Mathematik Griff nach dem Gral
Am Mittwoch um 10.30 Uhr war die Tat vollbracht. Andrew Wiles, 40, kehrte der Tafel den Rücken, schlug sich die Kreidepartikelchen von den Händen und schüttelte mit dem weißen Staubschleier 356 Jahre Geschichte ab.
In einem Hörsaal der altehrwürdigen Cambridge University hatte der britische Mathematiker soeben eine mathematische Vermutung bewiesen, die als »Fermats letztes Theorem« durch die Jahrhunderte geistert. Schon Minuten nach Ende der Vorlesung Mitte letzter Woche verbreitete sich die Nachricht um die Welt.
Gegen 3.00 Uhr morgens hätten ihn Kollegen telefonisch geweckt, berichtete der US-Mathematiker Leonard Adelman von der University of Southern California _(* Am Mittwoch letzter Woche bei seiner ) _(Vorlesung in Cambridge. ) aus dem fernen Los Angeles. »Das ist die aufregendste Sache, die je passiert ist«, jubelte Adelman über Wiles'' Geniestreich, »in, na ja - ach was, der gesamten Geschichte der Mathematik.«
»Die mathematische Landkarte«, schwärmte Adelmans Kollege Kenneth Ribet von der University of California in Berkeley, habe sich durch Wiles'' Beweis »verändert«.
Wohl kein Problem, das je ein Mathematiker der Nachwelt hinterließ, war so vertrackt und fruchtbar zugleich wie die berühmt-berüchtigte Notiz, die der Franzose Pierre de Fermat mutmaßlich im Jahre 1637 an den Rand eines Buches schrieb.
Die Gleichung xn + yn = zn, notierte der Richter am Toulouser Parlament, habe, wenn x, y und z ganze Zahlen ungleich null sind, für ganzzahlige Exponenten größer als 2 keine Lösung.
Wenn die Hochzahl 2 ist, gibt es beliebig viele Lösungen. Generationen von Schülern kennen diesen Fall als den Lehrsatz des Pythagoras, wonach die Quadrate über den Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks sich immer schön addieren: a2 + b2 = c2. Bei 32 + 42 = 52 beispielsweise geht die Gleichung auf, denn 9+16 sind 25.
Wird der Exponent größer, geht die Sache - wie Fermat weissagte - schief. 33 + 43 sind 91, und eben nicht 53 (125).
Heerscharen zahlenverliebter Laien sind ausgezogen, den Fermat zu »beweisen«. Doch auch große Mathematiker wie der Franzose Adrien-Marie Legendre (1752 bis 1833) »bissen sich an dem Problem die Zähne aus«, wie die französische Zeitung Le Monde Ende letzter Woche notierte. Noch Größere versuchten gar nicht erst, den Happen zu kauen.
Karl Friedrich Gauß, als Fürst der Mathematik verehrt, lehnte es zu Beginn des 19. Jahrhunderts ab, sich dem Franzosen-Vermächtnis zu widmen. Gauß hatte wohl als erster die Tücke der Fermatschen Vermutung durchschaut und nur geäußert, er könne »eine Vielzahl solcher Behauptungen aufstellen, die weder zu beweisen noch zu widerlegen sind«.
Den Rest der Welt schreckte die Zurückhaltung des Weisen nicht. So gibt es längst mehr Beweise für die perfide Behauptung des Toulouser Richters als Beamte in Bonn. Der Überprüfung hielt bisher keiner dieser Beweise stand.
Denn Fermat hatte mit seiner Marginalie einen Rohdiamanten hinterlassen. Die Mathematiker konnten ihn bewundern, schleifen konnten sie ihn nicht.
Bis vor wenigen Jahren, erläutert Gerhard Frey vom Institut für experimentelle Mathematik der Universität Essen das Problem, »taugte das gesamte mathematische Rüstzeug nicht zum Beweis des Fermatschen Theorems«.
Wie Berkeley-Mathematiker Ribet und andere Zahlenforscher hat Frey zu jenem Arsenal von Werkzeugen beigesteuert, das es nun Wiles erlaubte, nach dem »Heiligen Gral der Mathematik"(Le Monde) zu greifen.
Frey hatte, wie Kollegen würdigten, 1986 eine »verblüffende, äußerst einfache Verbindung« zwischen dem Fermatschen Theorem und einer für die Lösung des Problems wichtigen Vermutung des japanischen Mathematikers Yutaka Taniyama aus den fünfziger Jahren entdeckt. Ribet bewies dann 1987, daß der Freysche Brückenschlag mathematisch trägt.
Der Brite Wiles, »einer der ganz Großen« (Frey), habe die Brücke nun gleichsam überschritten, umschrieb Nicholas Katz von der Princeton University im US-Staat New Jersey die herausragende Leistung des Kollegen.
Wiles kann sich dabei auf seit 30 Jahren gesicherte mathematische Erkenntnis stützen. Seine Beweisführung, dem Laien im einzelnen nicht vermittelbar, basiert auf der von dem Japaner Taniyama entwickelten Vermutung, in der es um elliptische Kurven geht.
Wiles hat nun gezeigt, daß diese Taniyama-Vermutung richtig ist - und daraus wiederum folgt (nach den Vorarbeiten von Frey und Ribet), daß das Fermatsche Theorem stimmen muß, weil sonst Kurven mit exotischen Eigenschaften konstruiert werden könnten, die es nach der Taniyama-Vermutung nicht geben darf.
Frey ist sich sicher, daß der so lang gesuchte Beweis »diesmal steht«. »Selbst dann«, so Frey, »wenn noch kleinere Ungenauigkeiten in der Beweisführung entdeckt werden sollten.«
Bis die wenigen Experten, die Wiles in die Sphären des Gral-Beweises folgen können, ihre Gutachtertätigkeit abgeschlossen haben, dürfte noch einmal ein Jahr vergehen.
Bis dahin darf der britische Mathematiker, der eine Professur an der berühmten Princeton University angenommen hat, hoffen, daß sich die kränkelnde Mark gegenüber dem Dollar erholt.
1908 hatte die deutsche Akademie der Wissenschaften einen Preis für die Lösung der Fermatschen Vermutung ausgelobt, ursprünglich waren es 100 000 Goldmark. Aufgezehrt durch die Inflation nach den Weltkriegen, beläuft sich das Preisgeld nur noch auf 7500 Mark.
* Am Mittwoch letzter Woche bei seiner Vorlesung in Cambridge.