MEDIZIN »Es geht aufwärts«
Anfangs schob Katharina M. die plötzlichen Beschwerden auf eine schlecht auskurierte Grippe. Hitzegefühl und Schmerzen in den Knie- und Zehengelenken, glaubte sie, würden mit Abklingen des Infekts wieder verschwinden.
»Es ging aber einfach nicht weg«, erinnert sich die Altenpflegerin aus dem mecklenburgischen Feldberg. Ihre Hausärztin überwies sie an einen Spezialisten. Dessen Diagnose: Rheumatoide Arthritis, eine chronische Entzündung der Gelenke. Katharina M. war 25 Jahre alt.
Cortison und gängige RheumaMittel zeigten nur wenig Wirkung. Der Patientin ging es zunehmend schlechter. Sie konnte nicht mehr laufen, und die aggressive Krankheit zerstörte ihre Fingergelenke. Die junge Frau beantragte Frührente; schon bald brauchte sie häusliche Pflege.
»Schlimmer kann es bei mir nicht werden«, sagte sie sich deswegen, als Ärzte an der Berliner Charité sie fragten, ob sie im Rahmen einer klinischen Studie ein neues Medikament testen wolle. Seit August 1997 wird Katharina M. mit einem biotechnologisch hergestellten Präparat (Handelsname: Remicade) behandelt, das möglicherweise demnächst zugelassen werden soll.
Schon nach der ersten Infusion merkte die Patientin, »daß es aufwärts geht«. Heute fühlt sie sich »körperlich und seelisch viel besser«. Besonders wichtig ist für sie, daß sie mit ihren beiden Kindern, acht und zehn Jahre alt, wieder mehr unternehmen kann.
Gerd-Rüdiger Burmester, Professor für Rheumatologie an der Charité und wissenschaftlicher Leiter der Studie, freut sich über eine ganze Reihe ähnlicher Erfolgsmeldungen. Er behandelt 30 Arthritis-Kranke, bei denen etablierte Therapien das Leiden nicht wesentlich lindern konnten. »Bei vielen dieser Patienten geht jetzt die Entzündung zurück, und auch die Anzahl der geschwollenen Gelenke sinkt«, beobachtete Burmester.
Remicade ist nicht das einzige Medikament, das Rheuma-Patienten neue Perspektiven verheißt. Die Rheumatologen, die über Jahre keine nennenswerten Fortschritte bei der Behandlung verzeichnen konnten, äußern sich plötzlich über gleich mehrere Therapieansätze optimistisch.
Einer der Neuheiten aus den Labors der Biotechnologie, der Substanz Etanercept (Handelsname: Enbrel), hat die amerikanische Behörde FDA bereits vergangenen November die Zulassung erteilt. Auch in Deutschland sollen noch in diesem Jahr die ersten Präparate offiziell verordnet werden können.
Rheumatoide Arthritis beruht auf einer Fehlprogrammierung des Abwehrsystems. Die Immunzellen, eigentlich darauf getrimmt, Krankheitserreger zu erkennen und auszuschalten, attackieren plötzlich das Gewebe in den Gelenken des eigenen Körpers. Was die Zellen so durcheinanderbringt, daß sie nicht mehr zwischen Freund und Feind unterscheiden können, ist noch weitgehend ungeklärt.
Die Folgen des zellulären Amoklaufs sind indes verheerend: schmerzhafte, chronische Entzündungen vieler Gelenke - Hände und Arme sind fast immer betroffen. Die Knorpelschicht im Gelenk wird dabei ebenso angegriffen und zersetzt wie das angrenzende Knochengewebe. »Das fühlt sich an, als ob das Gelenk explodiert«, beschreibt Sabina B., 39, ebenfalls Teilnehmerin der Charité-Studie, einen akuten Krankheitsschub.
Gängige Rheuma-Therapien zielen auf eine allgemeine Hemmung der Immunreaktion. Dazu werden verschiedene Medikamente kombiniert. Als Basistherapeutikum erhalten die Patienten meist ein Zellgift wie zum Beispiel Methotrexat (MTX), das die Abwehrzellen ausschalten soll. Da es jedoch auch andere Körperzellen angreift, leiden die Betroffenen häufig unter zum Teil schwerwiegenden Nebenwirkungen.
Fast immer wird als zusätzlicher Entzündungshemmer ein Cortisonpräparat verordnet. Ebenfalls entzündungs- und schmerzreduzierend wirken die sogenannten nichtsteroidalen Antirheumatika. Zu ihnen zählt auch Aspirin.
Die neuen Präparate versprechen zumindest eine Ergänzung des Standardprogramms. Für Burmester sind sie sogar »ein echter Durchbruch, weil wir bisher immer nur unspezifisch behandeln konnten«. Die jetzt erprobten Bio-Waffen dagegen richten sich zielgenau gegen bestimmte Botenstoffe des Immunsystems, die Zytokine.
Vor allem zwei Vertreter dieser Stoffgruppe - der Tumor-Nekrose-Faktor (TNF) und das Interleukin-1 (IL-1) - locken aggressive Freßzellen in den Gelenkspalt und heizen so die zerstörerische Entzündung an.
Stoffe wie Remicade und Enbrel setzen genau hier an: Sie heften sich an den Tumor-Nekrose-Faktor und blockieren seine Wirkung. Remicade, ein Antikörper gegen TNF, wird aus Mäusen gewonnen, während Enbrel dem natürlichen Rezeptor für TNF nachempfunden ist und keine tierische Komponente mehr enthält.
»Wir wissen noch nichts über die Langzeitfolgen einer solchen Behandlung«, räumt Burmester ein. »Der Körper hat TNF ja nicht gemacht, damit wir Rheuma bekommen.« Vielmehr ist der Botenstoff Bestandteil eines Fließgleichgewichts von Zytokinen. Ob ein Eingriff in dieses Zusammenspiel möglicherweise andere Krankheiten begünstigt, ist noch nicht abzusehen.
Peter Schönhöfer, Mitherausgeber des unabhängigen »Arznei-Telegramms«, steht daher einer frühen Zulassung der neuen Medikamente kritisch gegenüber. »Sicher ist es vertretbar, die Wirksamkeit solcher Substanzen zu testen«, sagt der Pharmakologie-Professor, »aber eine übereilte Zulassung nützt vor allem den Konzernen.« Der Patient, meint Schönhöfer, werde so »zum Spielball« der Wirtschaftsinteressen.
Auch nach einer Zulassung, erklärt Burmester, müsse genauestens abgewogen werden, welche Patienten von den Neuheiten profitieren könnten. Eine Behandlung mit Enbrel würde vermutlich um die 20 000 Mark pro Jahr kosten. »Deswegen und wegen der möglichen Langzeitfolgen können wir zunächst nur die Kranken behandeln, die auf nichts anderes ansprechen«, so Burmester.
In der Testphase ist derzeit auch ein weiterer Ansatz der Rheuma-Behandlung. Der Düsseldorfer Orthopäde Peter Wehling und sein Kollege Julio Reinecke, ein Molekularbiologe, arbeiten an einer Gentherapie gegen die Rheumatoide Arthritis.
Die Methode richtet sich wiederum gegen Zytokine, vor allem gegen Interleukin-1. Doch bei der Gentherapie werden Zellen der Gelenkinnenhaut des Patienten entnommen und genetisch umprogrammiert. Wieder im Gelenk, fungieren sie selber als kleine Pharmafabriken und produzieren einen Stoff, der die Wirkung des IL-1 blockiert. Bisher haben Wehling und Reinecke allerdings erst sechs Patienten damit behandelt.
Burmester betrachtet den Ansatz der Düsseldorfer mit einiger Skepsis: »Grundsätzlich bin ich der Gentherapie nicht abgeneigt. Aber diese Form ist nur lokal anwendbar. Man muß in das einzelne Gelenk spritzen, was an sich schon schwierig ist. Bei der Rheumatoiden Arthritis sind jedoch fast immer viele Gelenke zugleich betroffen.« »Man darf den systemischen und den lokalen Aspekt nicht gegeneinander ausspielen«, findet dagegen Peter Wehling. Und Julio Reinecke glaubt, daß die neuen Therapien nebeneinander angewandt werden könnten: »Am Ende wird man sich die Hände reichen und sagen, wir werden die verschiedenen Ansätze kombinieren müssen.«
Bis die Gentherapie tatsächlich zulassungsreif ist, wird es vermutlich noch Jahre dauern. Viel früher könnte es im Bereich der Basistherapeutika ein neues Medikament geben. Der Wirkstoff Leflunomid (Präparatname: Arava) unterdrückt ähnlich wie Methotrexat die Vermehrung von Immunzellen, allerdings über einen etwas anderen Mechanismus.
»Arava ist keine so revolutionäre Neuerung wie die TNF-Blocker, weil es nur die Fortentwicklung einer etablierten Therapie bedeutet«, urteilt Burmester. Für Patienten, die mit dem Standardmittel MTX nicht zurechtkommen, bietet es immerhin eine Alternative, zumal es wahrscheinlich weniger Nebenwirkungen hat.
Auch die aspirinähnlichen Antirheumatika bekommen schon bald verträglichere Konkurrenz. Die neuartigen COX-2-Inhibitoren (SPIEGEL 50/1998) haben die gleiche schmerzstillende und entzündungshemmende Wirkung, zeichnen sich aber durch einen unschätzbaren Vorteil aus: Wegen ihres gezielteren Eingriffs in eine bestimmte Enzymkaskade führen sie nicht zur Zerstörung der Magenschleimhaut.
Der erste Vertreter dieser »Super-Aspirine« ist in den USA bereits auf dem Markt. »Die COX-2-Inhibitoren sind gerade für Rheumatiker ein Riesenfortschritt, denn 10 bis 20 Prozent haben schon ein Magengeschwür«, sagt Burmester. »Bald kann ich meinen Patienten gleich mehrfach gute Neuigkeiten überbringen.« JULIA KOCH
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Zähmung der Amokläufer Rheumatoide Arthritis entsteht, wenn das Immun- system körpereigenes Knorpelgewebe attackiert. In diesen Entzündungsprozeß (im Röntgenbild rot) können Medikamente in verschiedenen Stadien eingreifen: Nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR)z. B. Aspirin Schmerzlinderung, Entzündungshemmung Nebenwirkungen: v. a. Schäden an der Magenwand Neu: Cox-2-Inhibitoren; kaum Nebenwirkungen Steroide z. B. Cortison generelle Entzündungshemmung Nebenwirkungen: bei hoher Dosierung Osteo- porose, Bluthochdruck, Muskelschwäche Basistherapeutika Zellgifte wie Methotrexat Zerstörung von Immunzellen Nebenwirkungen: wirkt auch auf andere Körperzellen giftig NEU Leflunomid; wirkt selektiver, deshalb verträglicher TNF-/IL-1-Blocker Neu: zielgerichtete Blockade wichtiger Botenstoffe in der Entzündungskaskade, Langzeitfolgen unbekannt
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