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ANTHROPOLOGIE Feuerprobe vor dem Siegeszug

Drei in Äthiopien gefundene Schädel zeugen von der Geburt des Homo sapiens. Genforscher sind derweil einer Katastrophe auf der Spur, die ihm fast den Garaus gemacht hätte.
aus DER SPIEGEL 25/2003

Natürlich war es wieder Tim White. Wenn es um die Menschwerdung geht, ist er eben meist mit von der Partie.

Mit Ehrfurcht und Neid reden die Kollegen von den Schätzen, die der US-Paläoanthropologe im Nationalmuseum von Addis Abeba verwahrt. Dort kratzen, pinseln und messen White und seine Mitarbeiter an Fossilien herum. Wenn sie dann, oft nach Jahren der Knochenarbeit, an die Öffentlichkeit treten, ist das in der Fachwelt fast immer eine Sensation.

Vor rund 30 Jahren war White beteiligt, als das Skelett der berühmten Vormensch-Frau Lucy vermessen wurde. Und White war es auch, der vor zehn Jahren erstmals Fossilien aus jener Ära entdeckte, in der sich die Wege von Mensch und Schimpanse schieden.

Diesmal präsentierte White ein Stück aus dem letzten Kapitel der Menschwerdung. Zunächst war er nur auf einen fossilen Nilpferdknochen gestoßen, daneben lagen behauene Steine. Elf Tage dauerte die Suche nach dem Jäger der Dickhäuter. Dann hatten die Forscher drei Menschenschädel entdeckt, von zwei Erwachsenen und einem Kind.

Fünf Jahre ist das her. Seither puzzelten die Forscher die Fragmente zusammen, und sie entlockten dem Obsidian- und Tuffgestein das Alter ihres Funds: 160 000 Jahre. Fasziniert meint Whites Hamburger Kollege Günter Bräuer: »Das ist nicht nur unser ältestes, sondern auch das am besten erhaltene und am besten datierte Fundstück, das direkt an der Schwelle zum modernen Menschen liegt.«

Bräuer sieht nun eine These bestätigt, für die er sein ganzes Forscherleben lang gekämpft hat: Der Mensch, so mutmaßte er schon vor 20 Jahren, ist Afrikaner. Schädel für Schädel und Zahn für Zahn hat Bräuer anhand afrikanischer Funde die Entwicklung zum modernen Menschen rekonstruiert. Der Homo sapiens idaltu, wie White seinen jüngsten Fund nennt, vollendet diese Chronik der Menschwerdung.

Aus dem Gestein geschält, blickt der Ururopa der Menschheit jetzt seine Nachfahren an. Denn die lange Präparierarbeit gab dem Künstler Jay Matternes Zeit genug, die Schädelknochen auf der Leinwand mit Muskeln, Fett und Haut zu überziehen. Die Nase ragt bereits prominent aus dem dunkelhäutigen Gesicht. Die Augenbrauen haben sich zurückgebildet. Vor allem aber lässt die hohe Stirn und die Form des großvolumigen Schädels den modernen Menschen erkennen. Nur der gewinkelte Hinterkopf mutet noch archaisch an.

Das Geschlecht dieses athletischen Urafrikaners sollte dereinst den Planeten erobern - doch zuvor stand ihm eine Feuerprobe bevor. Dem Unheil, das dem Homo aus Äthiopien drohte, ist eine Gruppe von Genetikern jetzt bei der Sichtung ihrer Datenbank auf die Spur gekommen.

Marcus Feldman ist Chef des Human Genome Diversity Projects, das die genetische Vielfalt der Menschheit erkunden soll. Zehntausende von Blut-, Speichel- und Gewebeproben von Mitgliedern der Art Homo sapiens verwahren die Wissenschaftler - aus Namibia, Pakistan und Brasilien ebenso wie aus Sibirien, Neu-Guinea und der Mongolei.

Insgesamt 377 Orte im Erbgut wählten die Forscher aus und verglichen dann, wie sich die Gen-Sequenz von mehr als 1000 Menschen aus 52 Völkern an diesen Stellen unterschied. Das Ergebnis erlaubt es, die Wanderungsgeschichte der Menschheit in erstaunlichen Details zu rekonstruieren.

Das Ergebnis verblüffte die Genetiker: Zwar war schon zuvor bekannt, dass die genetische Vielfalt der Menschen eher gering ist - etwa viermal geringer etwa als diejenige der Schimpansen. Das bedeutet, dass die Menschheit einst beträchtlich schrumpfte. Alle heutigen Völker gingen dann aus der Schar der Überlebenden hervor.

Doch keiner der Forscher hatte erwartet, dass der Flaschenhals so eng ist: Kaum 100 000 Jahre, möglicherweise sogar nur 70 000 Jahre ist, den Daten der Genforscher zufolge, die Katastrophe her. Nur ein winziger Trupp von 1000, allenfalls 2000 Mitgliedern entrann dem Verderben.

War es ein Seuchenzug? Eine Jahrtausenddürre? Ein prähistorischer Vernichtungskrieg? Über die Ursache des Menschenschwunds schweigen die Gene. Umso trefflicher lässt sich spekulieren. Einige Anthropologen mutmaßen, die Stiche der Tsetsefliege hätten die Menschen dahingerafft, andere argwöhnen, eine kleine Gruppe von Menschen könnte sich als allen anderen überlegen erwiesen haben. Einer glaubt es genau zu wissen. Stanley Ambrose von der University of Illinois hat den großen Killer dingfest gemacht - in Sumatra. Dort nämlich explodierte vor gut 70 000 Jahren der Vulkan Toba. 800 Kubikkilometer Asche schleuderte der Berg in die Luft, rund 100-mal mehr als der Pinatubo vor 12 Jahren.

Solche Eruptionen hat die Erde nur selten erlebt. Sechs Jahre lang umhüllten Staub und Schwefel den Planeten, um fünf Grad stürzten die Temperaturen. Vielerorts verdörrten die Wälder, Hunger plagte das Wild. Hätte damals, so Ambrose, die Zahl menschlicher Opfer nur um ein Geringes höher gelegen, die Geschichte des Planeten wäre eine andere geworden. JOHANN GROLLE

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