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HIRNFORSCHUNG Endlosschleife im Kopf

Die Amerikanerin Jill Price gibt Gedächtnisforschern Rätsel auf: Sie erinnert sich an jedes Ereignis an jedem einzelnen Tag ihres Lebens seit ihrer Pubertät. Wie lebt ein Mensch, der nichts vergessen kann? Und wie ist eine derart perfekte Erinnerung zu erklären?
aus DER SPIEGEL 47/2008

Wäre es nicht wundervoll, sich alles merken zu können? Die wichtigen Momente des Lebens in allen Details vor sich zu sehen - alle kostbaren Begegnungen, Feste, Reisen, Abenteuer, Erfolge? Wenn Erinnerungen niemals verblassten, sondern jederzeit abrufbar wären, eine Videothek im eigenen Kopf?

»Niemand kann sich vorstellen, wie das wirklich ist«, sagt Jill Price, 42. »Nicht einmal die Forscher, die mich untersuchen.«

Die Kalifornierin hat ein nahezu perfektes Gedächtnis, jetzt will sie beschreiben, wie sich ein Leben ohne Vergessen anfühlt. Sie beginnt mit einer kleinen Demonstration ihrer Fähigkeit: »Wann sind Sie geboren?«, fragt sie. »Ah, das war ein Mittwoch. Zwei Tage später gab es einen Kälteeinbruch in Los Angeles, und meine Mutter und ich kochten Suppe.«

Price sitzt im Restaurant The Grill in Beverly Hills. Sie ist eine massige Frau mit blonden Haaren, großen blauen Augen und viel Schmuck: goldene Kreolen, silberne Armbänder, um den Hals eine Kette mit einem Davidstern, den sie beim Reden oft zwischen den Fingern herumdreht. Sie leitet eine Religionsschule in einer Synagoge in Los Angeles.

Beiläufig erwähnt sie, dass dies hier eines ihrer Lieblingsrestaurants sei, seit 23 Jahren schon, genauer gesagt seit dem 20. September 1985, einem Freitag: »Da saß ich mit meinem Vater an dem Tisch dort drüben und aß Huhn mit Knoblauch. Und ich hatte einen großen Hut auf.«

An diesem Mittwoch bestellt sie Felchenfilet mit Rahmspinat und eine Limonade, eine weitere Belanglosigkeit, an die sie sich von nun an für immer erinnern wird. Die Worte, die während des Essens gesprochen werden, das Gesicht ihres Gegenübers, der rote Notizblock, die Tischlampen aus grünem Glas, die höfliche Zurückhaltung des grauhaarigen Kellners - all das wird sich in ihrem Gedächtnis festsetzen, sie kann nichts dagegen tun.

Welches Datum man auch nennt - Jill Price rattert ohne Zögern herunter, was sie an jenem Tag erlebt, gesehen und gehört hat. Sie erinnert sich an viele frühe Kindheitserlebnisse und an die meisten Tage zwischen ihrem 9. und 15. Lebensjahr; danach ist ihr autobiografisches Gedächtnis sogar lückenlos: »Ab dem 5. Februar 1980 erinnere ich mich an alles. Das war ein Dienstag.«

Auch Ereignisse, über die in den Medien berichtet wurde, kann sie korrekt datieren - sofern sie damals davon gehört hat. Wann und wo ist die Concorde abgestürzt? An welchem Tag wurde O. J. Simpson festgenommen? Wann brach der zweite Golfkrieg aus? Price braucht nicht zu überlegen, mühelos lässt sie Daten, Zahlen, ganze Geschichten aus sich herauspurzeln.

»Die Leute sagen zu mir, oh, wie faszinierend, es muss toll sein, das perfekte Gedächtnis zu haben«, sagt sie. Ihre Lippen verziehen sich zu einem dünnen Lächeln. »Aber es ist auch furchtbar quälend.«

Denn jedes böse Wort, jeder Fehler, jede Enttäuschung, jeder Schreck und jeder Schmerz ist für sie gnadenlos gegenwärtig. Und bei ihr heilt auch die Zeit keine Wunden: »Ich schaue nicht mit Abstand auf die Vergangenheit zurück; es ist eher so, als ob ich alles immer wieder erlebe, es löst genau dieselben Gefühle in mir aus. Es ist wie ein endloser, wirrer Film, der mich völlig überwältigen kann. Und es gibt keine Stopptaste.«

Pausenlos stürmen Erinnerungsfetzen auf sie ein, automatisch und unkontrollierbar, wie eine Endlosschleife im Kopf. Manchmal gebe es äußere Auslöser, einen bestimmten Geruch, ein Lied, ein Wort. Oft aber kämen die Erinnerungen auch von allein. Szenen aus der Vergangenheit, schöne und schreckliche, bedeutsame und banale, jagten in wildem Durcheinander über ihren »inneren Bildschirm« und verdrängten manchmal komplett die Gegenwart. Price: »Das alles ist unfassbar anstrengend.«

So kann es passieren, dass Jill Price, während sie hier im Restaurant sitzt und redet, für einen Moment plötzlich wieder das vierjährige Mädchen ist, das mit seiner Kindergartenklasse die Macher der »Sesamstraße« im Studio besuchen sollte. Ihr Vater, der den Erfinder der Muppets als Agent vertrat, hatte den Ausflug organisiert. Doch als der Termin nahte, bekam Jill eine Mandelentzündung und durfte nicht mitgehen.

»Ich weiß natürlich, dass das im Rückblick eine Bagatelle ist«, sagt sie und nestelt nervös an ihrer Halskette herum. »Es klingt lächerlich, aber wenn ich mich daran erinnere, steigen wieder dieselbe unbändige Enttäuschung und Wut in mir auf, die ich damals als kleines Kind empfand.«

Kann man überhaupt lieben, wenn man nicht vergisst? Kann man verzeihen, anderen und sich selbst? Auch in ihrem Leben gab es Schicksalsschläge, Familienkonflikte, die Krebserkrankung ihrer Mutter, später dann der jähe Tod ihres Ehemanns Jim. Und weil die bösen Erinnerungen sie hartnäckiger verfolgten als andere Menschen, weil sie keine Ruhe mehr fand, Depressionen bekam und fürchtete, verrückt zu werden, setzte sie sich am 5. Ju-ni 2000 (einem Montag) vor den Computer und tippte bei Google ein einziges Wort ein: Gedächtnis. So fand sie James McGaugh - und wurde zum Fall für die Wissenschaft.

McGaugh, 76, sieht aus wie ein freundlicher, verschmitzter Großvater, und das ist er auch. Er baut Schaukelpferde aus Holz für seine Enkel, und er spielt Klarinette und Saxofon in Jazzbands. Zugleich ist er aber einer der führenden Gedächtnisforscher der Vereinigten Staaten. Er hat das Center for the Neurobiology of Learning and Memory an der University of California in Irvine gegründet, er hat über 500 Fachartikel und mehrere Bücher geschrieben, Auszeichnungen und Ehrungen prangen an den Wänden seines Büros. Wie so mancher herausragende Wissenschaftler seines Alters denkt er nicht ans Aufhören.

»Natürlich war ich skeptisch, als Jill mir ihre Geschichte erzählte«, sagt McGaugh, ein schlanker, grauhaariger Herr mit Brille. »Aber ich habe die meiste Zeit meines Lebens damit verbracht, die Mechanismen im Gehirn zu studieren, die mit der Entstehung bleibender Erinnerungen zusammenhängen. Also dachte ich, ich sollte die Dame wenigstens kennenlernen.«

McGaugh und seine Mitarbeiter erkannten rasch, dass sie einen exotischen Fall vor sich hatten - vielleicht sogar eine wissenschaftliche Sensation. Gerade deshalb gingen die Forscher äußerst gründlich vor: Fünf Jahre lang unterzogen sie Price immer neuen neuropsychologischen Tests, durchkämmten die Fachliteratur nach ähnlichen Fällen und entwickelten spezielle Fragebögen, mit denen sie ihr Erinnerungsvermögen auf die Probe stellen konnten.

Einmal sollte sie zum Beispiel die Daten aller Osterfeste von 1980 bis 2003 aufschreiben. »Sie brauchte zehn Minuten und vertat sich nur bei einem einzigen von 24 Daten um zwei Tage«, berichtet McGaugh. Zwei Jahre später ließ er sie den Test wiederholen. Diesmal waren alle Daten korrekt. McGaugh: »Das fand ich besonders beeindruckend, weil sie Jüdin ist. Ostern hat keine Bedeutung für sie.«

Auch ihre autobiografischen Angaben konnten die Wissenschaftler leicht verifizieren, weil sie seit ihrem elften Lebensjahr akribisch Tagebuch führt. Über 50 000 Seiten hat sie mit winzigen Buchstaben vollgekritzelt, jedes noch so banale Ereignis dokumentiert. Das Aufschreiben hilft ihr, die flirrenden Gedanken und Bilder in ihrem Kopf zu ordnen.

Überhaupt hat sie das zwingende Bedürfnis, ihr Leben zu dokumentieren. Bis heute hortet sie alle möglichen Erinnerungsstücke aus ihrer Kindheit: Puppen, Stofftiere, Kassetten, Bücher, eine Schublade aus einer Kommode, die sie mit fünf Jahren besaß. Sie erklärt das so: »Ich muss meine Erinnerungen anfassen können.«

McGaugh und seine Kollegen kamen schließlich zu einem ersten Befund: Prices episodisches Gedächtnis, ihre Erinnerung an persönliche Erlebnisse und damit verbundene Gefühle, sei überragend, nahezu perfekt. Ein Fall wie dieser sei in der Gedächtnisforschung nie zuvor beschrieben worden. Price unterscheide sich maßgeblich von anderen Menschen mit besonderem Erinnerungsvermögen wie autistischen Inselbegabten. Sie benutze keinerlei Merkstrategien und schneide bei einigen Gedächtnistests auch erstaunlich schlecht ab.

So fällt es ihr schwer, Gedichte oder Zahlenreihen auswendig zu lernen - eine Erklärung dafür, warum sie in der Schule nie durch besondere Leistungen auffiel. Ihr semantisches Gedächtnis - das Faktenwissen, das nicht unmittelbar mit ihrem Alltag zu tun hat - ist nur durchschnittlich.

Vor zwei Jahren veröffentlichten die Wissenschaftler ihre ersten Erkenntnisse in einer Fachzeitschrift, ohne jedoch die Identität ihrer Probandin preiszugeben. Seither haben sich über 200 Personen bei McGaugh gemeldet, die alle behaupten, ein ebenso perfektes episodisches Gedächtnis zu haben. Die meisten von ihnen wurden rasch als Schwindler entlarvt. Doch drei Personen scheinen tatsächlich über ähnlich erstaunliche Fähigkeiten zu verfügen. »Ihre Persönlichkeiten sind sehr verschieden, die anderen sind nicht so ängstlich wie Jill. Aber in den Tests erzielen sie vergleichbare Resultate«, berichtet McGaugh.

Gemeinsam seien den Probanden zudem gewisse zwanghafte Züge, vor allem ein ausgeprägter Sammelzwang. Die drei anderen seien Linkshänder, und auch Price habe bei Tests eine Tendenz zur Linkshändigkeit gezeigt. Was das zu bedeuten hat? Der Forscher ist vorsichtig: »Wir beschreiben vorerst nur, was wir sehen.«

Neurobiologisch betrachtet ist eine Erinnerung ein gespeichertes Verknüpfungsmuster zwischen Nervenzellen im Gehirn. Sie entsteht dadurch, dass Synapsen in einem Netzwerk von Neuronen kurzzeitig aktiviert werden. Je öfter die Erinnerung hinterher abgerufen wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass permanente Verschaltungen zwischen den Nervenzellen entstehen - und die Erinnerung ins Langzeitgedächtnis übergeht. Theoretisch gibt es so viele Verknüpfungsmöglichkeiten, dass eine schier unbegrenzte Zahl an Erinnerungen dauerhaft abgespeichert werden könnte.

Warum haben dann nicht alle Menschen ein Erinnerungsvermögen wie Jill Price? »Wenn wir uns an alles gleich gut erinnern könnten, wäre das Gehirn heillos überfordert und würde langsamer arbeiten«, sagt McGaugh. Vergessen, so lautet die Erklärung, ist eine notwendige Voraussetzung für ein funktionsfähiges Gedächtnis - nur offenbar nicht im Fall von Jill Price und den anderen drei Supermerkern.

Für McGaugh stellen die Gedächtniskünstler aber noch aus einem anderen Grund ein Rätsel dar. Denn sie bringen eine Theorie ins Wanken, auf der er seit einem halben Jahrhundert seine Forschung aufgebaut hat: die Beobachtung, dass Erinnerungen detaillierter und dauerhafter im Gedächtnis abgespeichert werden, wenn sie mit Emotionen verknüpft sind.

Sinneseindrücke werden in der Amygdala, einer bestimmten Hirnregion im limbischen System, emotional bewertet. Hier und im Hippocampus wird entschieden, welche Informationen langfristig gespeichert werden. Je stärker die Amygdala aktiviert wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine dauerhafte Erinnerung entsteht. »Aber nun haben wir hier diese vier Menschen, die dieses Prinzip zu verletzen scheinen, weil sie sich auch an die banalsten und unwichtigsten Dinge erinnern«, sagt der Forscher. Er seufzt. »Ich selbst kann mir immer noch nicht merken, wann Bing Crosby gestorben ist, obwohl ich es inzwischen bestimmt fünfmal nachgelesen habe.«

Zusammen mit seinem Kollegen Larry Cahill und Forschern der Harvard University wertet McGaugh derzeit Kernspin-Aufnahmen von den Gehirnen der vier Probanden aus. Die Wissenschaftler haben bereits einige strukturelle Auffälligkeiten entdeckt, die sie demnächst publizieren wollen. Rund zwei Dutzend Stellen im Gehirn ihrer Wunderfrau sind offenbar größer als bei einem Durchschnittsmenschen.

Jill Price hofft, irgendwann noch mehr Antworten zu bekommen, warum sie so anders ist als die anderen Menschen. Und vielleicht kann sie so auch dazu beitragen, die Gedächtnisforschung entscheidend voranzubringen.

»Die Arbeit mit den Wissenschaftlern gibt meinem Leiden wenigstens einen Sinn«, erzählt sie. Und dann sagt sie noch einen Satz, der überraschend klingt aus dem Mund einer Frau, deren Gedanken ständig um sich selbst kreisen: »Das hier ist größer als ich.« SAMIHA SHAFY

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