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Biographien Held im Rollstuhl

Ein Film über das Leben und Denken des Kosmologen Stephen Hawking, der »Gottes Plan« zu erforschen trachtet, kommt jetzt in die Kinos.
aus DER SPIEGEL 8/1993

In der Schule war er mittelmäßig, während des Studiums faul, aber begabt. Im studentischen Ruderklub von Oxford fuhr er als Steuermann, Radfahren machte ihm Freude, und sein Schönstes war es, hochkomplizierte Brettspiele auszutüfteln, die er auf 60 mal 90 Zentimeter große Kartonpappen aufmalte.

»Ihm machte es Spaß«, erzählt sein Schulfreund Michael Church über ein labyrinthisches Ritterspiel, das die Teilnehmer ganze Abende kostete, »daß er diese Welt erschaffen und die Gesetze ersonnen hatte, die in dieser Welt herrschten.«

Später wandte sich Stephen Hawking, der während seines Studiums (wie er später berechnete) im Durchschnitt nur eine Stunde pro Tag gearbeitet hat, jenen Regeln zu, nach denen das seit Jahrmilliarden dauernde Spiel auf der Himmelsbühne abläuft. Ohne falsche Bescheidenheit: »Mein Ziel ist einfach«, proklamierte der britische Wissenschaftler, »ich möchte herausfinden, woher das Universum kommt. Wie und warum es begonnen hat. Wie es enden wird, und wenn, wie dieses Ende aussehen wird.«

Leben und Werk des legendären, wegen einer unheilbaren Muskelerkrankung gelähmten und an den Rollstuhl gefesselten Kosmologen Hawking, 51, hat der amerikanische Filmemacher Errol Morris jetzt in Szene gesetzt.

Der Film, eine »schöne Bilderschau« (Die Zeit), die zwischen Dokumentation und Science-fiction eine kurzweilige Mitte sucht, referiert das Ideengebäude aus Hawkings 1988 erschienenem, inzwischen 5,5millionenmal verkauftem Bestseller »Eine kurze Geschichte der Zeit«. Zudem sammelt das Bildwerk gleichen Titels biographische Details über den Hochbegabten, der bis zu seinem 20. Lebensjahr noch springgesund war.

Beim Ablichten des Stephen-Hawking-Mythos ging Dokumentarfilmer Morris beinahe so minimalistisch vor wie Philip Glass, der ihm die sphärenklingende Musik zum Film schrieb. Zumeist über Gespräche mit Personen aus Hawkings Umfeld werden die Lebensdetails gespiegelt.

Die unspektakulären Interviews, mal mit Hawkings Mutter Isobel ("Wenn er manchmal Unsinn erzählt, na und? Tun wir das nicht alle?"), mal mit Studienkollegen wie Derek Powney ("Da begriffen wir, daß er von einem anderen Stern war") oder mit Wissenschaftlern wie dem theoretischen Physiker Kip Thorne ("In den letzten Jahren ist er sehr viel spekulativer geworden"), wurden mit leichter Hand gegeneinander verschnitten.

Bei dem Versuch, die hochfliegenden Gedankengänge des Bestseller-Kosmologen auf die Filmleinwand zu bringen, vermied es Regisseur Morris, den Zuschauer in einer Flut optischer Tricks zu ertränken - kein brodelnder Strahlungssee, wie er im urzeitlichen Kosmos schwappte. Höchstens verschwindet eine Rolex, den Zeitmarsch ihrer Zeiger abbremsend, in einem materiefressenden Schwarzen Loch (das mit verwaschenen Kohlestrichen aufs Papier geworfen wird).

Sinnfällig wird ein anderes von Hawkings Gedankenexperimenten transportiert: Was wohl geschähe, hatte Hawking überlegt, wenn der Schwung des Urknalls beizeiten nachließe und sich das scheinbar unablässig expandierende Weltall wieder zusammenzöge?

Der »Zeitpfeil«, so seine spekulative Antwort, würde sich dann umkehren, die täglichen Ereignisse liefen rückwärts ab. Zerbrochene Tassen würden sich, erläutert der Gelehrte, »auf dem Boden zusammenfügen und auf den Tisch zurückspringen«. Gesagt, gefilmt; so was gab es schon bei »Dick und Doof«.

Doch auch ein Hirn der Extraklasse irrt manchmal: »Ich hatte einen Fehler gemacht«, gesteht Hawking im Morris-Film, bei seiner Zeitpfeil-Hypothese sei er »von einem zu einfachen Modell des Universums ausgegangen«.

Stephen Hawking, der Held, im Rollstuhl vor seinem Computer sitzend, der die eingetippten Sätze des womöglich genialen, seit Jahren sprechunfähigen Denkers in eine Maschinensprache umwandelt: Mit solch einem Generalangriff auf Neugier und Mitleid geriet der Film, der jetzt in deutsche Kinos kommt, in den USA augenblicklich zum Erfolg. Er gehört zu den wenigen Dokumentarfilmen, die in die Gruppe der 40 bestbesuchten Kinospektakel aufrückten - Fortsetzung einer geradezu mythischen Verehrung für einen Geistesheroen, über deren Zustandekommen schon viel spekuliert worden ist.

Daß nur wenige Käufer jenes schmale Bändchen, das dem Film nun als gedankliche Vorlage dient, bis zur letzten Seite durchgelesen haben, bezweifelt nicht einmal der Autor. Hawking selber schloß nicht aus, daß »meine Behinderung zum Verkaufserfolg des Buches beigetragen hat«.

Von einem Helden, so »ganz nach dem Geschmack der Werbefachleute«, sprach der Heidelberger Astronom Hans Elsässer: Ein körperlich Hinfälliger, dem die Ärzte schon vor drei Jahrzehnten nur noch wenige Jahre Lebensspanne zugemessen hatten, sprach- und bewegungslos zurückgeworfen auf den reinen Geist, besitzt die Kühnheit, den »Plan Gottes« aufdecken zu wollen, und sucht nach der Schöpfungswahrheit, die der ungläubige Denker selbst am Ende nur für eine mathematische Formel hält.

Als wäre er ein Popstar oder blaublütig, nehmen die Klatschblätter inzwischen sogar gierigen Anteil an der Ehekrise des (seit 1965 verheirateten) Physikprofessors aus Cambridge: »Der klügste Mann der Welt läßt sich scheiden«, titelte Bild, »weil seine Frau an Gott glaubt.«

Dem Rummel, der 1988 mit dem Erscheinen seines Bestsellers über den Werdegang des Universums losbrach, hat Hawking sich nicht nachhaltig entzogen. Jetzt, zum Erscheinen des Films, erklärte er zwar, er verstehe nicht, »weshalb irgend jemand etwas aus meiner Kindheit hören will«. Doch er war Geschäftsmann genug, um sich die Filmrechte an seinem Bestseller erst nach harten nächtlichen Verhandlungen abringen zu lassen (der Vertrag wurde per Daumenabdruck besiegelt).

Rechtzeitig zum Film gab der Kosmologe wiederum ein Buch heraus (auf deutsch bei Rowohlt), in dem die Interviews und einige Bilder aus dem Film nachgedruckt sind. »Auf jeweils 600 Männer, Frauen und Kinder in der Welt«, schreibt der Autor, der so gut rechnen kann, im Vorwort, komme nun jeweils ein Exemplar seiner »Geschichte der Zeit«.

Ob die Vermarktungsmaschine immer so weiterrattert? Er wisse nicht, notiert Filmstar und Buchherausgeber Hawking listig, »ob man noch einen Film zum Buch zum Film zum Buch plant«.

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