MEDIZIN Herz nach Maß, Ohr vom Band
Eine Weile durfte Joseph Vacanti reden. Adern, Lebern, gar ganze Herzen werde er in Glaskolben heranzüchten. In Wärmeöfen würden die Organe aufgehen wie Hefegebäck. Dann ergoß sich Gelächter über ihn: »Verblendeter Prophet«, höhnten die Kollegen, »falscher Messias«. Oder schlicht: »Spinner«.
So einem gibt niemand sein Geld oder die Arbeitskraft, in Harvard schon gar nicht. Nach diesem Vortrag war Professor Vacantis Ruf an seiner überstolzen Universität dahin.
Einer glaubte an ihn, sein Bruder. Als Charles Vacanti von den Zuchtvisionen erfuhr, sah er darin die »genialste Idee, die mir je untergekommen war«. Der Jüngere, ebenfalls Arzt, verdingte sich bei dem Älteren: Jay und Chuck, wie sie einander seit Kindstagen nennen, gegen den Rest der Welt.
Nachts vollführten sie ihre Experimente; tags mußten sie operieren. Weil niemand einen Laborraum hergeben wollte, bauten sie ihr Geschirr auf Jays Schreibtisch auf - Petrischalen und Fläschchen, in denen sie Flüssigkeiten in menschliches Fleisch umwandeln wollten.
Das war 1987. Heute beschäftigt Jay Vacanti 25 Mitarbeiter und Chuck noch einmal so viele. Die Brüder sitzen wissenschaftlichen Vereinigungen vor, geben Zeitschriften heraus, halten 40 Patente und verfügen für ihre Experimente über mehr als zehn Millionen Dollar Jahresetat.
Ihre Labors haben sie getrennt, ein höchst ungleiches Gespann sind sie geblieben: Der asketische Jay hat die Ideen; Chuck, ein Mann von Pavarotti-Statur, feiert die Erfolge.
Jay träumt von ganzen Organkomplexen aus der Retorte, Chuck begnügt sich mit der Züchtung von Knorpel. Jay kann vierzehnerlei Arten von Körpergewebe wachsen lassen, doch seine synthetischen Lebern, Herzklappen und Därme wagt er nur in Ratten und Lämmer einzunähen. Chuck baut - viel einfacher - Nasen, Ohren, Gelenke und Knochen. Aber er ist es, der jetzt mit seinen Gewächsen den Schritt zum Menschen hin vollzieht.
Die Experimente mit Patienten, denen Knorpel aus dem Labor eingeflickt wird, unternimmt er nicht selbst. Zwei Firmen hat die inzwischen euphorisierte Harvard-Universität gegründet, um mit den Ideen der Brüder Geld zu verdienen. Mehr als 100 Angestellte arbeiten in diesen Organzucht-Unternehmen, die Aktien werden als High-Tech-Werte an der Börse in New York gehandelt.
»Wir erleben den Beginn einer Industrie«, sagt der US-Bioingenieur Robert Nerem aus Atlanta. Das Bonner Forschungsministerium rechnet, wie es in einer vor kurzem veröffentlichten Studie heißt, mit einem »Milliardenmarkt für Zuchtorgane«.
Die Kranken, behauptet Biotechniker Nerem, hätten »allen Grund zur Begeisterung«. Wenn Körperteile serienmäßig vom Band liefen wie Mikrochips und wenn es menschliche Innereien von der Stange gäbe, müßten all jene, die heute oft monatelang auf ein Spenderherz, eine Niere oder eine Leber warten, nicht mehr auf den Tod eines anderen hoffen. Aus keimfreier Verpackung bekämen sie eingesetzt, was sie brauchen.
Leichen vermögen den Bedarf an menschlichen Ersatzteilen nicht mehr zu decken. In den USA harren allein 30 000 Menschen auf eine neue Leber, aber nur 3500 Lebern werden pro Jahr aus Verunglückten und Komapatienten herausgeschnitten und Kranken eingepflanzt. Die übrigen auf der Warteliste sterben.
Das ist noch immer so wie vor zehn Jahren. Jay Vacanti war damals der erste, der es wagte, todgeweihten Kindern Lebern einzupflanzen - und meistens doch hilflos dastand. Weil er keine Austauschlebern hatte, mußte er zusehen, wie seine kleinen Patienten gelb wurden, wie ihre Bäuche aufschwemmten und sie elend starben. Schon deshalb sind Vacantis Visionen für die Medizin voller Verheißung. Aber schaurig sind sie auch. Denn am liebsten würde Jay Vacanti nicht nur lebenswichtige Organe, sondern alles ersetzen, was am Menschen ersetzbar sein könnte.
Das Bild, das er gern vorführt, zeigt einen Arm, der, von einer Pumpe mit Nährlösung gespeist, aus einer Röhre herauswächst. Jay Vacanti hat diese Grafik vor zwei Jahren anfertigen lassen, um sie im »Scientific American« zu veröffentlichen. Die Redaktion lehnte zunächst ab, schließlich gebe man eine renommierte Wissenschaftszeitschrift heraus, kein Science-fiction-Heft. »Kommt nach Boston und seht«, hat Jay Vacanti erwidert. Zwar mache das Nervengewebe ihm noch Schwierigkeiten, doch alle übrigen zur Armherstellung nötigen Techniken beherrsche sein Labor im Prinzip bereits.
Jay Vacanti zeigte den Redakteuren seine Brutkästen, in denen - von Nährlösung umspült - Fleischfetzen heranreiften. Er führte sie in Operationssäle, durch welche Lämmer taumelten, noch halb narkotisiert, nachdem ihnen Adern und Herzklappen aus dem Bioreaktor eingesetzt worden waren. Er berichtete von den Farmen in Massachusetts, wo aus Lämmern, die synthetische Adern im Leib trugen, Schafe geworden sind. Schließlich ließ er die Redakteure die Hybridwesen in den Käfigen seines Bruders bestaunen: Ratten mit Kuhsehnen in ihrem Körper und Mäuse, aus denen Menschenohren wachsen.
Als das Bild mit dem Armgewächs vorletztes Jahr dann doch gedruckt wurde, hatten die Brüder Werbung eigentlich kaum mehr nötig. Damals schon scharten sich Mediziner, Chemiker und Ingenieure aus aller Welt um sie: »Gastarbeiter sind wir hier alle«, sagt Ulrich Stock; auf Kosten der Deutschen Forschungsgemeinschaft geht er in Boston in die Lehre, um später in Hannover selbst Herzklappen zu züchten - hoffnungsvoller Pionier und Gratis-Arbeitskraft für die Brüder.
Die jungen Männer, auch zwei Frauen, die bei der Vacanti-Laborkonferenz zusammensitzen, berichten von Wachstumsfaktoren, Methoden der Nervenanzucht und künstlichen Muskeln. Jay Vacanti nickt und lobt väterlich-sanft die kleinsten Fortschritte. Unter dem Tisch aber zappeln seine Füße vor Ungeduld, er will echte Erfolge.
Auf dem Weg dahin sind ihm die plattesten Parolen gerade recht: »Wann, wenn nicht jetzt - wer, wenn nicht wir?« steht auf Zetteln, die er in den Labors aufhängen ließ, über den gekachelten Tischen, an denen sich seine Leute mühen, aus isolierten Zellen funktionierendes Gewebe heranzuzüchten. Sie wollen dem erwachsenen Menschen jene Kraft des Körperwachstums verleihen, über die sonst nur Embryonen und manche Tiere verfügen.
Die Eidechse ist das Idol in den Fluren der Vacantis - dieses Reptil muß sich nicht einmal wehren, wenn ein Feind seinen Schwanz packt. Die Eidechse kann ihn einfach abwerfen, kein ernster Verlust, weil aus dem Stummel bald ein neuer Schwanz sprießt.
Doch auf den verflochtenen Pfaden der Evolution ist die Fähigkeit, ganze Körperteile nachwachsen zu lassen, verlorengegangen. Der Mensch kann, wie alle Säugetiere, allenfalls seine Wunden flicken, und auch das nur in Schnellreparatur, oft bleiben Narben zurück. Einmal zerstörtes Gewebe errichtet keine neue Architektur.
So gerieten auch die ersten Organzuchtversuche der Brüder bitter enttäuschend. Auch wenn sich die Zellen problemlos vermehrten - über die Ränder der Petrischalen wucherte nur eine bräunlichschleimige Masse ohne Maß und Form.
Mit einem eingefügten Gerüst aber lassen sich die Zellen dazu überlisten, Gestalt anzunehmen - das war Jay Vacantis Zentralidee. Zwischen den Poren einer schwammartigen Gaze aus einem Milchsäurepolymer, ersonnen und gesponnen von einem mit den Brüdern befreundeten Chemiker, rankt sich Gewebe empor wie Spalierobst. Später löst sich das Stützkorsett auf; die zu Fleisch, Adern oder Knorpel verwachsenen Zellen aber bleiben.
Stets bauen die Brüder ihre Kunstorgane nach diesem Prinzip; nur an der Formung der Gaze und am Typ der daraufgeträufelten Zellen, gewonnen aus chemisch zersetzten Tierorganen, ist abzulesen, ob Chuck Ohren züchten läßt oder Jay seine Lebern.
Ein purpurner Cocktail - die Nährlösung aus Eiweiß, Traubenzucker und Spurenmineralien, versetzt mit Penicillin zur Desinfektion - spült über die Gazegeflechte im Bioreaktor. In den Glaskolben des kühlschrankgroßen Geräts, inmitten eines Gewirrs aus Pumpen und Schläuchen, unter Kohlendioxidbegasung und bei exakt 36,8 Grad Celsius, vollzieht sich die Fleischwerdung, das sonst im Gebärmutterdunkel verborgene Wunder: Ein paar tausend Zellen vermehren sich zu 200 Millionen und wachsen wohlgeordnet zusammen.
»Organzellen sind soziale Wesen«, erklärt Jay Vacanti. Durch chemische Gespräche, die noch kein Forscher versteht, tauschen sich die Zellen untereinander aus, ziehen sie die richtigen Nachbarn heran und formen Gestalten: Leberzelle an Leberzelle, Aderngeflecht dazwischen, Hüllgewebe außenherum.
Vier Wochen lang reift im Bioreaktor das Körpergewebe heran, das Jay Vacantis Leute nun schon in Serie fertigen. Im elften Stock des Laborturms bauen sie es in Versuchstiere ein. Draußen schweben Fensterputzer wie Spinnenmänner vorbei, drinnen sitzen die Jungforscher auf Barhockern nebeneinander, haben betäubte Ratten mit Klebeband auf die Tische vor sich geheftet und nähen: Mehr als 50 Nagetiere pro Woche bekommen synthetische Organe. Fast alle sterben kurz nach der Operation.
Zwar funktioniert die Körperteilzucht schon leidlich bei dünnen Geweben wie Haut oder Speiseröhrenwänden - für seine Kunstadern hofft Jay Vacanti sogar auf baldige Genehmigung von Menschenversuchen.
Aber noch ist es niemandem gelungen, große durchblutete Organe komplett zu erbrüten. Leberzellen zum Beispiel wachsen im Bioreaktor schlecht an, und es mangelt an der Blutversorgung. Zehn Gramm wiegt eine normale Rattenleber, zwei Gramm bringt Vacanti zustande: gerade genug, um ein Nagetier mit Retortenleber etwas langsamer sterben zu lassen als eines, das gar keine hat.
Jay Vacanti bleibt unbeirrt. So einer verbeißt sich: als Arztsohn, Kind sizilianischer Einwanderer, ältestes von acht Geschwistern, heute Vorbild für vier von ihnen, die wie er Ärzte geworden sind. Allein sein Ziel, Menschen zu retten, treibe ihn an, behauptet Vacanti - weswegen er neben seiner Züchterei noch immer 300 Kinder pro Jahr ganz normal operiere.
Als Chirurg ist er ein Fürst in der Krankenhaushierarchie, wogegen der jüngere Bruder Chuck nur Narkosearzt wurde, somit ein Vasall der Chirurgen. Auch im gemeinsamen Labor hat sich Chuck zunächst untergeordnet - aber dann die Rollen verkehrt: Aus dieser Strategie der Zweitgeborenen bezog er seine Triumphe. Heute stellt sich Chuck dar, während Jay lieber schweigt.
Chuck hat die von seinem Bruder erdachten Techniken auf die plastische Chirurgie übertragen und der Organzüchtung eine bildhauerische Seite abgerungen. Und er lehrte die Welt das Gruseln: Er war es, der vor zwei Jahren der Weltpresse das Foto übergab, das schlagartig berühmt wurde. Vergebens hatte Jay seinen Bruder davon abzubringen versucht, die Maus zu zeigen, auf deren Rücken ein von Chuck geschaffenes, lebendes Menschenohr wie ein Trichter wächst. »Mein Bruder hat etwas Diabolisches«, seufzt Jay Vacanti.
Seit dieser Provokation umgibt sich Chuck in seinen Labors mit immer skurrileren Wesen: Kaninchen, die auf den Löffeln menschliche Ohrmuscheln tragen. Schweinen hat er Retortenohren zwischen die Läufe montiert, in jede Achselhöhle eines. Nur dort, sagt er, seien die Artefakte sicher, wenn sich die Tiere im Dreck suhlen.
Unumgänglich sollen diese Versuche deswegen sein, weil das Schwein, immunologisch betrachtet, dem Menschen ein naher Verwandter ist. Und schon bald will Chuck Vacanti Ohren auch an Menschenköpfe annähen.
Ohne Ohren geborene Kinder ließen sich auf diese Weise schon im Säuglingsalter von ihrem Geburtsfehler befreien: Da sich die Retortenohren, einmal mit dem Kopf verbunden, von normalem Körpergewebe nicht unterscheiden, wachsen sie mit.
Chuck Vacanti glaubt auch, mit seinen Züchtungen der Schönheitschirurgie neue Tore aufstoßen zu können. Nasen und Ohren würden dann, ganz nach Wunsch, am Computer entworfen, in Formen umgesetzt, im Bioreaktor erbrütet - Gesichter würden formbar wie aus Plastilin.
Die Kollegen auf dem Gebiet der Gewebekonstruktion, wie die Brüder das von ihnen gegründete Fach genannt haben, beobachten die beiden Pioniere mit Bewunderung und Befremden zugleich.
Gewiß brauche ein neuer Zweig der Heilkunst »Werbung und Visionen«, sagt der Zürcher Bioingenieur Erich Wintermantel. Aber »frühestens in zehn Jahren« sieht er komplette Retortenorgane, die auf Menschen übertragbar wären.
Noch sei nicht einmal klar, ob Chuck Vacantis Kunstgebilde aus weichem Knorpel nicht nach einiger Zeit einfach zusammenbrächen. Auch könnten sich die Retortenstücke unkontrolliert zu monströser Größe oder gar zu Tumoren auswachsen; daß bisher niemand dergleichen beobachtet hat, sei jedenfalls noch kein Gegenbeweis.
Doch auch daran läßt der Schweizer Wissenschaftler keinen Zweifel: Material für Teilreparaturen werden die Organzüchter schon sehr bald liefern - Gewebefetzen aus Leberzellen als Flicken für alkoholgeschädigte Organe; auf Plastiknetzen gezüchtete kleinere Knorpelstücke, um damit kaputte Gelenke zu reparieren. Von der Art sind auch die Versuche, die Chuck Vacanti mit seinen Knorpeln derzeit an Patientenknien anstellen läßt.
Für die Brüder sind das nur Nahziele, und wer jetzt noch an den tapsigen Erstschritten einer neuen Medizin herumnörgle, der beweise damit vor allem eines: seinen Mangel an visionärer Kraft.
Eines nicht so fernen Tages, davon sind die Brüder überzeugt, werden Bioreaktoren die Bauteile zu Knochengerüsten erbrüten und sogar zu Gehirnen. Geningenieure werden es fertigbringen, die biologischen Merkmale des Individuums aus den Zellen zu kegeln. Ein einziger Typ Leber, Niere oder Herz würde dann für alle Menschen passen, ließe sich auf Wunsch bestellen und beim kleinsten Defekt einbauen.
Chirurgen würden dann nicht mehr flicken, sondern »wie Konzertmeister« das Zusammenspiel von Retortenorganen und Restkörper herstellen.
Nur an einem Punkt macht sogar Jay Vacanti halt. Ewiges Leben, gibt er zu - nein, das wird es nicht geben.
Den Verfall des Menschen würde die perfekte Ersatzteilversorgung allenfalls bremsen, meint er. Noch jedes alte Auto, sagt Jay Vacanti, sei ihm irgendwann verreckt.
[Grafiktext]
Herstellung von Labororganen
Züchtung eines Armes (Projekt)
[GrafiktextEnde]
* Knorpelzellen (rot) bevölkern ein Kunststoff-Stützgeflecht;elektronenmikroskopische Aufnahme.