TIERE Frühform des Heimwerkers
Unvermutet in eine Höhe von über 60 Metern gehoben zu werden, mag zu den höchsten der Gefühle zählen - aber nicht für eine Schildkröte, die unter einem Adler hängt.
Noch mieser würde das Panzertier sich fühlen, wenn es ahnte, was der Vogel aus Erfahrung weiß: daß fallende Gegenstände sich im Moment des Bodenkontakts zu verformen pflegen; und daß Schildkröten erst mit geknacktem Panzer genießbar sind, dann aber ganz vorzüglich schmecken.
Immer wieder, bis die Konserve endlich platzt, lassen die Greife ihre delikate Beute deshalb aus der Höhe auf die Erde knallen - ein staunenswertes Spektakel für jene Verhaltensforscher, die sich mit dem Phänomen des Werkzeuggebrauchs bei Tieren beschäftigen.
Das seltsame Gebaren des Steinadlers gilt ihnen als ein weiterer Beleg für ihre These, nach der wesentlich mehr Lebewesen sich eines Werkzeugs oder werkzeugähnlicher Techniken bedienen, als die Zoologie bisher vermutete.
In vielen Jahren transkontinentaler Freilandbeobachtung unter schwierigsten Bedingungen haben die Ethologen nachgewiesen, was früher keiner so recht glauben mochte: Nicht nur bei den Affen, die gekonnt mit Stock und Stein hantieren, sondern allerorten im Tierreich wird gebohrt, gehämmert, geschaufelt - ja sogar gestrichen, wie das Beispiel des Seidenlaubenvogels zeigt. Der Piepmatz träufelt ein aus Beeren und Blüten zusammengespeicheltes Farbgemisch auf Faserbündel, die er wie einen Pinsel im Schnabel führt, um damit seinen (für die Balz errichteten) Laubengang blau auszumalen.
Lange brauchte die Evolution von dieser Frühform des Heimwerkers bis zum ersten Bombenschützen, den die Experten bei ihren Streifzügen durch die Wälder Mittelamerikas in Form des Geoffroy-Klammeraffen entdeckten: Der gewitzte Baumbewohner läßt seinen Kot zielgenau auf ihm mißliebige Bodengänger fallen.
Je länger und mehr sie forschen, desto verblüffender sind die Erkenntnisse, die Experten über den Werkzeuggebrauch vor allem bei den eher schlichteren Vertretern der Tierwelt gewonnen haben. Staunend stellten sie fest, daß sogar die Vögel mit ihrem Spatzenhirn zu erheblichen Lernleistungen bei der Hilfsmittelnutzung befähigt sind*.
Geradezu unglaublich, aber wissenschaftlich gut gesichert, sind etwa die Beobachtungen, daß
* Kolkraben in Schweden nächtens die Angelschnüre einziehen, die arktische Eisangler ausgelegt haben - das Garn im Schnabel, laufen die Tiere so lange zurück, bis der Köderfisch oder die gehakte Beute verspeisefertig aus dem Eisloch glitscht;
* Schwarzmilane in Australien glimmende Holzstückchen von Feuerstellen klauen und diese nach kurzem Flug auf trockenes Grasland fallen lassen - be-
* Peter-René Becker: »Werkzeuggebrauch im Tierreich«. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart; 136 Seiten; 38 Mark.
quem greifen sich die gefiederten Pyromanen dann ihre Leibspeise, die Hasen, die vor dem auflodernden Feuer das nach ihnen benannte Panier ergreifen;
* Grün- und Mangrovereiher in Amerika oder Afrika Insekten sowie Würmer ins Wasser werfen und sich dann die Fische angeln, die nach den Ködern schnappen - auf diese Weise schaffen es die Geschicktesten unter den stelzbeinigen Grätenfressern, in einer halben Stunde über 20 Fische zu erhaschen.
Jungreiher hingegen benötigen etwa 60 Stunden, um sich einen einzigen Fisch zu greifen - ein Beweis dafür, daß die Köderjagd von den Tieren durch Nachahmung erlernt und durch Erfahrung perfektioniert werden muß.
Nicht der Einsicht, sondern einem in engen Grenzen variablen Reiz-Reaktions-Schema folgen beim Werkzeuggebrauch evolutionäre Einfach-Modelle wie die nimmersatte Raubwanze Salyavata variegata. Ihre Lieblingsspeise ist der Nachschlag, weshalb sie es sich angewöhnt hat, Termiten mittels eines genialen Tricks zu fangen: Nachdem die Wanze zu Beginn ihres Mahles die erste Termite ausgesaugt hat, läßt sie deren leere Hülle über den Rand der Nestöffnung pendeln - worauf die Termite, die ihren toten Kameraden bergen will, an diesem nach oben gezogen, ausgelutscht und danach ebenfalls als Köder recycelt wird.
Das wohl häufigste Objekt tierischer Beutegier ist jedoch das Ei. Besonderer Beliebtheit erfreut sich dabei das riesige Straußenei, das für die meisten Plünderdiebe eine ganze Mahlzeit darstellt, aber schwer zu knacken ist - allerdings nicht für den Schmutzgeier, der mit dem Schnabel bis zu einem Kilogramm schwere Steine so lange gegen das Ei schleudert, bis die harte Schale bricht.
Weniger anstrengend mutet im Vergleich dazu das Schildkröten-Abwurfverhalten der Steinadler an. Mit einem einfachen Plumpsenlassen der Beute ist es allerdings auch hierbei nicht getan: Die Panzerknacker setzen ihrem Opfer im Sturzflug nach und rasen mit ihm, sozusagen Auge in Auge, zur Erde nieder. Dabei dirigieren sie die Schildkröte per Flügelschlag, damit das Reptil auf einer möglichst felsigen Stelle auftrifft. Nach Zählungen der Forscher sind im Schnitt drei Abwürfe erforderlich, bis das Tier verzehrfähig ist.
Besonders hartleibige Schildkröten müssen bis zu achtmal fliegen - was aber ihre Chance erhöht, es einer berühmten Kollegin gleichzutun: Die soll vor 2456 Jahren dem griechischen Düster-Dichter Aischylos auf den Kopf gefallen sein und dem Tragöden so zu einem der komischsten Tode aller Zeiten verholfen haben.
* Peter-René Becker: »Werkzeuggebrauch im Tierreich«.Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart; 136 Seiten;38 Mark.