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ARCHÄOLOGIE Göttertränen im Watt

Bernstein für den Pharao, Zinn nach Mykene - schon das bronzezeitliche Nordeuropa betrieb Fernhandel. Scherbenfunde vor der norddeutschen Küste sorgen nun für Verwirrung: Gab es vor 3000 Jahren sogar einen direkten Schiffsverkehr von Pellworm bis zu den Pyramiden?
aus DER SPIEGEL 49/2006

Den Blick streng auf den Boden geheftet, schlurfte Wattführer Karsten Hansen, 65, nahe der Hallig Südfall durch die trockengefallene Nordsee. Ihn umgab endloser grauer Modder, der bei jedem Schritt unter seinen nackten Füßen schmatzte.

Plötzlich sah der Mann einen freigespülten blauen Stein. Das Fundstück leuchtete: Lapislazuli, ein etwa zehn Zentimeter großer Rohling aus Afghanistan. So etwas wurde in der Bronzezeit gern als Gastgeschenk verwendet.

Wie kommt der Schmuckstein ins Watt?

Hansen gehört zur Crew des Ethnologen Hans Peter Duerr, der schon seit 1994 - auf eigene Faust und widerrechtlich - an der Nordseeküste nach Spuren der mittelalterlichen Stadt Rungholt sucht. Mit einem abgetakelten Segler fährt die Truppe alljährlich hinaus, lässt sich trockenfallen und schwärmt mit Gummistiefeln in den Schlick aus. Die letzte Expedition fand im August statt.

Duerr zufolge machte seine Mannschaft bei ihrer Schlick-Fahndung reiche, ja sensationelle Beute. Sie fand

* griechische Münzen aus dem 4. und 3. vorchristlichen Jahrhundert;

* Schweinezähne der bronzezeitlichen Haustiere;

* Reste eines phönizischen Kochtopfs und

* Scherben einer Bügelkanne sowie einen Schiffsanker, beides aus minoischer Zeit (um 1300 vor Christus).

Der phantasiebegabte Gelehrte hat für die Anhäufung mediterraner Altertümer im Wattenmeer nur eine Erklärung: »Vor der Küste liegt ein alter Fernhandelsplatz. Im 14. Jahrhundert vor Christus ist dort eine griechische Galeere gekentert.«

Ein Knüller? Seitdem Duerr seine erstaunlichen Trümmer im Fototeil eines Buches vorstellte, kocht in der Fachwelt eine feindselige Debatte*. Das Archäologische Landesamt in Schleswig (ALSH) hält den Mann für unglaubwürdig. Ein Mitarbeiter argwöhnt: »Vielleicht haben seine eigenen Leute die Scherben ins Gelände geworfen, um ihn zu verulken.«

Die Ansicht, während der Mittleren Bronzezeit in Norddeutschland (ab 1550 vor Christus) habe es einen Fernhandel zur See gegeben, sei »pure Phantasie«, meint

ALSH-Forscher Hans Joachim Kühn. »Vor 3500 Jahren gab es höchstens einen regionalen Tausch von Hand zu Hand und Stamm zu Stamm.«

Doch der Gerügte kontert jetzt. Mehrere seiner Helfer haben dem SPIEGEL gegenüber die Funde bezeugt. Zudem liegen neue, handfestere Beweismittel vor. Die alte Lehrmeinung bekommt Risse:

* Das Bonner Helmholtz-Institut für Strahlen- und Kernphysik hat die strit-tigen Scherben einer Neutronenaktivierungsanalyse unterzogen. Dabei wird der Materialmix des gebrannten Tons auf milliardstel Gramm genau untersucht. So entsteht eine Art Fingerabdruck. Ergebnis: Die Scherben im Watt stammen »mit hoher Wahrscheinlichkeit aus der zentralkretischen Region um Knossos und Phaistos« - und sind wirklich etwa 3500 Jahre alt.

* Die Schmutzpartikel, die den Stücken anhaften, ließ Duerr ebenfalls untersuchen - am Berliner Rathgen-Forschungslabor. Der Dreck entspricht in etwa dem »Bodenmilieu des Watts«. Die Keramik könnte dort wahrhaftig lange gelegen haben.

Ist dem schillernden Ethnologen also tatsächlich ein Coup gelungen? Feilschten schon die Zeitgenossen Tutanchamuns mit den Fietjes von der Waterkant?

Die Archäologen aus Schleswig mögen das nicht glauben. Sie halten Duerr für einen Trickser. »Statt die Verunreinigungen auf den Scherben von einem unabhängigen Wissenschaftler abkratzen zu lassen, hat er das selbst getan und die Tüte ans Labor verschickt«, wirft ihm Kühn vor. »Wer beweist, dass er dabei nicht schwindelte?«

Aber vielleicht knurren die Gralshüter der Schulmeinung nur deshalb so laut, weil ihre eigene Position ins Wanken gerät. Auch andere Befunde machen jetzt deutlich: Die Bevölkerung der Bronzezeit trieb weit mehr Handel als bislang gedacht.

Es sind die modernen Prüftechniken der Mineralogie und Archäometallurgie, die nun zeigen, über welch ungeheure Distanzen hinweg die Vorzeit seltene Rohstoffe handelte:

* Der Gletschermann Ötzi etwa hatte feinsten Feuerstein vom Gardasee in der Tasche.

* Das Kupfer für die berühmte »Himmelsscheibe von Nebra« stammt aus den Ostalpen.

* Schon vor über 3000 Jahren ahmten die Urgermanen ägyptische Klappstühle nach. In ihren Grüften lagen »Schleifennadeln« aus Zypern und Glasperlen aus Griechenland.

Europa war durchlässiger als lange vermutet, Luxuswaren und religiöse Ideen wurden per Paddelboot quer über den Kontinent verbracht.

Sogar auf hohe See wagten sich die Händler Alteuropas hinaus. Schon in der Steinzeit bestand ein Fährverkehr nach Helgoland. Der Grund: Auf der Insel kommt ein seltener roter Feuerstein vor. Die neolithischen Kaufleute tauschten ihn bis nach Holland.

Noch vor wenigen Jahren schien all das undenkbar. Beim Wort Fernhandel zogen die meisten Experten den Kopf ein. Als 1952 spielende Kinder bei Dohnsen in der Lüneburger Heide eine mykenische Bronzetasse fanden, hieß es, der Pott habe sich erst in der Neuzeit dorthin verirrt. Einen im altirischen Heiligtum Emain Macha ausgegrabenen Schädel eines Berberaffen schwieg die Zunft einfach tot.

Auch die Schleswiger Forscher, Duerrs Gegner, standen bislang stramm auf der Seite der Zweifler. Nicht einmal die Anwesenheit von Römern wollten sie anfangs im Watt akzeptieren. »Als in den achtziger Jahren auf Föhr viel römisches Geld zutage kam, dachten wir zuerst: Da hat ein Studienrat seine Münzsammlung verloren«, gesteht Ingrid Ulbricht, die Magazinleiterin im Landesmuseum Schloss Gottorf.

Besonders krass war ein Fehlurteil, das den Schleswiger Archäologen 1996 unterlief. Ein Laie hatte ihnen ein grün schimmerndes Beil aus Jadeit vorgelegt. Es stamme aus der Steinzeit und sei in einem Grab bei Flensburg entdeckt worden, erklärte der Mann.

Doch die Gutachter sahen es anders: »Das ist doch ein Souvenir aus der Südsee.« Erst der Vorgeschichtler Lutz Classen konnte jetzt beweisen: Die Prunkwaffe ist sehr wohl prähistorisch. Das seltene Jadeit stammt aus einer Mine in den Ligurischen Alpen und wurde vor über 5000 Jahren über weite Strecken bis zur Ostsee transportiert.

All dies besagt: Europa war einst durchädert von Handelsrouten. Es gab Bohlenwege quer durch die Moore, dazu Küstenschifffahrt und ein Verbindungsnetz aus Flüssen.

Mit dieser Einsicht nehmen die Forscher nur ernst, was die griechischen Schriftquellen immer wieder verschwommen erzählen. Sie berichten von Reisen zu den »Hyperboreern« (übersetzt: die jenseits des Nordwinds Lebenden), wo im Sommer die Sonne nicht untergeht.

Angelockt wurden die Südländer vor allem von den Zinnminen in Cornwall. Aberhunderte Bergleute holten dort das dunkle Erz unter Lebensgefahr aus tiefen Schächten.

Am Mittelmeer war dieses Metall ständig knapp - es gab keine ergiebigen Lagerstätten. Nur wer Zinn besaß, konnte es mit Kupfer vermischen und so Bronze herstellen: den Werkstoff für die härtesten Waffen.

Aber auch Bernstein lockte. »Tränen der Götter« nannten die Griechen das urzeitliche Harz, das sich bei Reibung elektrostatisch auflädt und im Feuer duftet. Von Mykene bis nach Ägypten trug die

feine Damenwelt Halsketten mit den gelben Klunkern.

All dieser Schmuck kam aus dem Norden. Auf Sylt, Föhr und Amrum lebten in der Bronzezeit reiche Fürsten, deren Untertanen das Urharz gezielt am Strand suchten. »Die Westküste scheint eine Art Monopolstellung in diesem Handel gehabt zu haben«, so der Frühgeschichtler Albert Bantelmann.

Noch heute erheben sich Hunderte Grabhügel auf den Nordfriesischen Inseln, die vom Wohlstand der alten Tausch- Häuptlinge zeugen. Sie ließen sich in Baum- oder Bohlensärgen bestatten und nahmen Dolche, Prunkschwerter und Nippzangen zum Ausreißen von Körperhaaren mit ins Jenseits.

Meist fuhren die Händler in Kanus die Elbe hinauf. So stießen sie - teils zu Fuß - weit ins Binnenland vor, erreichten die Moldau und das Alpenvorland. Das schönste vorgeschichtliche Bernsteinkollier wurde 1996 auf dem Audi-Werksgelände in Ingolstadt entdeckt. Es besteht aus über 2700 Perlen.

Wie aber verlief die transkontinentale Route, die Großtour nach Mykene und in das Land der Pyramiden? Der Ethnologe Duerr vermutet einen »iberisch-nordwesteuropäischen Direkthandel zur See«.

Doch das ist wohl zu forsch gesprochen. Außer ein paar verfaulten Planken und blassen Felsbildern aus Skandinavien, die Schiffe zeigen, ist von der altnordischen Marine nichts erhalten.

Immerhin: In North Ferriby (England) kamen Eichengerippe zutage, die eine Ahnung von den Booten der Bronzezeit geben. Das größte war 13,2 Meter lang, 1,7 Meter breit und bot 18 Paddlern Platz. Es hatte Planken, die nicht vernagelt, sondern nur mit Stricken verbunden waren. Als Dichtmasse diente Moos.

Ein anderer Bootstyp, »Curragh« genannt, sah kaum weniger vertrauenserweckend aus. Er besaß nur ein Spantengerüst, das mit Tierfellen bespannt war - der reinste Seelenverkäufer. Einer musste ständig Wasser schöpfen.

Dass die friesischen Bernstein-Matrosen mit solchen Vehikeln über 5000 Kilometer weit bis nach Kreta schifften, dürfte unwahrscheinlich sein.

Aber auch die Hochkulturen des Südens hätten bei einem direkten Törn zur geheimnisvollen Bernsteininsel »Abalus« (gemeint ist wohl Helgoland) ihre liebe Not gehabt. Sie verfügten zwar über Großfrachter mit Rahsegeln und verstanden es, nach den Sternen zu navigieren.

Doch schon vor Gibraltar bläst oft ein fieser Gegenwind. Zudem: Wer aus dem Mittelmeer herauswill, muss eine mehr als fünf Stundenkilometer schnelle Gegenströmung überwinden.

Nervig geht es weiter an der iberischen Küste hoch. Es folgt der Golf von Biskaya - Hunderte Kilometer Horrorfahrt ohne schützende Bucht. Erst nach Wochen liefen die Schiffer in den Ärmelkanal ein, um die begehrten Zinnbarren zu laden.

Und dennoch: Die Mittelmeeranrainer wagten offenbar die Tour. Sicher ist, dass um 1100 vor Christus die Phönizier den Vorposten Gadir (Cádiz) am Atlantik gründeten. Homer rühmt dieses Volk als »Helden der Schifffahrt«, die den Griechen den begehrten Bernstein gebracht hätten.

Was jenseits von Gadir geschah, liegt allerdings im Dunkeln. Die Phönizier hüteten ihre Handelswege wie ein Staatsgeheimnis. Vielleicht fuhren sie nicht selbst die Strecke nach Norden, sondern organisierten einen Seehandel von Stamm zu Stamm.

Aber auch die Flüsse wurden genutzt (siehe Grafik Seite 161). Die Griechen, die um 600 vor Christus Marseille gründeten, schipperten meist die Rhône und Saône hoch. Dann versperrte ein Berg die Weiterfahrt. Also kletterten sie zu Fuß über den Höhenzug - und kamen so ans Ufer der Seine.

Der dort lebende Stamm, so die Annahme, wurde offenbar mit Geschenken bestochen. Das berühmte Grab der »Fürstin von Vix«, das in der Region liegt, war gefüllt mit feinster griechischer Keramik sowie einem 1,64 Meter hohen Mischkrug aus Sparta.

Mit solchen Präsenten machten sich die Griechen bei den Fremden beliebt. Wahrscheinlich übernahmen die Eingeborenen mit ihren Kanus dann den zweiten Teil der Handelsroute und fuhren über die Seine in den Ärmelkanal.

So gelangte immer neues Zinn und glänzender Bernstein in die weitverzweigten Handelspipelines, die bis in den Orient führten.

Das neue Bild vom quirligen Fernverkehr quer durchs alte Europa fügt sich gut zu den verschlickten Beutestücken des Ethnologen Duerr. Vieles spricht dafür, dass an der Nordsee einst »Bernsteinfürsten« lebten. Es könnte eine Verbindung gegeben haben vom Watt bis in die Wüste.

Bewiesen ist allerdings noch nichts. Weil er formaljuristisch nicht graben darf, hütet der Ethnologe seine Scherben in einem Versteck. Eine Übergabe an das Landesamt verweigert er.

Feindlich stehen sich Parteien gegenüber. »Es ist eine Tragödie«, meint Albert Panten, ein Historiker aus Niebüll, »alle blockieren sich gegenseitig.« Er regt deshalb eine unabhängige Kommission an, die nun alle strittigen Watt-Trümmer prüfen soll.

»Es muss etwas geschehen«, sagt Panten, »vielleicht steckt hinter den Scherben wirklich eine Sensation.« MATTHIAS SCHULZ

* Hans Peter Duerr: »Rungholt - Die Suche nach einer versunkenen Stadt«. Insel Verlag, Frankfurt am Main; 764 Seiten; 28 Euro.

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