SEUCHEN Endspiel für das Killervirus
Jeden Morgen wenn Peter Roeder seinen Computer anstellt, ist er ein bisschen nervös. Dann sitzt er südlich von London in einem Gartenhäuschen, das er sich zum Büro umgebaut hat, trinkt Kaffee und stöbert im Internet nach Meldungen, die geeignet sein könnten, sein Lebenswerk in Gefahr zu bringen.
Jeder Tag ohne Ereignisse ist ein guter Tag. Aber dann gibt es doch wieder Tausende toter Rinder in Pakistan; oder 200 tote Flusspferde in Uganda; oder ein Massensterben von Büffeln und Antilopen im Osten des Kongo.
Wann immer Roeder solche Nachrichten findet, alarmiert er sogleich seine Kollegen weltweit, alles Veterinäre wie er; aus der Ferne bringt er per Telefon und E-Mail weitere Ermittlungen in Gang. Was die Tiere umgebracht hat, ist ihm egal - Hauptsache, es war nicht Rinderpest.
Roeder hat sich geschworen, den Erreger der Rinderpest auszuradieren. Bis zum vorigen Jahr stand der Engländer in Diensten der Welternährungsorganisation FAO. Von Rom aus jagte er das Virus bis in seine geheimsten Verstecke, in der somalischen Steppe wie im afghanischen Hochland. Jetzt ist er Ruheständler, denn die FAO pensioniert ihre Kämpfer zwangsweise mit 62 Jahren; doch der Feldherr denkt nicht daran, mitten in der Schlacht aufzuhören.
Die Rinderpest (englisch: »rinderpest") zählt zu den größten Feinden der Menschheit. Mit der Pest hat sie nur gemein, dass sie so mörderisch ist. Ihr Erreger, ein »Morbillivirus«, ist ein enger Verwandter, vielleicht sogar der Vater der Masern. Anders als jene befällt die Rinderpest zwar keine Menschen, aber deren Vieh tötet sie binnen Tagen - mitunter ganze Herden, Fleisch- und Milchkühe ebenso wie die Zugtiere vor den Pflügen und Karren, manchmal auch Ziegen, Schafe und Wild.
An Hungersnöten und anderen Folgen der Rinderpest, sagt Roeder, »starben allein in Afrika weitaus mehr Menschen als an Aids«. Die Seuche gilt manchen gar als größte Naturkatastrophe, die den Kontinent je heimgesucht hat. Deshalb will Roeder sie ausmerzen, und er ist ganz kurz davor: Das Endspiel läuft.
Einmal nur ist es Seuchenmedizinern gelungen, einen Erreger vernichtend zu schlagen. Die Pocken gelten seit 1980 als besiegt; der letzte Mensch infizierte sich 1977 in Somalia mit dem Virus. Die Weltgesundheitsorganisation WHO ringt darum, auch die Kinderlähmung zu bezwingen. Polio ist fast am Ende; doch im muslimischen Teil Nigerias und an wenigen anderen Orten halten Impfverweigerer nach wie vor Infektionsherde am Lodern. Die Rinderpest, einst auch in Europa weit verbreitet, könnte nach den Pocken der zweite Triumph der Epidemiologen werden.
Darum sitzt Roeder auch jeden Tag am Computer. Alle müssten wachsam bleiben, sagt er, gerade jetzt. Denn einerseits ist der Sieg zum Greifen nahe. Andererseits hat in vielen Rinderpest-Ländern wieder der Schlendrian die Oberhand.
Als Roeder 1993 seinen Posten als Virentöter antrat, wütete der Erreger noch ganz offen. Die wichtigsten Reservoire machten die Experten in Somalia, Äthiopien, im Jemen und in Pakistan aus. Doch mit Massenimpfungen, Schlachtungen und Verbringungsverboten drängten sie die Mikroorganismen rasch zurück.
Indien hatte seinen letzten Fall im Jahr 1995. Nahe Karatschi verendete der letzte pakistanische Rinderpest-Büffel fiebernd und blutigen Kot ausscheidend im Oktober 2000. Später suchten Roeders Detektive in 15 000 Dörfern Pakistans nach verborgenen Erregern - ohne fündig zu werden. Seither gilt ganz Asien als frei von der Seuche, erstmals seit Menschengedenken.
In Afrika hielt das Virus nur wenig länger stand. Nach allem, was bekannt ist, forderte es Mitte 2001 irgendwo im Süden Sudans, in Somalia und im Osten Kenias seine letzten Opfer. Diese Regionen bereiteten Roeder immer besondere Sorge, denn wo es kaum einen funktionierenden Staat gibt, ist an geregelte Virenkontrolle nicht zu denken. Und dennoch hat es geklappt. Alles aus Somalia oder Sudan stammende Rinderblut, das jetzt untersucht wird, ist frei von Zeichen einer Ansteckung. Roeders Leute und ihre Helfer haben es geschafft, eine seit mindestens 3000, vielleicht sogar 9000 Jahren bestehende Infektionskette zu zerschlagen.
Heute impft kein Land der Welt seine Tiere gegen die Seuche. Keine Firma stellt noch Impfmittel her. Kaum ein Rind hat natürliche Immunität. Wenn das Virus noch aktiv wäre, sagt Roeder, so würde dies auffallen; denn es würde machtvoll eine Schneise des Todes schlagen in die ungeschützten Viehbestände. Doch alles bleibt ruhig. Wenn wie neulich plötzlich die Flusspferde von Uganda sterben, dann zeigt sich stets, dass nicht Rinderpest schuld war, sondern ein vergleichsweise geringes Übel wie Milzbrand.
Im Felde ist das Virus besiegt, der Rest ist ein bürokratischer Akt. Noch dauert in einigen Ländern die Schlussphase genauer Beobachtung an, noch schreiben einige Chefveterinäre Dossiers, andere versucht Roeder sanft zu drängen, endlich eines zu verfassen. Wenn alles bleibt, wie es ist, und wenn die nötigen Berichte in Paris eingehen bei der Weltorganisation für Tiergesundheit, so könnte die Seuche schon 2010 offiziell für tot erklärt werden.
Roeder kann es nicht erwarten. Das wäre dann, so sagt er, »die größte Leistung der Veterinärmedizin überhaupt«. Es wäre nicht allein sein Verdienst, sondern das von vielen, allen voran das des Briten Walter Plowright, 85, der vor über 40 Jahren den entscheidenden Impfstoff entwickelt hat. Roeders Anteil ist dennoch bedeutend. Im Mai überreichte ihm die Queen eigenhändig eine Auszeichnung, manche finden, das reiche noch nicht an Ehren.
Die Geschichte dieser Ausrottung ist eine, die Mut macht. Sie zeigt, was in Zeiten der Not auf dem kleinen Dienstweg unter Experten möglich ist auf Erden - abseits der großen Politik. Oft hat Roeder erlebt, wie Erzfeinde angesichts von Rinderpest auf einmal zusammenarbeiteten, wie ungeahnte Allianzen entstanden und Betonköpfe sich plötzlich der Räson beugten.
Ende der neunziger Jahre etwa verfügten die damals herrschenden Taliban, der im Osten Afghanistans grassierenden Rinderpest nicht mit Impfungen, sondern nur mit dem Koran Herr zu werden. Die Bauern aber stellten rasch fest, dass die Vakzine weitaus mächtiger war als das Buch. Dieser Erkenntnis widersetzten sich dann sogar die Mullahs nicht, »obwohl sie das leicht hätten tun können«, sagt Roeder. Zwei Jahre später kam der Seuchenzug am Hindukusch zum Erliegen.
Im Süden Sudans gelang es den Rinderpest-Kriegern, die Kinderhilfsorganisation Unicef für sich einzuspannen. Unicef wollte eigentlich nur Kinder impfen, nicht Kühe, aber damit stießen sie auf den Widerstand der Bevölkerung. »Die Erwachsenen fragten: Warum sollen wir unsere Kinder gegen Krankheiten impfen, wenn sie dann mangels Milch und Fleisch an den Folgen der Rinderpest sterben?«, erzählt Roeder. Am Ende immunisierten die Unicef-Leute Mensch und Tier.
Noch zu Saddam Husseins Zeiten war es Roeder gelungen, die irakischen und israelischen Chefveterinäre an einem Tisch zu versammeln; nach dem ersten Golfkrieg feierte die Rinderpest im Nahen Osten ein Comeback. Beim Rinderpest-Palaver, so Roeder, verstanden sich die Herren prächtig. Im Augenblick verfassen sogar Veterinäre aus Israel und Palästina einen gemeinsamen Abschlussbericht über den Status ihrer Herden, Seit an Seit fast wie Partner, nicht wie Kriegsparteien.
Ein Ereignis wie die Rinderpest erzwingt geradezu Vernunft und Solidarität: Kein Land ist sicher vor der Seuche, solange nicht alle Länder vor ihr sicher sind.
In Europa ist die Krankheit fast schon vergessen, die letzten Tiere starben daran in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Aber zuvor war sie der Inbegriff von Schrecken. Die Reiterhorden von Dschingis Khan waren auch deshalb so siegreich, weil ihre Grauen Steppenochsen das Virus einschleppten aus den Tiefen der Mongolei. Sie waren immun - die Rinder der Eroberten nicht.
Allein im 18. Jahrhundert, so schätzen Medizinhistoriker, tötete das Virus 200 Millionen Rinder in Europa, einen Großteil des Bestands. Dieses Elend gab den Ausschlag dafür, dass Frankreich 1762 in Lyon die erste tiermedizinische Fakultät überhaupt gründete. Damit hatte der wissensbasierte Kampf gegen das Virus begonnen.
Afrika blieb südlich der Sahara stets verschont von der Seuche - bis 1887 die italienische Armee nach Äthiopien einmarschierte. Mit ihr betraten infizierte Rinder aus Indien das Terrain. Was jetzt passierte, entzieht sich beinahe der Vorstellungskraft.
Wie ein Buschfeuer verheerte das Virus den halben Erdteil. Innerhalb von zehn Jahren erreichte es das Kap der Guten Hoffnung und den Atlantik. 80 bis 90 Prozent aller Rinder in Schwarzafrika starben, dazu Massen von Antilopen, Büffeln und Giraffen. Hungersnöte folgten, denen die Menschen zu Millionen zum Opfer fielen, ein Drittel aller Äthiopier, zwei Drittel der Massai Tansanias. Der Berliner Epidemiologe Robert Koch unternahm zwei Expeditionen nach Südafrika und entdeckte dort eine erste Form der Impfung - die den Seuchenzug merklich linderte.
Afrika hat sich von dieser Katastrophe nie erholt. Wo einst Rinder und Wildtiere den Bewuchs niedrig hielten, wucherte nun der Busch, in dem die Tse-Tse-Fliege florierte, der Überträger der Schlafkrankheit. Ganze Regionen wurden so für Menschen und Nutztiere unbewohnbar.
Jetzt ist das Killervirus in der Natur offenbar bezwungen - und doch existiert es weiter. In den Laboren der Welt horten Forscher große Vorräte, wo und wie viel genau, ist unbekannt. Was, wenn das Virus ausbricht wegen Unachtsamkeit oder als Folge eines Anschlags? Dies ist eine Sorge, die Roeder wohl nicht mehr loswird.
»Es wäre sehr wünschenswert, wenn wir das Virus auf nur zwei oder drei Labore beschränken könnten«, sagt Roeder. »Aber das wird uns nie gelingen.« MARCO EVERS