger attackiert. Das Tier namens »Montecore« biss sich im Nacken des Magiers fest und schleppte den hilflosen Mann von der Bühne. Horn überlebte nur knapp.

Auch Kinder kommen immer wieder ums Leben. Bei Amerikanern beliebt sind beispielsweise gestellte Polaroid-Fotos mit den Raubkatzen. Erst im vergangenen August starb die 17-jährige Haley Hilderbrand bei einem solchen Fototermin. Sie hatte sich in einem Privatzoo in Mound Valley, Kansas, neben einem Tiger in Pose gestellt. Warum Haley sich plötzlich nach vorn

beugte, ist bis heute ungeklärt. Der Tiger jedenfalls grub seine Zähne in das Genick des Mädchens. Haley war sofort tot.

Selbst solche Zwischenfälle halten die Fans der Großkatzen nicht davon ab, ihre Tiger immer wieder auf Kinder loszulassen. Für Gloria Johnson, Katzenliebhaberin aus Havana im Norden Floridas, ist »wildlife education« sogar geradezu eine Mission. »Es muss einige sehr gut trainierte Leute geben, die Kinder darüber aufklären, was Aussterben und Artenschutz tatsächlich bedeuten«, sagt Johnson.

Dass die 51-Jährige sich selbst zu diesem Kreis zählt, steht außer Frage. Anderthalb Jahre alt ist ihr weißer Tiger »Casanova«, den sie bei Baudy zum Vorzugspreis von 5000 Dollar kaufte. »Ich habe lange für Baudy gearbeitet«, erklärt sie, »normalerweise kostet ein weißes Tigerbaby 15 000 Dollar.« Gelbfarbene Tiere seien schon für 1200 Dollar zu haben.

Johnson nahm eine Hypothek auf, um Casanova kaufen zu können. Ihr einfaches Holzhaus ist vollgestopft mit Katzennippes. Regelmäßig drängen sich Schulklassen durch ihr Wohnzimmer, um den Tiger sowie die Pumas »Ashukalee« und »Lakota« im Garten zu bestaunen.

»Bis Casanova sechs Monate alt war, bin ich sogar mit ihm in Schulen gegangen«, berichtet die zierliche Frau. An der Leine führte sie das damals schon 100 Pfund schwere Tier zu den Kindern. Vom Sinn der Lehrstunden ist sie überzeugt: »Der Blick in die Augen eines echten Tigers bewirkt mehr als jede Fernsehsendung.«

Johnson inszeniert sich als »Beauty and the Beast«, als zarte Blondine, die den Tiger beherrscht. Tierschützer kritisieren, dass gerade sendungsbewusste Katzenfans wie sie das Geschäft weiter anheizen, weil sie immer wieder neue Menschen für die Großkatzen begeistern.

»Gloria führt Tiger an der Leine in die Schule und behauptet gleichzeitig, die Tiere wären keine Haustiere«, sagt etwa Carole Baskin, »das ist Bullshit.« Die platinblonde Frau aus Tampa ist Johnsons Intimfeindin. Mit Immobiliengeschäften reich geworden, investierte sie lange selbst in die Zucht von Großkatzen. »Ich glaubte damals auch, etwas für den Artenschutz zu tun«, erinnert sich Baskin, »heute weiß ich, dass kein einziger Dollar aus der Industrie in den Schutz der Wildtiere geht.«

Baskin ist inzwischen strikt gegen private Tigerhaltung. »Big Cat Rescue« heißt ihr Tierpark in Tampa. Die Anlage ist eine Art Müllabladeplatz der Raubtierindustrie. Ausgemusterte Zirkuskatzen fristen hier ihre letzten Jahre. Gestrandete Privattiger finden ihr Gnadenbrot.

Tigerin »Auroara« etwa hat einen Silberblick, Überbiss und verkrüppelte Beine. »Ein typisches Beispiel für einen sogenannten Wegwerf-Tiger«, kommentiert Baskins Mitarbeiter Scott Lope: »Auroara ist das Ergebnis extremer Inzucht, die in der Branche üblich ist, um die begehrten weißen Tiger zu züchten.« Selbst nicht als Edeltiger geboren, sei Auroara an einen privaten Halter verscherbelt worden: »Der hat sie dann irgendwann hier abgeliefert.«

Oder Tiger »Shere Khan": »Er hat schwache Knochen, schlechte Zähne und viel zu kurze Beine«, sagt Lope, »vermutlich wuchs er in einem viel zu kleinen Käfig auf und wurde schlecht ernährt, so dass er sich nicht richtig entwickeln konnte.«

»Irgendwann werden die Tiger fast allen Haltern zu groß und zu stark«, sagt Baskin. Sie ist es leid, eine Art Auffanglager für verstoßene Raubkatzen zu betreiben, und fordert strengere Gesetze: »In zehn Bundesstaaten gibt es überhaupt keine Beschränkungen.« Florida habe zwar eine Regelung, die sei jedoch kaum zu kontrollieren. »Das Gesetz fordert 1000 Stunden Erfahrung mit Raubkatzen, um einen Tiger halten zu dürfen; das Problem ist nur, dass diejenigen, die diese Erfahrung bescheinigen dürfen, auch diejenigen sind, die die Tiger verkaufen.«

Auf dem Gelände von Robert Baudys »Savage Kingdom« wirkt derlei Kritik wie Aktivistengeschnatter aus einer fremden Welt. Etwas Zeitloses, Ewiges strahlen Baudys Raubkatzen aus, während sie sich geschmeidig durch ihre Gehege bewegen. »Ich verstehe die ganze Aufregung nicht«, sagt der Züchter: »60 000 Amerikaner werden jedes Jahr von Pferden verletzt, nur 2 bis 3 von Tigern.« Zärtlich krault er Tiger »Romeo« durch das Käfiggitter hindurch am Kopf. Das Schnurren der Katze hallt wie Donnergrollen über den Platz.

Etwas wehmütig lässt Baudy dann den Blick über sein sonnendurchflutetes Grundstück schweifen. Der Züchter ahnt, dass seine Zeit abläuft: »Ich bin eine aussterbende Art.« 17 Großkatzen besitzt er noch. Zwei Tigerinnen sind schwanger. Bald sollen ihre Jungen zur Welt kommen.

Baudy wird die Tigerbabys nicht mehr verkaufen dürfen. Der Tod von Vincent Lowe hatte Folgen: Nach mehr als 30 Jahren hat der Züchter seine Lizenz verloren. PHILIP BETHGE

* Oben: mit Tiger »Bobo«, 2004; unten: am Grab von »Bobo«.

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 76 / 113
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren