MEDIZIN Hilfe aus der Hüfte
Von Geburt an lebte der texanische Junge, den die Öffentlichkeit nur unter dem Namen David kannte, in gläsernen Isolierkammern und luftdichten Plastikzelten - zwölf Jahre lang. Einmal hatte er seine sterile Hülle verlassen dürfen: in einem sterilen Raumanzug, den Nasa-Techniker extra für ihn gefertigt hatten. Ein angeborener Defekt seiner Knochenmarkszellen machte David praktisch schutzlos gegen jede Infektion, der banalste Schnupfen hätte ihn töten können. Sein Risiko, an Krebs zu erkranken, war 10 000 mal so hoch wie das anderer Kinder.
Im Oktober letzten Jahres sahen dann die Ärzte eine Chance, David eine eigene Immunabwehr zu verleihen - durch Übertragung von Knochenmarkszellen seiner Schwester. Anfang Februar konnte David seine sterile Plastikwelt verlassen. »Zum ersten Mal«, so schilderte damals die »New York Times«-Reporterin Wayne King die Szene, »wurde der Junge, der noch nie eine andere menschliche Hand berührt hatte, die nicht in einem Handschuh steckte, von seiner Mutter geküßt.«
Dennoch war die Knochenmarkstransplantation für David zu spät gekommen. Er starb 15 Tage nach Verlassen seiner Plastikwelt. Seine inneren Organe waren übersät mit Hunderten kleiner Krebsgeschwülste. William T. Shearer, Professor für Kinderheilkunde am Baylor College of Medicine in Houston, Texas, und Davids betreuender Arzt, nannte den Tod des Jungen »so außergewöhnlich wie sein Leben« - noch nie zuvor hatte ein Mensch ohne eigene Immunfunktion so lange überlebt.
Triumph und Tragik im Fall des jungen Texaners sind kennzeichnend für den Stand einer Transplantationstechnik, die zwar noch immer mit größerem Risiko behaftet ist als etwa Herz- oder Nierenverpflanzungen, die aber, wie es in einem Forschungsbericht der Münchner Universität jüngst hieß, »zu den zukunftsträchtigsten Gebieten der Medizin gehört«.
»Noch vor einem Jahrzehnt«, so erinnert sich einer der Pioniere der Knochenmarksüberpflanzung, der amerikanische Medizin-Professor E. Donnall Thomas, sei der Eingriff nur Patienten zugemutet worden, die »an der Schwelle des Todes standen« und bei denen »alle herkömmlichen Heilmethoden erschöpft waren«. Das habe sich mittlerweile »total geändert«.
Allein in den USA wurden 1983 mehr als 2000 Knochenmarkstransplantationen vorgenommen, die meisten davon an speziell dafür eingerichteten Zentren. Als eine der ersten in der Bundesrepublik wagte 1975 die Hämatologin Christine Bender-Götze von der Kinderpoliklinik der Universität München den Eingriff. Von den seither mehr als 60 in München behandelten Patienten leben noch knapp die Hälfte, darunter einige schon über fünf Jahre. Ähnlich sind die Erfolgsquoten auch an anderen Zentren wie etwa in Ulm.
Bei Patienten mit akuter Leukämie, resümierte Anfang des Monats der Ulmer Professor Bernhard Kubanek, habe sich die Knochenmarkstransplantation »mit zunehmendem Erfolg als kurative Therapie etabliert« und immer häufiger sei ihre Anwendung auch bei anderen bösartigen Knochenmarkserkrankungen, bei angeborenen Defekten der Blutbildung und des körpereigenen Abwehrsystems gerechtfertigt.
Gebildet wird die lebensrettende und lebenswichtige Marksubstanz schon sehr früh in der menschlichen Entwicklung. Bereits beim drei Monate alten Embryo wandern blutbildende Zellen aus Leber und Milz zu den großen Knochen, in deren Innern für sie von einer anderen Zellart, sogenannten Osteoblasten, Hohlräume geschaffen werden. Wenige _(Vor der Knochenmarkstransplantation in ) _(Houston im Oktober 1983. )
Monate vor der Geburt eines Menschen ist dieses Knochenmarksgewebe schon Fabrikationsstätte von Blutzellen und den Zellen der Immunabwehr. »Die entscheidende Rolle, die das Knochenmark spielt«, schrieb der amerikanische Wissenschaftsautor Harold M. Schmeck, »dürfte auch erklären, warum es im bestgeschützten Platz des Körpers innerhalb der großen Knochen verborgen ist.«
Dennoch gilt die Übertragung von Knochenmark von Spender zu Empfänger nach der Bluttransfusion als die wohl einfachste Übertragung von Fremdgewebe. Thomas, Spezialist vom Krebsforschungszentrum in Seattle, foppt seine chirurgischen Kollegen gern mit der Bemerkung, daß dies »ein Transplantationszweig sei, bei dem man ohne die Komplikation eines mitwirkenden Chirurgen auskommen« könne.
Das Knochenmark wird dem Spender unter Narkose aus den schwammartig ausgebildeten Hohlräumen der großen Knochen wie Brustbein, Becken- oder Hüftknochen gesaugt. Das so gewonnene Substrat wird gefiltert und dem Empfänger einfach in die Blutbahn eingespritzt. Einem Spender werden maximal zehn Prozent seines Knochenmarks entzogen, ein Verlust, der vom gesunden Organismus innerhalb weniger Wochen ausgeglichen wird. Nur selten kommt es beim Spender zu Komplikationen, ein »ziehender Schmerz«, vergleichbar einem Muskelkater, ist meist alles, worüber die Betroffenen klagen.
Für den Empfänger hingegen ist es stets eine »Frage von Leben oder Tod« (Schmeck). Der Patient läuft nicht nur Gefahr, daß - ähnlich wie bei Nieren- oder Herztransplantationen - das überpflanzte Knochenmark in seinem Organismus nicht anwächst und von den Abwehrkräften seines Körpers abgestoßen wird; das überpflanzte Knochenmark kann sich auch seinerseits mit den von ihm erzeugten Abwehrstoffen gegen den Organismus des Empfängers wenden. Die Mediziner sprechen dann von einer »Spender-gegen-den-Wirt«-Reaktion, die sich in schweren Leberschäden und Lungenentzündungen äußern und tödlich enden kann.
Um das Risiko solcher Abstoßung möglichst gering zu halten, verwendeten die Mediziner vor allem in den ersten Jahren ausschließlich Knochenmarksgewebe, das von Spendern stammte, deren Gewebemerkmale mit denen des Empfängers weitestgehend übereinstimmten: von Eltern oder Geschwistern. Doch auch in diesen Fällen muß der Empfänger vor der Transplantation eine heroisch anmutende Behandlung über sich ergehen lassen. Sein eigenes Knochenmark wird mit Hilfe hoher Dosen von Zellgiften, gekoppelt mit intensiver Bestrahlung, praktisch total zerstört. Nur so besteht Aussicht, daß das Fremdmark in dem Empfängerknochen anwächst.
In den letzten Jahren sind die Wissenschaftler dazu übergegangen, auch Knochenmark von nicht mit dem Empfänger verwandten Personen zu übertragen. Dabei kamen ihnen zwei Entwicklungen zu Hilfe: *___Sie entdeckten, daß die Abstoßungsreaktion des ____Fremdknochenmarks gegen den Wirt vor allem von ____sogenannten T-Lymphozyten, einem Bestandteil des ____implantierten Knochenmarks, getragen wird, und ____entwickelten Verfahren, das Spendermark nach der ____Entnahme von den T-Lymphos zu säubern. *___In Zusammenarbeit mit Blutbanken wurden Computerlisten ____von Menschen aufgestellt, die sich bereit erklärten, ____Knochenmark zu spenden, und deren Gewebemerkmale mit ____denen möglicher Empfänger auf Abruf verglichen werden ____können.
Die Wahrscheinlichkeit freilich, auf diese Weise passende Spender zu finden, ist denkbar gering. Schon unter Geschwistern beträgt die Chance einer Gewebeverträglichkeit, die für Knochenmarkstransplantationen hinreicht, nur 25 Prozent. Die Chance, unter Fremden einen Spender zu finden, dessen Gewebemerkmale zufällig identisch sind, liegen bei eins zu einer Million.
25 000 Dollar boten im Frühjahr dieses Jahres die Freunde eines leukämiekranken New Yorker Psychiaters auf der Suche nach einem gewebsgleichen Spender - vergeblich.
Mehr Glück hatte der an Leukämie leidende 16jährige Stefan Morsch aus Hoppstädten-Weiersbach bei Birkenfeld an der Nahe. Anfang August wurden Stefan im amerikanischen Transplantationszentrum Seattle 100 Milliliter Knochenmark des 35jährigen britischen Rechtsanwalts Terence Bailley eingespritzt - Bailley war mit Computerhilfe als Idealspender ermittelt worden.
Auf lange Sicht hoffen die Wissenschaftler, das Spenderproblem besser lösen zu können. Den Forschern einiger amerikanischer Krebszentren ist es gelungen, Vorstufen der sogenannten Knochenmarksstammzellen in Kulturen zu vermehren: Zellen, aus denen vermutlich alle Blut- und Abwehrzellen des Körpers letztlich hervorgehen.
Auf solchen Kulturen, glaubt Donnall Thomas, könnten dem jeweiligen Empfänger ideal angepaßte Stammzellen gezüchtet werden, die das Zellkonzentrat aus Spendermark ablösen. Dann, so Thomas, werde für die Behandlung dieser Leiden eine »neue, vielversprechende Zeit« anbrechen.
Vor der Knochenmarkstransplantation in Houston im Oktober 1983.