SPRACHFORSCHUNG Fröhliches Wurzelziehen
Den Linguisten-Kongreß an der Universität von Michigan umwitterte ein Hauch von Esoterik und Geheimbündelei. Aus aller Welt waren Anhänger der nostratischen Lehre nach Ann Arbor gereist und scharten sich um ihren Gastgeber Professor Vitali Scheworoschkin. Unter dem raumgreifenden Motto »Sprache und Frühgeschichte« hatte der Meister zur »Suche nach der Muttersprache« aller Menschen eingeladen.
Die Zusammenkunft der Sprachwissenschaftler letzten November war die erste Fachtagung eines umstrittenen Nebenzweigs der historischen Linguistik, der noch das Geplauder von Höhlenmenschen verdolmetschen will. Wer hier mitdiskutiere, klagte ein Tagungsteilnehmer, laufe Gefahr, von anderen Kollegen für »verrückt« erklärt zu werden.
Zugang zum Nostratischen, gleichsam einem Ur-Esperanto, erhoffen sich die Anhänger der Theorie durch eine Art phonetische Rasterfahndung. Hunderte von Sprachen werden erfaßt, verglichen und nach Ähnlichkeiten durchkämmt. Die erhaltenen Schnittmengen werden wiederum mit anderen Destillaten verglichen, um so immer tiefer in den Sprachtunnel vorzudringen.
Der statistische Aufwand mutet abenteuerlich an. Der Wortschatz aller lebenden Völker umfaßt gut 500 Millionen Vokabeln, verstreut auf 6000 bis 9000 Sprachen und Idiome. Einige kommen fast ohne Konsonanten aus, andere bedienen sich nur eines einzigen Murmelvokals. Dennoch durchwebe, so die Grundannahme der nostratischen Schule, ein rätselhafter Zusammenhang das polyglotte Wortgestrüpp. Scheworoschkin: »Letztlich sind alle Sprachen, vielleicht mit einigen kleinen Ausnahmen, miteinander verwandt.«
Als greifbares Indiz für seine Ursprungs-Hypothese kann der aus Rußland emigrierte Wissenschaftler bisher nur die Bibel heranziehen. Als »alle Welt«, so Mose 1.11., noch über »einerlei Zunge und Sprache« gebot, planten die hoffärtigen Menschen den Turmbau zu Babel. Um die Koordination zwischen Ziegelmachern, Maurern und Architekten zu stören, beschloß der Herr in seiner Eifersucht: »Lasset uns herniederfahren und ihre Sprache daselbst verwirren.«
Die innere Verwandtschaft scheinbar völlig unterschiedlicher Sprachen war zuerst dem britischen Kolonial-Richter Sir William Jones Ende des 18. Jahrhunderts aufgefallen. Während seiner Berufsjahre in Indien stellte er merkwürdige Übereinstimmungen zwischen dem Sanskrit und seinem Oxford-Englisch fest. Seither hat die historische Linguistik immer neue Hinweise darauf gesammelt, wie Menschen ihre Sprache verschleifen, Konsonanten vertauschen, Vokale vernuscheln und sich so über Jahrtausende hinweg völlig auseinanderreden können.
Generationen von Wortdetektiven deckten diese Camouflage von Lautverschiebungen auf. Ein Fluß wie die jugoslawische Drau, die pommersche Drawa, die ostpreußische Drawe wurde in Lübeck zur Trave und mündet - sprachlich - im Rheinland als Dhron in die Mosel. Die Quelle, aus der alles floß, ist die indogermanische Vokabel »Dhrouos«, die sich auch im Indo-Iranischen und in einigen indischen Idiomen unter der Bedeutung Flußlauf wiederfindet.
Selbst die Hethiter, ein altorientalisches Volk, das vor rund 4000 Jahren Hurra-Berichte über gewonnene Schlachten und Anleitungen zur Pferdezucht auf Tontafeln niederschrieb, haben ihre Sprache offenbar ererbt: Das Hethitische entpuppte sich als phonetischer Sproß der indogermanischen Grundsprache, die vermutlich vor 7000 Jahren im Schwarzmeergebiet oder in Anatolien gesprochen wurde und sich im Verlauf von Wanderzügen über ganz Europa ausgebreitet hat.
Die Vertreter der nostratischen Schule machen bei solchen Erkenntnissen nicht halt. Sie klettern im Stammbaum der Sprachen noch einen Ast tiefer und vergleichen Grundsprachen. Auf dieser Ebene ist das Indogermanische für sie nur eine von neun weiteren Großfamilien, wie dem Hamito-Semitischen, Uralischen und Kartwelischen. Aus deren Analogien und Gleichklängen haben die Linguisten eine Proto-Proto-Sprache abgefiltert - eben das Nostratische.
Das Wörterbuch dieser Ur-Sprache umfaßt mittlerweile etwa 1000 Wortwurzeln und wird, recht vage, auf die Zeit von 18 000 bis 10 000 vor Christus datiert. Eine Ableitung zum Beispiel lautet: Nostratisch »kuni« für Frau, altaisch küni, hamito-semitisch KwVn, indogermanisch gwen, englisch Queen. Nach Maßgabe der Wortschatzgräber soll das Werk schrittweise zu einem kapablen Steinzeit-Duden erweitert werden.
Fachkollegen indes tun das Unterfangen als luftige Spekulation ab. Die herausdestillierten Urworte seien meist nur sprachliche Kleinst-Einheiten ("Etyme") oder Wortrümpfe mit zwei bis vier Buchstaben. »Der Abstraktionsgrad«, rügt der Göttinger Indogermanist Wolfgang Schmid, sei geradezu schwindelerregend: »Das Wortwurzelziehen feiert fröhliche Feste.«
Auch Winfred Lehmann von der Universität Austin in Texas hält die nostratischen Forscher zwar für »sehr fähig und sehr geistreich«, sieht aber die Grenzen der komparatistischen Methode überschritten: Bei Sprachvergleichen so hoher Potenz, mahnt der Skeptiker, würden immer kleinere lautliche Gebilde herausgesiebt, so daß es »am Ende nichts mehr zu vergleichen gibt«.
Von solchen Mäkeleien lassen sich die kühnen Konstrukteure des Nostratischen nicht schrecken, sie sind entschlossen, in immer noch tieferen Wortschichten zu wühlen. Vermutlich, so ihre Überlegungen, gibt es insgesamt fünf solcher Proto-Proto-Familien.
Zwei davon konnten mittlerweile identifiziert werden: Das Dene-Kaukasische, die Urgroßmutter des Chinesischen, wurde von sowjetischen Ursprachtechnikern extrahiert; der US-Linguist Joseph Greenberg filterte gebetsmühlengleich das Amerind ab, ein Mega-Vokabular, das asiatischen Stämmen bei ihrer Wanderung über die Beringstraße auf den Lippen lag.
Die Gemeinsamkeiten dieser Ursprachen-Familien, regte Scheworoschkin in Ann Arbor an, gelte es nun ebenfalls durchzurastern. Ergebnis wäre eine Vor-Vor-Vor-Sprache, wie sie vor 25 000 Jahren den Höhlenmenschen aus dem Mund sprudelte.
Ähnliche Versuche wie die der Nostratik-Gemeinde hatte 1962 bereits der Autodidakt und Begründer der Paläolinguistik, Richard Fester, unternommen. Seine »sprachlichen Verfolgungsjagden«, wie er sie nannte, waren zwar methodisch diffus, förderten aber erstaunliche Parallelen zutage. Das altdeutsche aha für Wasser fand er wieder in »asiatisch Ak, afrikanisch Og, eskimoisch Uk oder Kok, indianisch Cocha oder Caca«.
Am Ende hatte Fester zum Erstaunen der Gelehrtenwelt die »ersten sechs Worte der Menschheit« abgeschöpft: Ba, Kall, Acq, Tag, Tal, Os. Mit diesem Mini-Vokabular, so Fester hochtrabend, ließen sich endlich die »200 000 Jahre alten Schädelkulte und Begräbnisriten des Paläolithikums« kommod ins Hochdeutsche übersetzen.
Ob der Mensch zu dieser Zeit überhaupt schon der Rede mächtig war oder mundfaul am Lagerfeuer saß, ist völlig ungewiß. Anatomen wiesen nach, daß erst der Cro-Magnon-Mensch vor 40 000 Jahren über einen voll ausgebildeten Stimmtrakt verfügte. Ob er die 100 Sprechmuskeln ebenso artistisch einsetzte wie der Mensch der Neuzeit, darüber können Schädelforscher und Archäologen keine sichere Auskunft geben. Vielleicht lallte und lispelte er wie ein Baby, vielleicht aber besaß er schon eine voll ausgebildete Grammatik und modulierte eloquent seine Stimmbänder.
Altlinguist Scheworoschkin will nun den Knochengräbern auf die Sprünge helfen und eine Bresche ins ethnologische Dunkel schlagen. Seine Urzeit-Philologie preist er als »Schlüssel für viele Zentralprobleme« vorgeschichtlicher Perioden, die Aufschluß über »die Zerstreuung der Völker, Kulturen und der Menschheit selbst« geben könne.
Auf schriftliche Belege bei ihren Recherchen können die Nostratiker nicht hoffen. Hieroglyphensteine aus Ägypten und sumerische Kalktäfelchen, die ältesten Niederschriften der Menschheit, gehen nicht weiter als ins vierte vorchristliche Jahrtausend zurück; davor verhallten Wort und Rede unwiederbringlich in der Urluft. »Tonbänder«, konstatiert der Bonner Indogermanist Reinhard Stempel mit Bedauern, »haben wir aus jener Zeit leider nicht.« #