RAUMFAHRT Einfach unwohl
Dick Scobee trat auf die Startrampe, sog die frostige Morgenluft ein und beschied den Nasa-Techniker Johnny Corlew, es sei ein »herrlicher Tag, um zu fliegen«. »Ein bißchen zu kalt, Dick«, entgegnete Corlew. »Aber nein«, schüttelte der »Challenger«-Pilot den Kopf,
das Wetter sei »schön, einfach groß artig«.
Wenige Stunden später, am Vormittag des 28. Januar 1986, zerbarst die »Challenger« am Himmel von Cap Canaveral, Scobee, und die anderen sechs Mitglieder der Challenger-Besatzung starben in den Trümmern.
Ein Jahr nach dem größten Desaster der bemannten Raumfahrt steht Amerika noch immer unter Schock, ist die Unsicherheit, wohin die Reise gehen soll, »noch immer so groß wie eine Stunde nach dem Unglück« - so umschrieb es der Raumfahrt-Historiker John Logsdon von der George Washington University.
Zwar gibt sich die Nasa optimistisch. Sie hat den nächsten Starttermin für eine Shuttle bereits festgelegt: Im Februar 1988 soll es wieder losgehen. »Ich sehe nichts«, erklärte Nasa-Chefingenieur Arnold Aldrich, ganz im Korpsgeist der sechziger Jahre, »was die Show noch stoppen könnte.« Auch Ex-Astronaut Joseph Allen glaubt in den Reihen der amerikanischen Raumfahrttechniker wieder jene Jetzt-erst-recht-Stimmung zu spüren, die nach dem Brand einer Apollo-Kapsel bei einem Bodentest im Jahre 1967 die Raumfahrt-Organisation erfaßt hatte.
Zwar überprüfen Flugkontrolleure Tausende von Fluganweisungen, Computer-Programmen und Startprozeduren nach möglichen Fehlerquellen, tüfteln Astronauten-Trainer an verbesserten Ausbildungs-Prozeduren und wachen erfahrene Astronauten über die zahlreichen technischen Änderungen, die an den Raumfähren vorgenommen werden, um sie »sicherer zu machen«.
Doch die Frage »Wie sicher ist sicher genug?« läßt die Kritiker innerhalb und außerhalb der Nasa nicht ruhen. So bezweifeln Experten des National Research Council (NRC), daß sich der von der Nasa vorgelegte Fahrplan einhalten lasse. Die Experten befürchten, daß der Termindruck wieder Ursache neuer Pannen sein könnte.
Schon jetzt sind beispielsweise die Tests für die verbesserten Festtreibstoffraketen, Ausgangspunkt der Katastrophe, wieder mit sechs Wochen in Verzug. Mindestens sechsmal sollen verbesserte Booster abgebrannt werden, bevor sie für den bemannten Flug freigegeben werden. Aber schon im Herbst müßten die ersten Raketen für den geplanten Februar-Start zum Cap in Marsch gesetzt werden - bis dahin können allenfalls drei der vorgesehenen Tests ablaufen. Und auch jeder dieser Tests müßte »Resultate zeitigen, die den Erwartungen entsprechen«.
Darauf zu hoffen aber wäre leichtfertig, wie das NRC in einer Untersuchung über die geplanten technischen Änderungen an den Hilfsraketen warnte. Schon das neue Material etwa, das die bislang verwendeten Dichtungsringe ("O-Ringe") zwischen den vier Hauptsegmenten der Festtreibstoffraketen ersetzen sollte, habe sich als untauglich erwiesen.
Die versprödeten O-Ringe der Shuttle-Hilfsraketen waren es, die das Desaster vom 28. Januar verursacht hatten. Unmittelbar nach dem Start blähten die enormen Gasdrucke im Innern der Booster eine Verbindungsstelle zwischen zwei Segmenten der rechten Hilfsrakete auf. Da Nachtfrost und Tempraturen unter Null Grad am Startmorgen die O-Ringe an der Nahtstelle beeinträchtigt hatten, vermochten sie den Spalt nicht wie vorgesehen zu versiegeln.
Sekundenbruchteile nach dem Start um 11.38 Uhr Ortszeit pufften Rauchwolken aus dem Leck, 59 Sekunden später schoß eine meterlange Feuerlanze aus dem rechten Booster, 73,6 Sekunden nach dem Start zerbarst Challenger: Über 500 Tonnen flüssiger Sauerstoff und Wasserstoff des Haupttanks verpufften in einer gigantischen Knallgas-Explosion.
An Warnungen vor der Katastrophe hatte es nicht gefehlt. Bereits 1978 hatte ein Nasa-Techniker festgestellt, die Dichtungen der Hilfsraketen könnten versagen, durch die Lecks zwischen den Segmenten sodann »heiße Gase ausströmen und eine Katastrophe verursachen«. Tatsächlich entdeckten Nasa-Ingenieure bereits nach dem zweiten Flug einer Shuttle im Jahre 1981 und nach späteren Starts wiederholt verschmorte O-Ringe in den zusammengesteckten Raketensegmenten.
Die besorgnis-erregenden Entdeckungen mündeten weder in rechtzeitige technische Änderungen, noch erzwangen Nasa-Ingenieure ein Startverbot für Frosttage. Selbst als ein leitender Ingenieur des Booster-Herstellers Morton Thiokol in der Nacht zum 28. Januar eindringlich vor einem möglichen Versagen der O-Ringe bei Frost warnte, entschieden sich die Nasa-Verantwortlichen für den Start und gegen die Sicherheit der Shuttle-Crew.
Eine wirklich befriedigende technische Lösung für das Booster-Problem sahen die NRC-Experten in den Nasa-Korrekturen noch nicht. So griffen die Booster-Bauer, als das vorgesehene neue Dichtungsmaterial von Schmiermitteln angegriffen wurde, auf die alten O-Ringe zurück - eine Heizvorrichtung soll die Ringe künftig vor Kälte schützen. Und um das Aufblähen der Verbindungen zwischen den Raketen-Segmenten zu verhindern, ersannen die Ingenieure eine Art Halteklammer, die freilich auch noch einen dritten Dichtungsring an den Segmentübergängen erfordert.
NRC-Experten erteilten beiden Lösungen die Note »mangelhaft«. Die Heizvorrichtung schaffe »neue potentielle Sicherheitsprobleme« und erhöhe die Fehleranfälligkeit der Dichtungen. Die Verklammerung der Booster-Segmente sei so ausgelegt, daß sie sich nach dem ersten Gebrauch der Raketen kaum mehr auf ihre Tauglichkeit prüfen lasse: Dieser Mangel gilt den NRC-Wächtern als so gravierend, daß er eine »Wiederverwendung der Booster ausschließen« könne.
Bedenken sind der Nasa mittlerweile auch bei einer anderen Shuttle-Nachbesserung gekommen: bei dem Plan, an Bord der Raumfähren »Schlepper-Raketen« mitzuführen, mit denen Astronauten im Notfall aus einer havarierten Fähre herausgeschossen werden sollten.
Mit einem Fallschirm vor der Brust, so sah es das Notfall-Procedere vor, sollte jedes Crew-Mitglied vom »Springmeister« der Crew an eine Schlepprakete geklinkt, sodann sollte die Rakete außerhalb der Shuttle gezündet und der Astronaut
in Rückenlage von einem »Schlitten« aus ins Freie katapultiert werden. Knapp zwei Minuten, errechneten Ingenieure, würde die Evakuierung einer Crew von acht Astronauten beanspruchen.
Selbst wenn - was Experten bezweifeln - diese Zeit einzuhalten wäre: Während der gefährlichsten Flugphase, den ersten beiden Minuten nach dem Start, funktioniert das System nicht. Nach diesem Zeitpunkt wäre eine Rettung nur denkbar, wenn die havarierte Shuttle noch einigermaßen kontrolliert zur Erde gleitet - trudelt die Fähre, fesseln Fliehkräfte die Besatzung in ihren Sitzen.
Erst wenn weitere Tests den Nutzen eines solchen Systems erhärten würden, wolle die Nasa an einen Einbau denken, erklärte Konteradmiral und Nasa-Vizechef Richard Truly Ende letzten Monats. Im Augenblick fühle sich die Raumfahrtbehörde beim Gedanken an den Raketen-Notausstieg aus dem Raumgefährt »einfach unwohl«.